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Die Phasen des Todes

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08.01.2002
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Die Phasen des Todes

Haben Sie schon einmal mit angesehen, wie ein Mensch stirbt? Es gibt nichts Beeindruckenderes, kein Erlebnis ist faszinierender. Wenn der Tod seine Linien in das Gesicht des Sterbenden zeichnet, fühle ich mich klar und geerdet. Alles hat dann seinen Platz und es breitet sich tiefe Ruhe in mir aus. Ich gestehe, ich bin süchtig nach diesen wunderbaren Momenten.

Es war daher für mich keine Frage, dass ich Rettungsassistentin wurde. Und sicher können Sie verstehen, wie sehr ich auf Unfälle hoffte, die mir den Luxus verschafften, dem Tod zu begegnen. Dieses Prickeln, wenn ein Einsatz kam. Meine aufkeimende Unruhe, wenn stundenlang nichts passierte, das alles hätte ich noch jahrelang unter Kontrolle halten müssen. Aber meine Sucht steigerte sich. Bis sie sich nicht mehr bändigen ließ, so wild wie Feuer, in das der Wind hineinstößt. In mir brannte es hungrig, weil ich nie genug bekam.

So wurde ich zusätzlich ehrenamtliche Sterbebegleiterin in einem Hospiz, das mir, so fand ich schnell heraus, wohltuende neue Erlebnisse verschaffte.

Als Rettungsassistentin traf ich meist erst mitten im Todeskampf des Opfers ein. So entgingen mir wesentliche Momente des Sterbens. Im Hospiz konnte ich von Anfang an dabei sein.

Und ich entdeckte für mich, dass der Tod eines Menschen, den ich zuvor etwas kennengelernt hatte, noch fesselnder war.

Ich wäre für ein paar Jahre gut mit der zusätzlichen Dosis, mit der mich das Hospiz versorgte, ausgekommen.
Doch dann tauchte Lilo auf.
Und es sprach sich herum, dass ihr Feinfühliges beim Sterben hinüber helfen die Todgeweihten mehr erfüllte, als meine Anwesenheit. Ich rang mit ihr um jeden Einzelnen. Aber meine kläglichen Erfolge ergaben sich nur, wenn Lilo dienstfrei hatte und ich die einzige Sterbebegleiterin vor Ort war.

Ich bin mir sicher, dass Lilo nichts von all dem ahnte. Ich konnte ja nicht einfach sagen: "Lilo, ich benötige diese Patienten dringend, weil ich süchtig nach den Augenblicken des Todes bin."

Sie hätte mich für verrückt erklärt und das war ich nun wirklich nicht.

Mich irritierte eher ein Gedanke, der sich nicht beiseite wischen ließ: Lilo muss weg. Das bohrte in mir als verdrehten sich Muskelstränge in meinen Waden. Aber darüber legte sich sogleich ein lustvolles Gefühl, wenn ich daran dachte, wie ich sie beseitigen würde. Immer wieder tauchte ihr weiches Gesicht unter mir auf, nach Luft japsend, Wasser prustend und ich versank in kornblumenblauen schreckgeweiteten Augen. Während der gesamten Planungsphase befand ich mich im Zustand dieser Erregung.

Ich hatte schnell herausgefunden, dass wir trotz unserer charakterlichen Unterschiede eine kleine Gemeinsamkeit hatten. Wir beide paddelten gern. Lilo zu einem Kurzurlaub in die Mecklenburgische Seenplatte zu überreden und das im Spätherbst, wo kaum noch Bootsvermieter geöffnet hatten, war leichter als gedacht. Lilo hatte gerade ihren Freund verlassen und war auf ein paar Tage räumlichen Abstand zu allem erpicht. Ich hatte mich gut vorbereitet, uns einen verschwiegenen See, der mit einem größeren verbunden war, herausgesucht, sowie einen Bootsverleiher aufgespürt.

Dieser hatte Tage zuvor einer aufdringlich geschminkten Blondine mit herbem Berliner Dialekt ein Kanu verliehen gehabt. Man sah ihm an, dass er dachte, einen Fehler gemacht zu haben. Er war sichtlich erstaunt, als ich ihm das Boot wohlbehalten nach vier Stunden zurückbrachte. Und ich war beglückt, wie gut meine Tarnung funktioniert hatte.

Ich hatte die ideale Stelle, dort gefunden, wo ein mit dichtem Schilf bewachsener Teich die Seen verband. Die seitlichen Ufer waren mit verwildertem Wald gesäumt, dort trieb sich garantiert kein Mensch herum und außerhalb der Saison war es hier der stillste Fleck. In dieser schmalen Fahrrinne zwischen beiden Seen sollte es passieren.

Der mürrische Bootsverleiher hatte das einsame Kanu an den Rand des Sees gelegt und war nirgends zu sehen, als Lilo und ich ankamen. Den Preis für die Ausleihe hatte er bereits erhalten.

"Seltsam", sagte Lilo, "da sind zwar Paddel drin, aber ist es nicht üblich, auch Schwimmwesten mitzugeben?"

"Willst du damit sagen", scherzte ich, "dass du paddeln kannst, aber nicht schwimmen?"

Sie lachte. "Na gut, es wird auch ohne gehen."

Natürlich hatte ich den Bootsverleiher gebeten, die Westen wegzulassen, die hätten wir selbst dabei, hatte ich behauptet.

Lilo schaute mich prüfend an.

"Du siehst heute ungewöhnlich aus, irgendwie dicker. Hast du drei Lagen Kleidung übereinander gezogen."

"Hab ich," sagte ich, "du weißt doch, wie schnell mir arschkalt wird. Und auf den Seen ist immer eine kalte Brise."
Lilo hakte nicht weiter nach, obwohl ich ihr ansah, dass sie mir diese Antwort nicht abnahm.

Als ich mich mit ihr mitten auf dem See befand, ließ uns ein kühler Wind die ungemütliche Seite des Herbstes spüren. Wie ich es gewünscht hatte, saß Lilo vorne im Kanu und ich betrachtete ihren Rücken. Ihre dickwattierte Weste würde viel Wasser aufnehmen, wenn sie über Bord ging. Ich dagegen war fest in einen Trockentauchanzug gepackt, den man zum Eistauchen einsetzte. Über diesen Anzug hatte ich Pullover und Jeans gezogen und halbhohe Stiefel verdeckten die Füßlinge. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es Lilo auffallen würde, wie dick ich in allem aussah. Obwohl ich meinen Tauchanzug sorgfältig unter meiner Kleidung verborgen hatte, hoffte ich, sie nicht misstrauisch gemacht zu haben. Im Gegensatz zu mir war Lilo mit weiblichen Formen ausgestattet. Mit mir hatte es die Natur nicht so gut gemeint. In Jugendjahren war ich hochgeschossen, aber dürr und knochig geblieben. Lilo war einfach makellos, doch das würde ihr jetzt auch nichts mehr nützen.

Wenn man bei einer Wassertemperatur von circa 10 Grad mit einem Kanu unterwegs ist, gibt es zwei Überlebensregeln: Nicht kentern, wenn doch, nicht lange im Wasser auskühlen.

Wir kenterten an der von mir ausgesuchten Stelle im schilfbewachsenen Teich. Wie leicht das ging. Ich musste mich nur mit Schwung zur Seite kippen und kräftig am Rand des Kanus festhalten, um es mitsamt der ahnungslosen Lilo umzudrehen. Der Überraschten entfuhr ein gurgelnder Schrei.

Sie geriet in die Schockphase. Wussten Sie, dass circa ein Drittel aller Todesfälle sich direkt nach einem Sturz ins eiskalte Wasser ereignen? Gebannt blickte ich zu Lilo. Sie würde mir doch wohl nicht den Spaß verderben? Nein, das tat sie nicht. Sie hechelte bilderbuchmäßig und ich sah ihr deutlich ihre Atemnot an. Verlor sie schon ihren Gleichgewichtssinn? Oder warum patschten ihre Arme auf die Wasseroberfläche, als wolle sie Fische vertreiben? Neben uns füllte sich das schwere Nass in das Kanu und drückte es unter die Oberfläche.

Lilos Haut war nun heller durchscheinender, ihre Lippen bläulich. Ein Muskelzittern breitete sich in ihrem Körper aus. Ich sah von ihr zwar nur Kopf und Schultern, aber sie bebte so überdeutlich, dass mir kein Zweifel kam. Lilo befand sich in der Abkühlungsphase, während mir nur die Hände etwas klamm wurden. Ihr klarer Blick erfasste mich, tastete erstaunt über meine Gesichtszüge. Sie bibberte und atmete ruckartig. Was für ein beglückender Moment, sie so zu sehen. Ich konnte nicht anders, ich musste breit lächeln. Ich bin mir sicher, Lilo begriff, dass alles kein Zufall war.

Sie röchelte und versuchte mich dabei zu fixieren, aber ihr Schlottern ließ sie wie eine Epileptikerin aussehen und ich konnte mir einen kurzen Lacher nicht verkneifen. Was für ein unvergessliches Schauspiel, in meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht erwartet, wie imposant es ist, jemanden umzubringen. Lilo bemühte sich zu schwimmen, vermutlich hatte ihr noch klarer Verstand ihr befohlen, für die eigene Rettung zu sorgen. Ihre Schwimmzüge sahen schwach und unbeholfen aus. Steif wie ein kleiner Baumstamm trieb sie auf mich zu. Wie lange es wohl ihrem Kreislauf gelingen würde, die zentralen Organe des Körpers vor Auskühlung zu schützen? Lilo kam immer näher, schob einen Arm aus dem Wasser und griff nach mir, ihre Hand krallte sich in meinen Jackenkragen. Respekt, was sie da noch an Kräften aufbrachte. Lilos Augen waren dicht vor mir und ich sog mich an ihren Kornblumenaugen fest. Ein letztes Mal, bevor auch sie zu viel See abbekommen würden. Lilos Blick gefror und ohne Zutun lösten sich ihre Finger von meinem Kragen. Ich nehme an, sie war jetzt in die Erschöpfungsphase hinübergeglitten. Das Muskelzittern war zum Stillstand gekommen. Ich stieß Lilo an, um ihre Reaktion zu testen. Mustergültig ließ sie es mit sich geschehen, wie eine untergehende Schaufensterpuppe. Das Wasser reichte ihr nun bis an die Lippen, und immer, wenn etwas hinein schwappte, hörte ich ein Glucksen. Hatte sie bereits die ersten Schlucke in die Lungen gesogen? Entzückt betrachtete ich Lilos apathisch dümpelnden Körper. Der See wollte sie sich noch nicht einverleiben. Interessant, wie lange sowas braucht.

"Lilo", rief ich, "willst du wissen, weshalb du jetzt stirbst?"
Keine Antwort. Schade, dass sie jetzt nichts mehr mit bekam. Vielleicht hätte ich diese Frage doch etwas eher stellen sollen? In Zukunft sollte ich das besser bedenken. Fast hätte ich in meinen Gedanken hängend Lilos ersten Untergang nicht bemerkt. Sie war plötzlich weg. Mit zwei Schwimmzügen war ich jedoch zur Stelle und zog sie an die Oberfläche. Wussten Sie, dass man unter 30 Grad Körpertemperatur in die Lähmungsphase gerät? Die Muskeln sind dann starr, das Herz schlägt langsam und das Bewusstsein verschwindet. Schlicht gesagt, der Körper schaltet ganze Partien in den Schlafmodus, damit noch genügend Energien für die lebenswichtigen Organe übrig bleiben.

"Lilo", rief ich ihr ins Gesicht, "du wirst mir während der Lähmungsphase nicht auf ewig abtauchen. So geht das nicht!"

Es war anstrengend, Lilo über Wasser zu halten. Wenn ich sie losließ, sackte sie sofort nach unten. Die letzte Phase mit ihr hatte ich mir anders vorgestellt. Es sollte doch der Höhepunkt für meine Sinne werden. Statt dessen musste ich mit durchgefrorenen Händen laufend nach dem nassen Sack, zu dem Lilo geworden war, greifen. Noch wollte ich sie nicht auf den Seegrund sinken lassen. Während ich sie mit erschauerndem Genuss betrachtete und mich an ihrem toten Gesicht beglückte, kamen mir ein paar Verbesserungsmöglichkeiten in den Sinn. In Zukunft würde ich einiges perfekter gestalten.

 

Hallo Lakita,

interessantes Psychogramm einer Psychopathin. Ich habe stets interessiert gelesen und bei der Stelle auf dem See im Herbst war ich richtig dabei, was vor allem am Setting lag. Was mir gefehlt hat, war ein Konflikt. Keiner von außen, denn der Mord läuft reibungslos, auch wenn er dem Perfektionismus der Protagonistin nicht gerecht wird. Und auch keiner von innen. Die Prota schmiedet ihren Plan und setzt ihn ohne Gewissensbisse mit einer erstaunlichen Kaltblütigkeit aus. Erstaunlich aber nicht unglaubwürdig, möchte ich hinzufügen. Mangelnde Empathie macht eine solche Tat ja erst möglich.
Anfangs hat mich das an Fight Club erinnert, wie sich der Erzähler und Marla Singer darüber streiten, wer welche Selbsthilfegruppen besuchen darf.

Natürlich hatte ich den Bootsverleiher gebeten, die Westen wegzulassen, die hätten wir selbst dabei, hatte ich behauptet.
Dieser Satz ist unnötig erklärend. Lass dem Leser lieber den stillen Verdacht, das kommt besser.
Nicht kentern, wenn doch, nicht lange im Wasser auskühlen.

Wir kenterten an der von mir ausgesuchten Stelle im schilfbewachsenen Teich.

Ein guter Bruch!

Lilos Haut war nun heller durchscheinender, ihre Lippen bläulich.
Einfach blasser?

Schade, dass sie jetzt nichts mehr mit bekam.
mitbekam

Positiv empfand ich auch Stellen wie diese:

Sie geriet in die Schockphase. Wussten Sie, dass circa ein Drittel aller Todesfälle sich direkt nach einem Sturz ins eiskalte Wasser ereignen?
Das macht deutlich, dass die Prota recherchiert hat. Und somit auch du. In diesem Fall war die Zeit nicht verschwendet.

Ein interessanter Text, der leider trotz gutem Setting und Eloquenz etwas spannungsarm bleibt.

Viele Grüße
Hacke

 

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