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Die Symbiose
Siegfried hatte in seiner Dachwohnung, wie die meisten anderen Leute in seiner Umgebung, die er allerdings nicht besonders gut kannte, kein Fliegengitter an seinem Fenster, ebenso wenig besaß er eine Fliegenklatsche oder gar eines dieser heimtückischen Geräte, die die Parasiten mit Licht anlockten. Nein, Siegfried hatte keine Verwendung für Derartiges, denn er sympathisierte mit den Stechmücken, er war geradewegs fasziniert von ihnen. Wie sie sich gemein und hinterhältig, ohne vom Wirt bemerkt zu werden, anschlichen, ihn stachen und dadurch ihr Überleben sicherten. Er sah darin durchaus einige Parallelen zu einigen Menschengruppen seiner Zeit, die beinahe selbiges machten, allerdings mit dem Ziel, sich selbst zu bereichern. Auch deswegen bevorzugte Siegfried die Gegenwart von Stechmücken, denn sie stachen nur, um zu überleben, schließlich würde auch niemand ihm verbieten, seine Finger zum Essen zu benutzen, wo doch auch sie zur Nahrungsaufnahme benötigt wurden.
Doch eines Tages, Siegfried kam gerade zurück von seiner Weiterbildungsstätte, erblickte er neben seinen Blumfeld-Postern ein Prachtexemplar einer Stechmücke. Sie schimmerte golden im matten Licht, das aus dem Flur herein schien, er hatte natürlich keine Lampen in seiner Wohnung, da das Licht den Mücken ein höherwertiges Ziel als er selbst zu sein schien.
Er tat vieles, um sich von ihnen Stechen zu lassen, doch immer wieder verschmähten sie ihn. Frauen liebten Siegfried, der aus gut situiertem Hause kam, alle, aber die Stechmücken, die er so liebte, hielten Abstand zu ihm. In seinem ganzen Leben wurde er noch nie von den Tieren gestochen, vielleicht machte genau dies den Gegenstand seine Faszination aus. Er wollte verstehen, wieso andere Menschen immer Abstand hielten, sie sogar brutal töteten und immer wieder neue Vernichtungsmaschinen entwickelten, dieser enorme Arbeitsaufwand nur für diese kleinen possierlichen Tierchen, die keiner Fliege etwas zu Leide taten.
Aber jenes Tier stellte eine Ausnahme da. Kaum schloss Siegfried die Tür, stieß es sich von der Wand ab, flog summend, auch das Summen mochte Siegfried, es übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus, zu ihm, ließ sich auf seinem Oberarm nieder und bohrte seinen Stachel tief in ihn hinein.
Natürlich bemerkte Siegfried den Stich, wie sollte er auch nicht, er war gut darin geworden, Stechmücken zu beobachten, doch das Gefühl befriedigte ihn leider nicht im Geringsten. Er spürte es nicht einmal richtig!
Jahrelang hatte er auf diesen Moment gewartet und nun sollte er sich als überflüssig, als nebensächlich, als kaum existent herausstellen. Doch Siegfried wollte nicht aufgeben.
Es vergingen einige Tage, in denen er mehrmals täglich von dem goldene Tier durchlöchert wurde. Mit jedem Stich wuchs auch ein Gefühl der Gefühlsleere in ihm, ebenso breiteten sich die Spuren der Stiche aus. Wo sie am Anfang der Stich-Eskapaden noch etwa einen Durchmesser von einem Zentimeter hatten, breiteten sie sich nun schon fast ganz auf Siegfrieds Arm aus. Dies war allerdings logisch bedingt, da das Tier nun inzwischen die Größe eines Goldfisches angenommen hatte.
Siegfried machte sich Vorwürfe. Es konnte so nicht weitergehen, er musste einen gewichtigen Fehler in seinem Leben gemacht haben. Die Antwort lag auf der Hand: Er trieb zu wenig Sport und aß zu fett, was natürlich die Arterien verstopft und die Blutzirkulation hemmt, auch hörte er mit dem Rauchen auf, da dies sicherlich auch Auswirkungen auf sein Blut haben musste.
Und es funktionierte tatsächlich. Die Mücke wuchs nun viel schneller, hatte nach einigen Wochen schon die Größe eines Dackels. Die Stiche brachten auch endlich die gewünschte Wirkung. Er fühlte sich danach matt und ausgelaugt, wie nach richtig gutem Geschlechtsverkehr. Von nun an lebte Siegfried in Symbiose mit der goldenen Stechmücke. Sie nahm sein Blut, inzwischen auch schon in beträchtlichen Mengen, er erfreute sich an der Wirkung und dem Aussehen der tiefen Spuren des auch größer werdenden Stachels.
Wohl durch den Sport, er betrieb zur besseren Körperertüchtigung Bogenschießen, wurde er auch immer dünner und fühlte sich danach und besonders nach der vielen Bildung der Schule immer matter. Zu hause ließ er sich dann stechen und er war wieder glücklich. Nun führte er das Leben, das er sich so lange erhofft hatte.
Zwar fragte ihn einmal der Junge, der neben ihm saß in der Schule, woher die Stichwunden auf seinen Armen kämen, aber Siegfried würdigte ihn nicht mit einer Antwort, woher sollte er dies schon verstehen. Dennoch riet ihm der Junge, wenn er einmal richtig gutes Gift versuchen wolle, dass er einmal zum Bahnhof kommen sollte, es gäbe dort die besten Tiere.
Nach langem Überlegen, anfangs wollte er nicht riskieren, die goldene Mücke zu verärgern, sie könnte ja eifersüchtig werden, ging er doch dort hin.
Zurück in seiner Wohnung, setzte er sich gelangweilt auf seinen Sessel und fragte sich, wo die goldene Mücke hingeflogen sein könnte. Doch kaum hatte er seinen Gedanken vollendet, flog das riesige Tier auf ihn zu, stich ihn zu tote und viel selbst, mit Schaum am Stachel, tot zu Boden.
Dort lagen sie, die zwei Parasiten, hilflos und schwach, tod.