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Die Ohnmacht des Allmächtigen
Um ihn herum gab es nichts, nicht einmal Leere. Es gab keinen Raum und keine Zeit, weder in vier Dimensionen, noch in drei, zwei oder einer – ja selbst in null Dimensionen nicht. Doch so eine Welt war auf die Dauer sehr einengend. Für ein allmächtiges Wesen wie ihn war sie nicht angemessen, fand Gott.
„Wir wollen es uns behaglicher machen“, sagte er.
Er schuf einen strahlenden Palast mit spitzen Türmchen, deren Dächer in der Sonne glänzten, mit tausend prunkvollen Gemächern, mit marmornen Fußböden und leise plätschernden Springbrunnen im Park, mit kostbaren Wandbehängen und lauschigen Alkoven. Er hatte jetzt viel Platz und lustwandelte äonenlang in endlosen Gängen, deren Wände erlesene Fresken und Gemälde zierten, sah durch die Fenster auf den Park hinaus oder saß sinnend auf seinem Thron. Alles war so, wie er es gewollt hatte. Woher kam dann dieses unbestimmte Gefühl der Traurigkeit? Vielleicht, weil es so still war.
„Musik!“, befahl er.
Sofort wob im Thronsaal das Jauchzen und Harfenspiel der Cherubim einen weichen Klangteppich um ihn und füllte wie ein feiner goldener Nebel den Palast. Die Cherubim lobten und priesen Gott unermüdlich, und das gefiel ihm. Irgendwann jedoch musste er sich eingestehen, dass sie nur sangen, was er hören wollte. Die Cherubim hatten zwar seine Traurigkeit für kurze Zeit betäuben können, doch kehrte sie nun mit doppelter Heftigkeit zurück und nagte wie ein hässlicher Parasit an seinem Herzen.
„Wir wollen uns amüsieren“, sagte Gott und erschuf in seinem Palast ein Spiegelkabinett, um sich in den zahllosen Spiegeln zu bewundern. Er kicherte in sich hinein, wenn er auf den gewölbten Flächen zu einem Strich zusammenschrumpfte oder wenn sein Bauch zu einer riesigen Kugel anschwoll. Er drehte sich vor den Spiegeln um seine eigene Achse, zupfte an den Falten seines Gewandes und fand, dass er trotz der Verzerrungen eine Respekt einflößende, prachtvolle Erscheinung war. Doch dann kam es ihm in den Sinn, dass niemand außer ihm selbst dies fand. Zum ersten Mal durchzuckte ihn ein entsetzlicher Gedanke:
Er war allein.
Gott war es deshalb schon bald leid, sich selbst zu betrachten.
„Wir wollen mit anderen spielen“, sprach er.
Er versetzte sich in den Zustand eines kleinen Kindes, für das alles neu und staunenswert ist, und das sich sogar an dem schwankenden Schatten eines Zweiges erfreut. Er schuf andere Kinder und jagte bald inmitten einer lärmenden Schar durch die Gänge und Säulenhallen. Er spielte mit ihnen Murmeln im Hof des Palastes. Er versuchte gemeinsam mit ihnen im Park Schmetterlinge zu fangen. Zusammen kugelten sie sich in nach Sommer duftendem Gras herum. Aber niemand konnte ihn beim Murmelspiel besiegen, wenn er es nicht wollte. Niemand jagte von sich aus mit ihm nach den bunten Schmetterlingen. Niemand lag neben ihm im Gras, einfach nur, weil er Gott gerne hatte. Nach einer halben Ewigkeit begann Gott sich zu fragen, warum das so war, und dieser Frage konnte er nicht ausweichen. Er erwachte aus seinem Kindheitstraum und war wieder der einsame Gott, der feststellen musste, dass alles um ihn herum nur ein Vexierspiel seiner Einbildung war, das er ganz nach seinem Belieben verändern konnte. Er musste nur wollen.
„Niemand kann einsamer sein als wir, denn es gibt nur uns“, seufzte er.
Er musste weinen.
Wieder verstrichen Äonen und Gott dämmerte einfach nur vor sich hin. Er hatte es fast aufgegeben, irgendetwas zu wünschen oder zu hoffen, als eine Stimme etwas sagte.
„Hallo“, sagte sie.
Gott hatte nämlich begonnen Stimmen zu hören, vielleicht, weil er so einsam war. Erst waren es nur wenige, dann wurden sie immer zahlreicher und ließen sich nicht länger ignorieren. Gott lauschte den Stimmen, unterhielt sich mit ihnen, gab ihnen Namen wie Gabriel oder Michael, und oft geschah es ihm, dass er im Verlauf des Gesprächs nicht mehr wusste, wer er eigentlich war.
„Luzifer, du schon wieder“, sagte Gott.
„Höre ich da einen Anflug von Überdruss?“
„Um ehrlich zu sein, du täuschst dich nicht.“ Bemüht freundlich fragte Gott dann: „Was willst du?“
„Ich will nur, dass du glücklich bist.“
„Das ist unmöglich.“ Wie besorgt er um mich ist, dachte Gott, ausgerechnet Luzifer, um gleich darauf als Luzifer zu sagen:
„Für dich ist nichts unmöglich, du musst nur wollen.“
Dieser Luzifer war wirklich eine unangenehme Person, fand Gott, jetzt verhöhnte er ihn auch noch, und dann diese nasale Nörgelstimme, furchtbar, einfach furchtbar.
„Gerade das ist ja das Problem, und das weißt du“, sagte er müde.
„Dann schaffe doch eine Welt, auf die sich deine Allmacht nicht erstreckt“, meinte Luzifer mit einem kaum wahrnehmbaren spöttischen Unterton in der Stimme.
Gott versuchte das Gespräch mit Luzifer zu verdrängen, wie er es mit allem zu tun pflegte, was Luzifer sagte. Es gelang ihm nicht. Der Vorschlag Luzifers hatte etwas Bestechendes, das konnte er nicht leugnen. Eine Welt erschaffen, die außerhalb seiner Macht stand – das war eine zu verlockende Möglichkeit. Die Geschöpfe dieser Welt stünden gleichberechtigt neben ihm. Das musste doch überaus amüsant und spannend sein. Er wäre Zeuge von Geschehnissen, die er nicht beeinflussen konnte. Schon der Gedanke daran ließ ihn wohlig erschauern.
Gedacht, getan. Gott machte sich ans Werk, ging bis an die Grenzen seiner Macht und schuf in einer gewaltigen Explosion seiner Schöpferkraft das Licht und die Dunkelheit. Sein tatkräftiger Geist schwebte über den Wassern, schuf die Erde, stellte fest, dass sie wüst und leer war und behob diesen Mangel.
Entspannt lehnte er sich danach auf seinem Thron zurück und sprach zu sich selbst: „Nun wollen wir einmal sehen.“
Und er sah, wie aus seinen Saaten überall Leben hervorspross, sich Einzeller bildeten, Pflanzen und Tiere entstanden und später auch Geschöpfe, die sich fragten, woher sie eigentlich kamen und wie alles seinen Anfang genommen hatte.
Das freute Gott. Er verfolgte gebannt das Geschehen und vergaß darüber sogar, von seinem Manna zu naschen.
„Ob sie es herausfinden?“, sprach er zu sich selbst.
Zu seinem Entzücken fanden sie es heraus, waren ihm dankbar und beteten ihn an, ganz ohne sein Zutun. Gott war gerührt und Tränen traten in seine Augen. Fühlte sich so das Glück an?
„Sie glauben an uns. Unsere Geschöpfe glauben an uns“, sprach er mit bebender Stimme.
Und er sah, wie auf der Erde viele Religionen entstanden und sein Name auf unterschiedliche Weise angebetet wurde. Einige Glaubensrichtungen personifizierten ihn, umgaben ihn mit Nebengöttern, machten ihn zur Dreifaltigkeit oder – und das fand er am originellsten – sogar zum göttlichen Nichts, doch keiner Religion gab er den Vorzug.
„Was zählt, ist der Glaube“, sprach er großzügig.
Und er sah, wie im Namen des Glaubens Kriege geführt und Ströme von Blut vergossen wurden. Zum ersten Mal verspürte er den Impuls einzugreifen, musste aber seine Ohnmacht feststellen. Unruhig rutschte Gott auf seinem Thron hin und her.
„Ob das gut geht?“, murmelte er betroffen.
Er sah, wie diese seltsamen Wesen sich immer weiter ausbreiteten, sich mehr und mehr von seiner Schöpfung unabhängig machten und sogar ihrerseits Wesen schufen, die Fragen stellen konnten. Sie beteten ihn nicht mehr an, sondern sammelten Daten und hatten ihre Formeln, mit denen sie alles erklären konnten. Selbst ihn begannen sie zu erklären. Sie stießen ins All vor, machten Vorhersagen für die Zukunft, erforschten die Vergangenheit, und ihre Welt der Diagramme und Tabellen blähte sich auf und wuchs und wuchs und wurde riesig.
Gleichzeitig wurde Gott selbst immer kleiner und unbedeutender. Sein Palast war in Auflösung begriffen, die Alkoven stürzten ein, die Springbrunnen versiegten und eine Flut von Zahlen und Fakten drang zu den Toren herein, überschwappte den prächtigen marmornen Fußboden und stieg unaufhaltsam die Stufen zum Thron empor. Der Gesang der Cherubim war schon längst verstummt und an seiner Stelle erklang hässliches Gelächter. Gott kannte dieses Gelächter, oh wie gut er es kannte.
„Luzifer“, murmelte er. „Das haben wir nicht gewollt.“
„Bist du jetzt glücklich?“, schrie Luzifer höhnisch, „bist du jetzt endlich glücklich?“