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Die Nabelschnur
Es hatte viele Opfer gegeben, die Jens für seine Mutter bringen musste, wobei das Abbrechen der Schule für ihn nicht einmal das Schlimmste war. Er hatte die besten Aussichten auf einen Abschluss als Jahrgangsbester gehabt, hätte studieren können, wäre diese elendige, kleine Stadt los gewesen. Er hatte Aussichten auf eine Zukunft gehabt. Doch es mussten Opfer gebracht werden, und jene Zukunft war nur der erste Punkt auf einer langen Liste gewesen.
An zweiter Stelle stand das Rauchen. Es war ohnehin ungesund, dachte Jens manchmal, als er in der Arbeitspause eine geborgte Kippe in seinen Mund steckte. Aber es war Mutter gewesen, die ihn zum Aufhören zwang, die nächtelang Rotz und Wasser geheult hatte, ihm stundenlange Predigten hielt und wieder unendliche Schmerzen in ihrem verfluchten Rücken simulierte, um dann wieder darüber zu heulen. Und wenn es erstmal mit dem Rücken anfing, kannte die Frau manchmal wochenlang kein Halten mehr. Das Rauchen aufzugeben war gut. Aber es war demütigend, es wegen seiner Mutter zu machen.
Die Liste ließ sichnoch beliebig weit fortsetzen: lange, sonnige Ferientage, die Jens gezwungen war, wie ein Ochse zu arbeiten, die Nachmittage mit Freunden, die er opferte, um die Einkäufe für seine - nach ihrem Rumgeschreie zu urteilen sterbende - Mutter zu erledigen, die Verabredungen mit einigen richtig heißen Mädchen, die er platzen lassen musste, weil das Ding, das ihn geboren hatte, die Schlüssel versteckte und ihn einfach nicht gehen ließ. Unter dem Strich erkannte Jens nach nun 19 Jahren des Zusammenlebens mit dieser Frau, dass er seine Jugend geopfert hatte. Es schien ihm, als hätte er die Freuden und Leiden der Adoleszenz für eine Flasche Öl eingetauscht, mit der er tüchtig die Ketten einschmierte, die ihn in diesem Leben gefangenhielten.
Die Arbeit im Supermarkt war nie ein Spaß gewesen. Selbst nach gut 3 Jahren konnte er immer noch nicht hoffen, für etwas Besseres als das Ausladen von Warenkisten im Lagerraum eingesetzt zu werden. Er hatte die wohl schlimmste Akne der Stadt, was daran lag, dass seine Mutter nicht kochte und er sich nur von Fertiggerichten ernährte, selbst kochen konnte er nicht, hatte auch keine Zeit dazu. Die viele Arbeit machte ihn noch hässlicher als er schon war, und keiner seiner Arbeitgeber hatte je einen Gedanken darauf verschwendet, ihn als Verkäufer einzusetzen, oder ihn überhaupt in den Supermarkt zu lassen.
Die Mutter. Sie war eine Plage von biblischen Ausmaßen, nicht nur, was ihren Hüftumfang anging. Mal tat ihr Rücken weh, ihre Beine waren schwer, mal fühlte sie sich allein - was wirklich nur ein Witz sein konnte, da Jens jede freie Minute mit ihr verbringen musste. Wenn er nicht da war, gab es ja noch ihre zahlreichen Freundinnen, die anscheinend ebenso der Hölle entflohen sein mussten wie die Frau Mutter selbst.
Vor allem das Vortäuschen jeder erdenklicher Krankheit - sogar Lungenkrebs, als sie die Zigaretten im Regal ihres damals 18jährigen, kleinen Jungen entdeckte -, das war etwas was Jens einfach umbrachte. Sie hatte nichts! Sie war kerngesund, ein Hypochonder, der seines Gleichen suchte. Doch es hatte auch sehr lange gebraucht, bis Jens das erkannte. Er wusste nichts von ihrem Medizinbuch, was sie im Nachttisch neben ihrem Bett hortete wie ein Drache. Sie ging ihre Wehwehchen fast alphabetisch durch, und was gut ankam, das kam immer wieder. Der Rücken wäre nur ein Beispiel.
Die Mutter arbeitete nicht. Sie war selbst zu faul, ihren fetten Hintern zum Sozialamt zu bringen. Der Sohn verdiente ja genug, und auf dieses Geld stürzte sie sich wie eine Fliege auf einen Haufen Mist. Während Jens arbeitete und ihren Lebensstil finanzierte, saß sie vor dem Fernseher und bestellte jeden Dreck, den sie im Homeshoppingkanal sah. Ihr Sohn, ihr eigen Fleisch und Blut würde sie niemals verlassen und das sie nutzte ihn aus. Jens wusste was sie war, sie war eine gierige, fiese, blutsaugende...
"Schlampe", murmelte Jens und nahm einen Schluck Leitungswasser, das er sich in ein leeres Senfglas eingeschüttet hatte. Für Mineralwasser (oh, wie sehr sich sein Hals nach dem Prickeln von kohlensäureversetzter, klarer Selters sehnte) war natürlich kein Geld, dafür stand ein neues wunderbares Schneidegerät in der Küche, das die obligatorischen Karotten in große Würfel, kleine Würfel und in sogar noch kleinere Würfel schneiden konnte. Jens fühlte sich wirklich wie in einem schlechten Witz. Mutter kochte niemals, Jens konnte es nicht einmal. Sie brauchten den unförmigen Miniaturschredder genauso sehr wie ein Schimpanse einen Sportwagen.
Aus dem Wohnzimmer schrie der Fernseher mit der Stimme einer Actionserie, die aus guten Gründen schon seit Jahrzehnten eingestellt wurde. Jens hätte sich über den Lärm beschweren können. Aber was hätte das genützt. Die Antwort würde aus Wehklagen über irgendwelche neuen Krankheiten sein, vielleicht ein Jucken in der dritten Titte, die der Alten schon aus lauter Faulheit am Rücken wuchs. Der Gedanke ließ Jens' Magen zusammenzucken, und wieder spürte der 19jährige das Chlor seines Wassers, das er getrunken hatte. Lieber hätte er sich darin ertränkt.
"Jeeeeensieeeee!!", rief die Mutter. Ihre schneidende Stimme war so laut, dass es in den Ohren schmerzte. "Jeeeeensiee, bring Mama doch bitte ein Kissen!"
'Jensie' spielte mit dem Gedanken, das Kissen zu holen und das Biest auf dem Sofa damit zu ersticken. Das einzige Argument, dass ihn wirklich davon abhielt, war der Gestank, den die armen Nachbarn hätten ertragen müssen. Und vielleicht ein würdiges Begräbnis, in dem der Pfarrer über die guten Seiten der Verblichenen herumspinnen würde. Mann, er kannte sie nicht. Nur Jens kannte sie. Und natürlich kannten sie die Frauen in den Homeshopping-Leitungen, die das Monstrum fast schon duzten.
Als Jens das Zimmer betrat und die Augen seiner Mutter sah, hätte er sich am Liebsten an der länsgt durchtrennten Nabelschnur aufgehängt, die das perfekte Symbol für ihre Verbundenheit war. Dieser fordernde, gierige Blick drückte nur eines aus: ich will das, und du bringst mir das, und das weißt du.
"Mein Kissen?"
Jens hätte ihr fast ins Gesicht getreten. Doch er riss sich zusammen, sein eigenes Gesicht verkrampfte sich.
"Hol's... selbst", presste er zwischen den Zähnen heraus, während sein Kopf rot wurde und wie eine Warnleuchte pulsierte. Bevor er hören konnte, wie sie wieder, immer wieder, wie eine kaputte Platte, ihre Schmerzen aufzählte und herumflennte, stürmte er hinaus.
Er trat jede Tür, die ihm in den Weg kam, mit seinen dreckigen, zerrissenen Turnschuhen auf und schrie jedes Mal einen Fluch, wenn er die Schmerzen in den Füßen spürte. Er schrie so laut er konnte, um die ohnmächtige Verachtung in seinem Inneren zu unterdrücken, um nichts mehr zu spüren.
Das Nichts war besser als der Schmerz, den diese Frau ihm jeden Tag aufs Neue zufügte.
Das Schicksal wollte es so, dass Jens, als er aus dem Block auf die Straße lief und die Scherben der Eingangstür zurückließ, einen Zehner in seiner Hosentasche fand. Es war nicht viel, aber es müsste reichen, um sich die lebende Perversion in seiner Wohnung wegzusaufen. Zumindest für diesen Abend.
Irgendwann erwachte Jens an einer Laterne. Es war dunkel, es regnete. Er spürte das nasse Gras unter seinen tauben Gesäßbacken. Er hatte ein leichtes Drücken im Kopf, und alles, was er in den letzten Stunden getan hatte, war weggewischt wie Kreide an einer Tafel, und nur einige nasse, schwimmende Reste waren übrig. Doch etwas wusste er noch.
Egal, wie sehr seine Wahrnehmung sich schwärzte, wie klein die Ecke in seinem Verstand wurde, die noch denken konnte, egal, ob seine Beine ihn noch trugen oder seine Augen noch sahen - eines blieb immer, wie ein Grundton, der treibende Gedanke, wie eine Obsession, die sich Jens am Liebsten aus dem Kopf geschnitten hätte.
La mére.
Nun lag Jens im Gras, sah die Regentropfen am Schirm der sepiafarbenen Laterne vorbeifallen und in sein Gesicht schlagen. Das Wasser war kühl. Alle Muskeln waren schwer wie Blei. Die Hitze, die sein Körper noch hatte, schoss durch seine Venen.
Und es war nicht mehr schlimm.
Die Mutter war nicht mehr schlimm. Die Arbeit nicht. Nicht die Stadt, die fehlenden Freunde, die geopferte Jugend, die Akne. Im Anblick dieses Regens erschien alles plötzlich so klar, es war die Erleuchtung, die in Form einer Leuchtstofflampe über ihm hing.
Als Jens sich zum letzten Mal in seinem Leben mit der Mutter in einem Raum befand, war es, als tief in der Nacht ins Wohnzimmer kam, um das Geld zu holen. Er nahm alles. Die Mutter sprang auf, stöhnte, heulte, doch das hörte Jens nicht mehr. Er lächelte müde, als er sie auf das Sofa zurückstieß.
"Diesmal nicht", sagte er mit gelassener Stimme, "die Dinge haben sich geändert. Es ist Zeit, die Nabelschnur endlich durchzuschneiden."
Er stand schon in der Tür, da rief sie ihm nach.
"Wohin gehst du denn?"
Er stand einfach nur da und dachte nach. Dann sah er sie an, und auf seinen Lippen lag das Lächeln eines wissenden, glücklichen Menschen.
"Ich weiß es nicht."
Dann verschwand er.