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Die Scheune am Fluss
Der Regen prasselte jetzt mit aller Stärke gegen die Fensterscheiben. Es war bereits Nachmittag. Ursula blickte besorgt zu ihrer Enkelin. Sie wägte ab, ob sie etwas zu ihr sagen sollte. Hier bei ihr wären die Kinder nicht sicherer als bei sich zu Hause, das wusste sie; der Bach hinter dem Haus konnte bei Hochwasser schnell zum gefährlichen Strom werden. Aber die Fahrt mit dem Auto durch das Tal war riskant und die Gefahr wuchs von Minute zu Minute.
„Kinder, Ihr müsst los. Der Regen lässt nicht nach. Ihr müsst sehen, dass Ihr nach Hause kommt.“
Jana blickte von einer Illustrierten auf. „Mach Dir um uns keine Sorgen, Großmutter. Unser Auto kommt überall durch.“
„Ach, Ihr seid immer so sorglos. Denk an Eure Kleine. Sie fürchtet sich doch bei dem Wetter.“
Jana überlegte, ob sie Harald anrufen sollte. Sie wählte die Nummer auf ihrem Handy und lauschte dem Rufzeichen. Es dauerte eine Weile, bis er abnahm. Er war noch immer in der Firma und konnte ihr nicht sagen, wie die Situation auf der Straße durch das Tal zu ihrem Haus war.
"Vielleicht wäre es besser, wenn Ihr über Nacht bei Deiner Großmutter bleibt. Ich hole Euch morgen Früh ab und bringe die Kleine in den Kindergarten."
"Nein, das werden wir nicht. Wenn wir jetzt losfahren, kommen wir gut durch. Ich ruf Dich an, wenn wir da sind."
"Du, Liebling, ich möchte nicht, dass Du die Heldin spielst. Wenn Du dort bleibst, kann ich in Ruhe hier meinen Job machen. Sei ein braves Mädchen, ja?"
"Ich hab Dich lieb", sagte sie und legte auf. Eine Weile hielt sie das Mobiltelefon noch in der Hand, dann legte sie es in ihre Handtasche zurück. Für sie stand fest, sie würde nicht bleiben. Sie liebte ihre Großmutter. Aber Besuche, länger als drei Stunden, waren ihr zu anstrengend.
"Wir fahren sofort los, Großmutter", sagte sie und begann eilig, ihre Tochter anzuziehen. Ursula sah skeptisch zu, wie Jana sich und die Kleine reisefertig machte.
"Was hat Harald gesagt?", fragte sie Jana.
"Er hat nichts dagegen, wenn wir sofort aufbrechen. Der Fluss ist noch in seinem Bett", log sie. Sie packte ihre Sachen, nahm ihr Kind und saß fünf Minuten später in ihrem Auto, die Kleine sicher in ihrem Kindersitz angegurtet. Dann fuhr sie in den Regen. Sie schaltete die Nebelscheinwerfer ein. In einer Stunde konnte sie es nach Hause schaffen. Im Radio wurden Hochwasserwarnungen durchgegeben. Ihr Gebiet war noch nicht genannt worden. Sie schaltete um auf ihren USB-Stick und hörte ihre Lieblingsmusik. Ihre Tochter blätterte in einem Bilderbuch, der Motor surrte leise, sie würde bald eingeschlafen sein.
Durch den starken Regen konnte sie nur mäßig schnell fahren. Kaum konnte sie sehen, wo genau sie sich befand. Zur Hilfe schaltete sie ihr Navigationsgerät ein. Die Fahrt strengte sie an. In Städten sah sie häufig Blaulicht blitzen. Dann erreichte sie die Talstraße, die entlang des Flusses verlief. Nur undeutlich konnte sie erkennen, wie sich das Wasser tosend vorwärts bewegte. Plötzlich erkannte sie, dass sie die tiefste Stelle des Straßenverlaufs erreicht hatte. Die Straße war an dieser Stelle bereits überflutet. Im Scheinwerferschein sah sie Schwemmgut treiben. Mit einem Mal wurde sie sich bewusst, dass sie den Verlauf der Fahrbahn nicht mehr erkennen konnte. Sie schaltete das Licht auf Fernlicht um, was die Sicht aber noch mehr einschränkte. Ihre Füße wurden kalt. Da erst wurde ihr klar, dass Wasser längst ins Innere des Wagens eingedrungen war. Schlagartig wurde sie von Panik erfasst. Sie drehte sich nach ihrer Tochter um, sie schlief. Was war nur in sie gefahren, sich und ihr Kind in solche Gefahr zu bringen?
Harald konnte die Firma nicht verlassen, das Wasser war in den Keller eingedrungen. Jede Hand wurde jetzt gebraucht. Er gönnte sich eine kleine Pause, um seine Frau zu informieren. Doch sie nahm nicht ab. Sicher war sie mit der Kleinen bereits Schlafen gegangen. Aber er hatte keine Ruhe, er musste Gewissheit haben. Er wählte die Festnetznummer von Janas Großmutter. Als sie ihn an der Stimme erkannt hatte, begann sie, ihm Vorwürfe zu machen.
„Wie konntest Du nur erlauben, dass sie bei diesem Wetter nach Hause fahren!“
„Das habe ich nicht“, wehrte Harald ab. Dann erklärte er ihr, er habe seine Frau gebeten, keine Dummheiten zu machen und bei ihr zu bleiben. „Wann sind sie denn losgefahren?“, wollte er wissen.
„Bestimmt schon vor einer Dreiviertelstunde“, sagte die Großmutter.
Er versuchte, sie zu beruhigen, aber er glaubte seinen eigenen Worten selber nicht. Ihr konnte seine Angst nicht entgangen sein. Sie zitterte am ganzen Leib, musste sich setzen und ihre Tränen zurückhalten. Verzweifelt versuchte sie, ihn nicht weiter zu ängstigen, doch dann brach es aus ihr heraus: „Um Gottes Willen, die Kleine! Harald, Du musst sie finden!“. Dann legte sie auf und sank schluchzend in sich zusammen.
Harald wurde sich seiner Lage bewusst: Einerseits wurde er dringend in der Firma bei der Räumung des Lagers gebraucht; das Wasser stand bereits gut zwanzig Zentimeter hoch. Andererseits konnte er nicht untätig sein in Bezug auf seine Familie. Ein Versuch, dies seiner obersten Leitung verständlich zu machen, scheiterte mit der Gegenfrage des Chefs, ob er sich bewusst sei, was er riskiere, wenn er zuließe, dass ein mehrere Millionen schwerer Schaden entstünde, nur weil er an seine Privatangelegenheiten dachte.
„Sind Ihre Frau und Ihre Kinder in Sicherheit?“, erlaubte sich Harald, zu fragen.
„Das steht hier nicht zur Debatte.“
Harald glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Oh doch, das tut es wohl!“
„Na gut, dann beeilen Sie sich gefälligst mit Ihrer Arbeit. Je schneller Sie fertig sind, desto eher können Sie sich um Ihre Frau kümmern. Und jetzt gehen Sie, ich habe zu tun“. Damit war Harald entlassen. Doch er blieb stehen.
„Was ist denn noch, verdammt noch mal!“, fluchte der Chef.
Harald war es jetzt egal, was passierte. „Alle Kollegen, die in kritischen Gegenden wohnen, machen sich Sorgen um ihre Familien und ihr Hab und Gut. Ich verlange, dass alle verfügbaren Leute, auch aus der Chefetage, mit anpacken. Die Verantwortung für das Lager haben nicht nur wir, Chef. Das ist eine Ausnahmesituation.“
Das Gesicht des Chefs hatte eine dunkelrote Färbung angenommen. Außer sich vor Wut stellte er sich so nah Harald gegenüber, dass dieser seinen Atem unangenehm spürte. Harald machte auf dem Absatz kehrt und ging aus dem Zimmer. Bevor er die Tür schloss, drehte er sich noch einmal um und sagte bestimmt: „Alle!“ Dann nahm er sein Mobiltelefon zur Hand.
„Wir haben die Talstraße sperren lassen, die Senke ist überflutet, dort ist kein Durchkommen mehr“, bekam Harald zur Antwort, als er bei der Polizei nachfragte.
„Wann ist die Sperrung erfolgt?“, fragte Harald.
„Müsste in diesen Minuten passiert sein.“
„Meine Frau müsste vorher mit ihrem Auto noch durchgefahren sein.“
„Aussichtslos“, sagte der Polizeibeamte. „Viel zu gefährlich. Hat sie denn keine Nachrichten gehört?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Harald. „Ich kann sie nicht erreichen. Ist bei Ihnen ein Notruf eingegangen?“
Der Polizist verneinte. Harald solle die Feuerwehr anrufen und dort nachfragen, oder das Rote Kreuz.
Harald wählte kurzerhand die 110. Das konnte kein Missbrauch des Notrufs sein, wenn nicht er selbst, aber seine Familie in Not war.
„Können Sie sich vorstellen, dass kein Einsatzfahrzeug mehr im Depot ist? Die sind alle unterwegs. Und nur wegen eines Verdachts kann ich keinen abziehen.“ Harald hinterließ seine Nummer und bat, ihn sofort zu verständigen, wenn sich etwas ergeben hätte. Er begab sich wieder ins Lager, funktionierte aber eher mechanisch. Immer wieder sah er zur Uhr. Die Zeit schien kaum zu vergehen. Erst ein Zwischenfall beim Beladen eines Containers ließ ihn sich wieder auf seine Arbeit konzentrieren. Umso enttäuschter war er, als er nach zwei Stunden noch immer keine Nachricht von seiner Frau und seiner Tochter hatte. Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Erschrocken drehte er sich um und sah in das Gesicht seines Chefs. „Wollen Sie nach Hause fahren?“, fragte der Chef, er vermied es, Harald in die Augen zu sehen. Sein Anzug war von oben bis unten schmutzig.
„Ich komme nicht nach Hause, wir sind von der Außenwelt abgeschnitten“, sagte Harald mit einem Kloß im Hals.
Das Wasser war in den letzten fünf Minuten so stark gestiegen, dass sich der Fluss in einen reißenden Strom verwandelt hatte. Einige Brücken waren für den Verkehr gesperrt worden, zu groß war die Gefahr, dass sie dem Druck des Wassers nicht mehr standhalten konnten. Im Internet kursierten schon einige Sensationsfotos. Eines zeigte ein Auto, das gegen eine der Brücken gespült worden war und regelrecht vom Wasser zerdrückt wurde. Als Harald sich das Bild auf dem Smartphone eines Kollegen genauer anschaute, wurden ihm die Knie weich und er wurde leichenblass.
„So einen Wagen fährt meine Frau“, sagte er mit brüchiger Stimme. Er musste sich setzen.
„Aber das muss doch nicht das Auto Deiner Frau sein“, versuchte sein Kollege, ihn zu beruhigen. Doch Harald war kurz davor, durchzudrehen. War Jana mit der Kleinen noch vor dem Hochwasser durchgekommen und wohlauf? Warum nur ging sie nicht ans Telefon. Auch bei ihrer Großmutter meldete sich niemand mehr. Es war zum Verzweifeln.
In der Firma hatten sie es geschafft, das Lager zu räumen und in eine höher gelegene Halle umzulagern. Vorsichtshalber wurde der Strom in den im Wasser stehenden Gebäuden abgeschaltet. Vor dem Tor der Produktionshalle hatten sie Sandsäcke gestapelt. So konnten sie bis jetzt die Maschinen schützen. Der Wasserspiegel im Firmengelände schien nicht mehr zu steigen. Harald kontrollierte die Sandsackbarriere. Gespenstisch drang Sirenengeheul aus der Stadt und aus dem Tal zu ihm heran. Sein Telefon klingelte. Er ging in die schützende Halle zurück. Dann meldete er sich mit klopfendem Herzen.
„Wir haben Ihre Tochter und Ihre Frau gefunden“, sagte eine Stimme.
„Gott sei Dank! Wo sind sie? Sind sie wohlauf?“
„Ich gehe davon aus. Wir hatten einen Anruf von einem Bauern, der im Tal am Fluss eine Scheune stehen hat. Bei drohendem Hochwasser öffnet er die Tore, damit das Wasser ungehindert hindurch fließen kann.“
Als der Bauer die Tore geöffnet hatte, schaute er sich den Fluss an und entdeckte das Auto im Wasser. Mit seinem Jeep konnte er bis hinan fahren und die beiden zu sich holen, erzählte er, als Harald mit ihm telefonierte. Seine Frau habe verzweifelt geschrien, sie könne ihren Mann nicht erreichen. Und das kleine Mädchen habe geweint. Wenig später habe er beobachtet, wie das Auto von der Flut erfasst und mitgerissen worden war. Es sei Rettung in letzter Sekunde gewesen. Harald solle, sobald es die Situation erlaube, sofort kommen.
„Zurzeit schlafen sie. Wir haben einen Arzt gerufen. Der hat ihr was zur Beruhigung gegeben, aber sonst sei sie in Ordnung. Sie hat einen mächtigen Schock erlitten.“
„Und wie geht es der Kleinen?“
„Nachdem der Arzt die Kleine untersucht hatte und sich dann um die Mama kümmerte, bin ich mit ihr in den Stall gegangen. Dort haben wir ein ganz junges Kälbchen. Das hat sie abgelenkt.“
Harald bedankte sich und musste seine Tränen zurückhalten. Das Heulen der Sirenen drang noch immer zu ihm heran. Um zu dem Bauernhof zu gelangen, musste er zum Glück nicht den Fluss überqueren. Langsam stellte sich Erleichterung für ihn ein, als er mit seinem Auto vom Hof fuhr.