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Die Stubenfliege

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19.06.2002
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Die Stubenfliege

Mattes Licht erhellt den Raum. Es mischt sich mit dem fahlen Schimmer der hereinbrechenden Dämmerung. Von der mit Lüstern verzierten Deckenlampe fällt es auf den runden Tisch in der Mitte des kleinen Zimmers, auf die weiße Damastdecke, die Vase mit den roten Nelken, den mit handgemalten Blumen verzierten Teller mit dem Stück Butterkuchen und die schmale Greisenhand, die akkurat ausgerichtet neben dem Porzellan liegt. Die andere Hand führt mit einer zittrigen Bewegung die Teetasse an den zerklüfteten Mund.

Der matte Glanz ihrer Augen hat schon vor langer Zeit aufgehört, das Licht zu reflektieren. Der trübe Blick folgt, begleitet von einem zarten Lächeln, der Stubenfliege, die mit einem tiefen Summen im Lichtkegel kreist und sich auf dem Teller niederlässt, um am Gebäck zu naschen.

Das Schwirren der Insektenflügel ist neben dem Herzschlag der Greisin das einzig Lebendige im Raum, dessen Möblierung die alte Frau durch die Jahrzehnte begleitet hat.
Nur gedämpft dringen von der anderen Seite des Glases die Geräusche des pulsierenden Lebens mit der Geschäftigkeit eines trüben Novembertages.

Früher war die Frau Teil dieses Lebens, als das Geschäft für den Bedarf alltäglicher Dinge noch in ihrer Strasse war und nicht zum Einkaufszentrum am Stadtrand ausgewichen ist, der Hausarzt ein paar Schritte entfernt wohnte. Nach seinem Rückzug irgendwo an die See sollte die Betreuung eine der neuen modernen Gemeinschaftspraxen im Stadtzentrum übernehmen - zu weit für ihre arthrosekranken Beine.

Selbst der Briefkasten füllte sich nur mit Werbung für Dinge, die sie nicht brauchte. Da war kein Platz mehr für Nähe, menschliche Wärme, für ein kurzes Verharren im Verständnis für die Seele des Gegenüber.

Als die Hand die Teetasse absetzt, schwirrt die Stubenfliege auf in Richtung Fenster. Es scheint, als wolle sie der Stille des Raumes, in dem das Gestern wohnt, entfliehen. Immer wieder hört die Greisin das Geräusch, wenn das Insekt gegen das Glas fliegt, das die unüberwindbare Grenzen zwischen hier und dort bildet. Für beide Lebewesen gibt es kein Entfliehen aus dem Zimmer mit den dunklen Holzmöbeln.

Der Blick der alten Frau schweift über das stets schweigende Telefon zur kleinen Anrichte, auf der neben der Karaffe aus böhmischen Kristall und der handbemalten Porzellantänzerin das Bild steht.

Zwischen den schmalen Silberbändern des Rahmens blickt Friedrich ernst in das Objektiv, geschmückt in der Uniform der Wehrmacht, fast ein wenig keck das Schiffchen auf dem streng gescheitelten Kopf.

Ein kurzes Glück war ihnen gewährt, bevor er mit den anderen Männern davon ziehen musste. Lange nach Kriegsende bekam sie ihn zurück, gezeichnet von den Entbehrungen der Gefangenschaft irgendwo im fernen Osten. Die durch einen Schlaganfall ausgelöste Lähmung hatte er im Reisegepäck, dazu zerfressene Lungen. Trotzdem waren es noch zwei schöne Jahre der Gemeinsamkeit geworden.

Der Krieg hatte ihr nicht nur den Mann und die Brüder genommen, sondern auch die Kinder, die nie geboren wurden. Der Zukunft stand sie damals allein gegenüber. Ein neues Glück gab es nicht. Die Männer hatte fast alle der blutgetränkte Boden ferner Länder geschluckt.

Als Dampfbüglerin war sie ins eigene Leben gestartet. Bis die Generation kam, die keine exakt geglätteten Falten mehr benötigte. Doch sie hatte Glück. Als Maschinenbefüllerin in einer chemischen Reinigung hatte man sie behalten. Ganz hinten im Betrieb war ihr Arbeitsplatz, an jener Stelle, zu der nur wenige Menschen vordrangen.

So hatte sie sich an die Einsamkeit gewöhnt. War schweigsam geworden. Genoss die wenigen Kontakte zu anderen Menschen beim Einkaufen, im Treppenhaus. Doch langsam war ihre Generation verschwunden. Tröpfchenweise. Einer zog zu den Kindern in die Vorstadt, ein anderer ging ins Altersheim. Manche traten auch die unendliche Reise an.

Sie sieht Richtung Fenster.
Die Fliege schien begriffen zu haben, dass es auch für sie kein Entrinnen gibt. Sie kehrt zum Teller zurück und lässt sich auf dem Rest des Butterkuchens nieder, der für einen Greisenmagen zu viel ist und für zwei Lebewesen reicht.


Still ist es im Raum. Nur gedämpft dringen die Geräusche des beginnenden Tages durch das geschlossene Fenster. Die Menschen hasten durch die Strassen, nehmen nur im Unterbewusstsein den Lichterglanz der beginnenden Adventszeit auf, der nach den düsteren Tagen des Novembers Wegbegleiter zum Weihnachtsfest ist.

Auf der weißen Tischdecke steht der Teller mit dem Rest Butterkuchen, daneben eine halbgefüllte Teetasse. Ein schmaler Schatten fällt auf die Vase mit den weißen Lilien.

Auf dem Brett vor dem unüberwindbaren Fenster nach draußen liegt eine tote Stubenfliege.

 

Hallo Hannes Nygaard

eine wirklich sehr stimmungsvolle, bildliche Geschichte ist dir da gelungen. Die zaghafte Beschreibung des Altwerdens und Altseins in Verbindung mit einer Stubenfliege, die am Ende auch das Zeitliche segnet, ist dir braviös gelungen.
Die detalierte Beschreibung, der Umgebung in der sich dein Prot. befindet und der kurze Vergangenheitstrip ist für den Leser ein Genuss.
Eine Kleinigkeit ist mir beim Lesen aufgefallen

. Einer zog zu den Kindern in die Vorstadt, einer andere ging ins Altersheim. Manche traten auch die unendliche Reise an.

Einer zog zu den Kindern in die Vorstadt, ein anderer ging ins Altersheim.

Vielen Dank und einen schönen Abend

Morpheus

 

Hallo Morpheus,

vielen Dank für deine freundliche Kritik (und den Hinweis auf den "Vertippser"), über die ich mich gefreut habe.

Liebe Grüße aus Münster
Hannes

 

Hallo Hannes Nygaard!

Eine wunderschöne Geschichte hast du geschrieben. :thumbsup:
Die Bilder entstehen während des Lesens im Kopf. Sehr bildliche Sprache und dabei kommt alles so einfach rüber.
Das Ende, obwohl es einen Schatten birgt, gefällt mir sehr gut und passt zu dem sanften und ruhigen Ton.

LG
die Piratin

 

Hallo Piratin,

bei so freundlichen Worten leuchtet sogar der trübe November... Danke fürs Lesen und deinen Kommentar.

LG von der Aa an die Elbe
Hannes

 

Hallo Hannes,
wie immer habe ich auch diese Geschichte von Dir gerne gelesen. Mir gefällt die Art, wie Du die Dinge liebevoll bis ins kleinste Detail beschreibst. So hat man als Leser die Personen und deren Umgebung wie lebendig vor Augen.
Stellen, die mir besonders gut gefallen haben:
"Da war kein Platz mehr für Nähe, menschliche Wärme, für ein kurzes Verharren im Verständnis für die Seele des Gegenüber."

"Es scheint, als wolle sie der Stille des Raumes, in dem das Gestern wohnt, entfliehen."

"Der Krieg hatte ihr nicht nur den Mann und die Brüder genommen, sondern auch die Kinder, die nie geboren wurden. Der Zukunft stand sie damals allein gegenüber. Ein neues Glück gab es nicht. Die Männer hatte fast alle der blutgetränkte Boden ferner Länder geschluckt."

"Die Menschen hasten durch die Strassen, nehmen nur im Unterbewusstsein den Lichterglanz der beginnenden Adventszeit auf, der nach den düsteren Tagen des Novembers Wegbegleiter zum Weihnachtsfest ist."

Liebe Grüsse
Blanca

 

Hallo Blanca,

bei so freundlichen Worten aus deiner Feder lacht ja richtig die spanische Sonne über den novembertrüben Westfalenhimmel...
Ein ganz liebes Dankschön dafür und einen Berg fröhlicher Grüße vom tristen Aaseestrand an die Sonnenküste.

Hannes

 

Hallo Hannes,

wollte mal eine deiner Geschichten ausgraben, zu denen ich noch nicht meine Meinung geschrieben habe und diese kleine Geschichte passt irgendwie gut in die jetzige Herbstzeit, weil sie sich dieser Stimmung anpasst.
Das ist etwas, was ich dir für alle deine Geschichten lobend mitteilen kann, dass es dir jeweils gelingt, die von dir beabsichtigte Stimmung her zu zaubern. Ich fühle mich jedesmal mitten drin im Geschehen.

Eine kleine runde Geschichte ist dir da gelungen, an der ich eigentlich nichts auszusetzen habe, bis auf die Tatsache, dass mir mehr gefallen hätte, wenn du nicht aus der Beobachterposition geschrieben hättest.
Dadurch wirkt alles sehr distanziert, das Schicksal der Frau berührt einen schon, aber es könnte einen vielleicht sogar packen, wenn man durch die direktere Beschreibung mehr in den Bann des Altwerdens und der Einsamkeit hinein geriete.
Ich hoffe, du verstehst, was ich gemeint habe.


Lieben Gruß
elvira

 

Hallo Hannes,

schön geschrieben, deine Geschichte hat mir gut gefallen. Dennoch fand auch ich an einigen Stellen die Bilder etwas zu überladen - ein paar Adjektive, ein paar Details, die mir fast schon zu viel waren.
An anderen Stellen warst du mir zu deutlich, zu wertend. Da hast du Stimmung in Sätze gepackt, die auch ohne das explizite Benennen wunderbar rüber kam. Ein Beispiel:

Da war kein Platz mehr für Nähe, menschliche Wärme, für ein kurzes Verharren im Verständnis für die Seele des Gegenüber.
Die Stubenfliege als Symbol für die gefangene Frau fand ich wirklich gelungen.
Eine Logikgeschichte noch - die Verwandlung der roten (?) Nelken in weiße Lilien hat mich irritiert ;)

Liebe Grüße
Juschi

 

Liebe lakita,

wie immer habe ich mich über deine Kritik gefreut, natürlich auch über die freundliche Zustimmung. Kritik klärt uns über die Sicht des Lesers auf, was ich für eine mehr als wichtige Rückmeldung erachte. Ungeachtet dessen darf ein Schreiberling aber auch ein wenig hüpfen, wenn sich nette Wort ein einem Kommentar finden.

Nun würde mich aber doch noch einmal interessieren, welche Perspektive des Erzählers du dir vorstellen könntest. Ich freue mich schon jetzt auf deinen Rat.

Liebe Grüße
Hannes

 

Nun würde mich aber doch noch einmal interessieren, welche Perspektive des Erzählers du dir vorstellen könntest. Ich freue mich schon jetzt auf deinen Rat.

Lieber Hannes, Rat kann ich nicht geben, eher meinen Geschmack vor dir ausbreiten.
Wenn du mit Perspektive des Erzählers meinst, welche Umsetzung der Autor wählen soll, so fielen mir zwei Möglichkeiten ein, die ich persönlich bevorzugen würde:
zum einen diejenige der Icherzählung
zum anderen sehr sehr viel wörtliche Rede, sodann kann aus der Sicht eines Dritten der Rest weiter dargestellt werden.

Wenn du aber mit Perspektive des Erzählers, denjenigen innerhalb deiner Geschichte meinst, so kann ich dir mit keinem Verbesserungsvorschlag dienen.

Lieben Gruß
elvira

 

Hallo poesiefräse,

herzlichen Dank für die Mühe, die du dir mit deiner komplexen Kritik gemacht hast. Es ist für einen Autor spannend zu erfahren, wie ein Text auf Dritte wirkt. Und wenn der gewählte Stil als zu „fett“ empfunden wird, werte ich es als sympathische, aber auch positive Reaktion. Du hast dich mit den Zeilen auseinandergesetzt und deine persönlichen Eindrücke zusammengefasst. Das ist die Resonanz, über die sich der Schreiberling freut.
Für das Zeichnen eines Bildes in einer Geschichte muss ein Rahmen gewählt werden. Da sind wir nicht weit von der Malerei entfernt. Ich habe mich beim Aufzeigen des Alleinseins für eine bedächtige, ruhige Erzählweise entschieden, da ich glaube, dass diese eher zur älteren Generation als eine sachlich-modernistisch gehaltene Darstellung passt. Vielleicht lässt es sich damit vergleichen, dass jüngere Menschen mit dem Hang zu Stahlrohr- und Kunststoffmöbeln das auf manche Gemüter muffig wirkende Ambiente einer Greisenwohnung häufig nicht verstehen können. Und natürlich benötigt die alte Dame in diesem Bild einen „Dialogpartner“, allerdings einen ungleichen. Nicht umsonst lautet die Überschrift „die Stubenfliege“. Nun wird niemand ernsthaft behaupten wollen, ein Insekt sei ein wirklicher Partner. Dies gilt ja nur für das „Bild“. Da bleibt selbstverständlich kein Raum für naturwissenschaftliche Betrachtungen, ob es möglicherweise noch mehr „Getier“ in der Wohnung gibt. Das ist für das Transportieren der Botschaft aber auch unbedeutend.
Und ebenso stimmt die Botschaft, dass es für Frau und Insekt kein Entfliehen aus dem Raum gibt. Das (dumme) Tier scheitert am Fensterglas. Es ist kein Eigenverschulden der Fliege, dass sie die Scheibe nicht als unüberwindbares Hindernis erkennt. Ebenso wird die alte Frau durch eine nicht erkennbare Grenze in ihrem Zimmer gehalten. Für sie ist die Ignoranz der Umwelt das unsichtbare Trennende. Wie kann es sonst vorkommen, dass gelegentlich Menschen unbemerkt von der Nachbarschaft über einen langen Zeitraum tot in ihrer Wohnung liegen?
Insoweit glaube ich, dass Sprache und die etwas düster wirkenden Farben die Situation der alten Frau beschreiben und weitere Handlungsabläufe vom Kern ablenken würden. Der Fokus dieser Geschichte ist nicht auf Aktivität ausgelegt.
Aber eine Story ist wie ein Würfel und hat immer mehr als eine Seite. Je nach Blickwinkel des Betrachters können die unterschiedlichen Perspektiven zu anderen Ergebnissen führen. Und für von dir mit Engagement aufgezeigte andere Seite des Kaleidoskops danke ich dir.

Liebe Grüße
Hannes

 

Hallo Juschi,

auch dir ein herzliches Dankeschön für deine Kritik. Der Hinweis auf Adjektive und „Details“ ist nachdenkenswert.

Schön, dass die Stelle mit den Blumen entdeckt hast. Rote Nelken (werden heute kaum noch verschenkt) sind ein Relikt vergangener Tage, insoweit passen sie zur alten Dame. Weiße Lilien hingegen stehen symbolisch für den Tod. So vollzieht sich auch in den Blumen der Wandel.

Liebe Grüße
Hannes

 

Liebe Elvira,

gleich, ob du es Rat oder eigenen Geschmack nennst - ich freue mich über jede Anregung, auch wenn ich sie manchmal für etwas schwierig umszuseten halte. So würde in dieser Geschichte die Ich-Form ein wenig merkwürdig klingen (*nichtganzernstgenmeint*) "Erinnerungen aus dem Jenseits". Und (*ebenfallsmiteinembreitengrinsenimgesichtgesagt*) erinnert die Dialogform ein wenig an Dr. Doolittle (die, die mit der Fliege sprach...).

Nein! Ich habe dich schon verstanden.

Liebe Grüße
Hannes

 

Hallo poesiefräse,

ich denke, dich schon verstanden zu haben. Aber auch wenn die die Räumlichkeit einer Käseglocke angemessener erscheint, kennen wir alle das Insekt, das immer wieder gegen die Fensterscheibe fliegt und diese Hindernis nicht zu überwinden vermag. Ohne über die Müßigkeit einer Diskussion des begrenzten Aktionsraumes abzuschweifen, halte ich an meiner Version der "Fliege ind er Stube" fest, da sie - wie bereit erwähnt - jedem Leser eingängig und aus eigener Erfahrung bekannt ist. Die Fragestellung ist ja nicht, WARUM die gemeine Stubenfliege unbedingt den Raum verlassen möchte. Sie dient in dieser Story als Träger für eine Assozitaion, die sich im Hinterkopf des Lesers ausbreiten soll. Das wäre mein Verständnis von einer guten Geschichte.

Dennoch respektiere ich jede andere Auffassung und nehme andere Betrachtungsweisen zum Anlass, selbstkritisch das Geschriebene zu beleuchten. Ich bleibe bei meiner Auffassung, dass die differenzierten Sichtweisen einem Kaleidoskop gleichen.

Liebe Grüße
Hannes

 

Hallo Clara,

danke für deine Stellungnahme. Vorab darf ich dir versichern, dass eine Kritik nie als "Meckern" verstanden wird (werden sollte), sondern zum einen dem Autor wertvolle Hinweise, die letzlich der weiteren Reifung des Stils dienen sollten, bietet, andererseits aber dem Schreiberling auch ein willkommenes Feedback bedeutet. Wie könnte er sonst die Wirkung seines Textes auf Dritte erfahren? Für mich ist es immer besonders spannend, aus den Antworten die Bandbreite zu entnehmen, die die Wirkung auf verschiedene Leser reflektiert.
Interessant fand ich auch deinen Hinweis auf eine "böhmische Herkunft" der Greisin. Ich gestehe, mangels eigener Erfahrung keine böhmischen Impressionen vermitteln zu können, und freue mich natürlich darüber, wenn du aus dem Zeilen eine solche Interpretation erkennst. Für mich ist es ein (schöner) Beweis dafür, welche unterschiedlichen Bilder beim Lesen eines Buches/Textes im Kopf der Menschen aufgebaut werden.
Das tröstet mich auch dafür, dass ich in den Formulierungen nicht in allen Punkten deine Zustimmung finden kann.
Danke für deine Mühe und liebe Grüße
Hannes

 

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