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Die Stubenfliege
Mattes Licht erhellt den Raum. Es mischt sich mit dem fahlen Schimmer der hereinbrechenden Dämmerung. Von der mit Lüstern verzierten Deckenlampe fällt es auf den runden Tisch in der Mitte des kleinen Zimmers, auf die weiße Damastdecke, die Vase mit den roten Nelken, den mit handgemalten Blumen verzierten Teller mit dem Stück Butterkuchen und die schmale Greisenhand, die akkurat ausgerichtet neben dem Porzellan liegt. Die andere Hand führt mit einer zittrigen Bewegung die Teetasse an den zerklüfteten Mund.
Der matte Glanz ihrer Augen hat schon vor langer Zeit aufgehört, das Licht zu reflektieren. Der trübe Blick folgt, begleitet von einem zarten Lächeln, der Stubenfliege, die mit einem tiefen Summen im Lichtkegel kreist und sich auf dem Teller niederlässt, um am Gebäck zu naschen.
Das Schwirren der Insektenflügel ist neben dem Herzschlag der Greisin das einzig Lebendige im Raum, dessen Möblierung die alte Frau durch die Jahrzehnte begleitet hat.
Nur gedämpft dringen von der anderen Seite des Glases die Geräusche des pulsierenden Lebens mit der Geschäftigkeit eines trüben Novembertages.
Früher war die Frau Teil dieses Lebens, als das Geschäft für den Bedarf alltäglicher Dinge noch in ihrer Strasse war und nicht zum Einkaufszentrum am Stadtrand ausgewichen ist, der Hausarzt ein paar Schritte entfernt wohnte. Nach seinem Rückzug irgendwo an die See sollte die Betreuung eine der neuen modernen Gemeinschaftspraxen im Stadtzentrum übernehmen - zu weit für ihre arthrosekranken Beine.
Selbst der Briefkasten füllte sich nur mit Werbung für Dinge, die sie nicht brauchte. Da war kein Platz mehr für Nähe, menschliche Wärme, für ein kurzes Verharren im Verständnis für die Seele des Gegenüber.
Als die Hand die Teetasse absetzt, schwirrt die Stubenfliege auf in Richtung Fenster. Es scheint, als wolle sie der Stille des Raumes, in dem das Gestern wohnt, entfliehen. Immer wieder hört die Greisin das Geräusch, wenn das Insekt gegen das Glas fliegt, das die unüberwindbare Grenzen zwischen hier und dort bildet. Für beide Lebewesen gibt es kein Entfliehen aus dem Zimmer mit den dunklen Holzmöbeln.
Der Blick der alten Frau schweift über das stets schweigende Telefon zur kleinen Anrichte, auf der neben der Karaffe aus böhmischen Kristall und der handbemalten Porzellantänzerin das Bild steht.
Zwischen den schmalen Silberbändern des Rahmens blickt Friedrich ernst in das Objektiv, geschmückt in der Uniform der Wehrmacht, fast ein wenig keck das Schiffchen auf dem streng gescheitelten Kopf.
Ein kurzes Glück war ihnen gewährt, bevor er mit den anderen Männern davon ziehen musste. Lange nach Kriegsende bekam sie ihn zurück, gezeichnet von den Entbehrungen der Gefangenschaft irgendwo im fernen Osten. Die durch einen Schlaganfall ausgelöste Lähmung hatte er im Reisegepäck, dazu zerfressene Lungen. Trotzdem waren es noch zwei schöne Jahre der Gemeinsamkeit geworden.
Der Krieg hatte ihr nicht nur den Mann und die Brüder genommen, sondern auch die Kinder, die nie geboren wurden. Der Zukunft stand sie damals allein gegenüber. Ein neues Glück gab es nicht. Die Männer hatte fast alle der blutgetränkte Boden ferner Länder geschluckt.
Als Dampfbüglerin war sie ins eigene Leben gestartet. Bis die Generation kam, die keine exakt geglätteten Falten mehr benötigte. Doch sie hatte Glück. Als Maschinenbefüllerin in einer chemischen Reinigung hatte man sie behalten. Ganz hinten im Betrieb war ihr Arbeitsplatz, an jener Stelle, zu der nur wenige Menschen vordrangen.
So hatte sie sich an die Einsamkeit gewöhnt. War schweigsam geworden. Genoss die wenigen Kontakte zu anderen Menschen beim Einkaufen, im Treppenhaus. Doch langsam war ihre Generation verschwunden. Tröpfchenweise. Einer zog zu den Kindern in die Vorstadt, ein anderer ging ins Altersheim. Manche traten auch die unendliche Reise an.
Sie sieht Richtung Fenster.
Die Fliege schien begriffen zu haben, dass es auch für sie kein Entrinnen gibt. Sie kehrt zum Teller zurück und lässt sich auf dem Rest des Butterkuchens nieder, der für einen Greisenmagen zu viel ist und für zwei Lebewesen reicht.
Still ist es im Raum. Nur gedämpft dringen die Geräusche des beginnenden Tages durch das geschlossene Fenster. Die Menschen hasten durch die Strassen, nehmen nur im Unterbewusstsein den Lichterglanz der beginnenden Adventszeit auf, der nach den düsteren Tagen des Novembers Wegbegleiter zum Weihnachtsfest ist.
Auf der weißen Tischdecke steht der Teller mit dem Rest Butterkuchen, daneben eine halbgefüllte Teetasse. Ein schmaler Schatten fällt auf die Vase mit den weißen Lilien.
Auf dem Brett vor dem unüberwindbaren Fenster nach draußen liegt eine tote Stubenfliege.