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Die Schöne
Sie saß da und trank ihren Kaffee. Er war weg. Verschwunden mit einem Lächeln und einem Kuss. Genauso unverhofft wie ihre Begegnung. Sie schaut ihm noch nach, wie er zum Auto geht, einsteigt und an ihr vorbeifährt. Eben noch saß er hier, direkt neben ihr. Wie schaffte er es bloß immer wieder sie mit einem guten Gefühl zurückzulassen? Und während sie so da saß, langsam ihre Zigarette rauchte, schaute sie dem Treiben der Menschen auf dem Bahnhof zu und dachte nach. Dachte über die vergangenen Tage nach. Ja, er hat Recht, sein Körper ist nicht sein Kapital. Aber was ist sein Kapital? Warum ist sie extra in seine Stadt gekommen? Später, als sie wieder zu Hause war, erinnert sie sich daran, wie er Bilder von ihr im Hotelzimmer machte – nackt, ihm völlig ausgeliefert. Wie sie vor dem Spiegel steht, langsam ihre Haare hochsteckt, ihn dabei beobachten kann und er sie dabei ablichtet – klick, klick... wie sie auf ihm sitzt und erzählt und wieder – klick, klick... „Erzähl ruhig weiter, lass’ Dich nicht stören“ – klick, klick... Augenblicke, Momente seiner unwirklichen, mit süßem Gift getränkten Welt. All das hat schon seinen Reiz, das Hotelzimmer, sie allein in einer fremden Stadt, weit weg von ihrem Freund und dafür mit ihm, dem Fremden, dem Künstler in diesem Hotelzimmer zusammen. Frei von jeglichen Konventionen. Doch jetzt wo er weg ist, denkt sie, wie leichtfertig sie doch war. Was macht er mit den Bildern?
Wenn er da ist, vertraut sie ihm, sobald er weg ist, traut sie ihm kein bisschen über den Weg. Sie wollte nur einen kleinen Teil seiner Seele besitzen. Genauso wie er sie, „die Schöne“, wie er sie immer nennt, in seinen Bildern eingefangen hat. Doch sie bekam nichts. Was ist er für ein Mensch? Er ist nett zu ihr, lädt sie ein, hält ihr die Tür auf, küsst sie in der Öffentlichkeit, möchte sie ständig berühren. Er sagt, er begehrt sie. Doch er begehrt nur ihren Körper. Und nicht sie. Das ist ein Unterschied. Er stellt ihr keine Fragen. Wenn sie ihm etwas erzählt, hört er ihr nicht zu. Es interessiert ihn nicht. Sie weiß, es ist ein Spiel. Ein Spiel, das nach seinen Regeln gespielt wird.
Sie hat nichts erwartet und doch gab er ihr mehr. Sie denkt daran zurück, wie es war – am Anfang. Doch welcher Anfang? Gibt es bei diesem Spiel überhaupt einen Anfang und ein Ende? Sie hatten Sex. Mehr nicht. Im Café sagt er zu ihr:“ Schreib mir, versprochen?“ Und sie antwortet:“ Ja, mach’ ich.“ Aber was nützt es ihm zu schreiben, wenn er ja doch nie antwortet? Und was schreibt man einem Menschen, den es gar nicht interessiert, was man zu sagen hat? Was fand er so faszinierend an ihr? Darüber haben sie nie gesprochen. Sie wird es auch nie erfahren. Und gleichzeitig fragt sie sich, warum sie sich auf ihn eingelassen hat. Ist es der Reiz seiner so andersartigen Lebensweise?
Sie denkt an den Abend vor etwa einem Monat zurück. Sie war in seiner Stadt – geschäftlich. An dem Abend bei den Festivitäten saß er neben ihr. Er suchte schon die ganze Zeit ihre Nähe. Sie bemerkte dies, doch es interessierte sie nicht sehr. Sie war höflich und nett und er fragte sie, ob sie nicht Lust hätte, mit ihm anschließend noch etwas zu unternehmen. Hatte sie eigentlich nicht so recht. Doch so fing alles an. Sie musste raus, hielt es nicht länger mit den ganzen Leuten aus und sah ihn, den Fremden, als Rettung. Er holte sie mitten in der Nacht vom Hotel ab. Es war verrückt. Sie kannte ihn kaum und doch rief sie ihn an. Sie verbrachten die ganze Nacht in Bars, wo sie ihm, schon leicht beschwipst vom Alkohol, ihr halbes Leben erzählte. Dieses Mal hörte er ihr zu. Es war lustig und verrückt. Sie fühlte sich frei und gut. Er schaute sie die ganze Zeit über an und sagt ihr immer wieder, wie wunderschön sie sei. Sie musste darüber lachen. Als er sie im Morgengrauen zum Hotel zurückbrachte, war der Moment der typischen „Auto-Abschieds-Situation“ gekommen. Er nahm ihre Hand und küsste sie, sah ihr mit einem Lächeln und einem Verlangen sie endlich berühren zu dürfen, tief in die Augen. Er wollte mit rauf kommen. Doch sie sagte Nein. Anscheinend hatte dies sein Jagdinstinkt geweckt. Denn ab diesem Zeitpunkt, gab er sich die allergrößte Mühe. Sie wusste, was er für einer war. Er hatte es ihr in der Bar erzählt. Umsomehr wunderte es sie, dass er ihr nach ihrer Abreise tagtäglich schrieb. Und er wollte sie wiedersehen. Sie war erst zaghaft und misstrauisch. Doch es gefiel ihr. Sie ließ sich auf das Spiel ein. Sie dachte, sie würden mit offenen Karten spielen. Er schrieb ihr wunderschöne Geschichten und Gedichte. Dann kam er für ein Wochenende in ihre Stadt, um sie zu besuchen – sie endlich wiederzusehen. Sie hatten Sex – vor einer Kirche in seinem Auto. Es war verrückt und sie freute sich auf den nächsten Abend mit ihm. Doch sie sahen sich das ganze Wochenende nicht mehr. Er hat sie einfach sitzen gelassen. Er hat angeblich eine Baustelleinfahrt blockiert. Sie glaubte ihm kein Wort. Sie sagt ihm immer wieder, dass sie ihm nicht vertraut und er beschwichtigt sie. Und dann? Dann fuhr er weg. Wieder zurück in seine Stadt. Und mit ihm die lieben Worte. Trotzdem sahen sie einander wieder. Sie fuhr in seine Stadt, um ihn zu besuchen und fragte sich gleichzeitig warum. Was reizte sie?
Sie weiß es bis heute noch nicht. Und so endet es in dem Café am Bahnhof. Und er saß wieder neben ihr. Immer wenn sie versucht, sich sein Gesicht vorzustellen, entrinnt es ihr – wie das Bild von Dali. Sie kann sich an seinen Körper, seine Stimme und seinen Geruch erinnern, jedoch kaum an sein Gesicht...