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Die Tänzerin im Schatten
Aufgewacht.
Im Schlafzimmer ist es still. Nur die Decke raschelt, als ich sie zur Seite schiebe, um den Radiowecker sehen zu können.
Es ist kurz nach vier. Wo bleibst du bloß?
Das Essen habe ich in den Kühlschrank gestellt, damit du dir morgen davon nehmen kannst. Natürlich bin ich enttäuscht. Es sollte eine Überraschung werden. Sogar neue Kerzen habe ich gekauft, um das Ambiente abzurunden.
Seit du nach München versetzt worden bist, sehen wir uns kaum noch. Aber du hast mir versprochen heute Abend hier zu sein. Ich habe mich auf dich gefreut.
Draußen fängt es zu regnen an. Die Tropfen werden vom Wind gegen das Fenster geweht. Ich greife neben das Bett und suche die Wasserflasche. Sie ist beinahe leer und ich kann meinen Durst bloß ein wenig besänftigen.
Anschließend setze ich mich im Bett auf und lausche dem Herbstwetter, dessen Geräusche beruhigend durch die angelehnte Scheibe dringen. Es ist dunkel, aber nicht völlig. Der große Baum im Garten wirft seinen mächtigen Schatten in den Raum und die knorrigen Äste sind die Tänzer, die anmutig und schwerelos der Bühne des Stammes entgleiten.
Knarrend öffnet sich die Tür. Ich drehe mich um und erkenne deine Silhouette im Rahmen. Also bist du doch gekommen. Der Sturm hat dich nur etwas aufgehalten.
Langsam kommst du auf mich zu, ziehst dir die Schuhe aus und legst dich zu mir ins Bett.
Ich spüre deine kalte, nasse Haut und deinen heißen Atem, der so im Kontrast dazu steht. Jetzt bin ich dir nicht mehr böse. Du bist bei mir.
Ich will etwas sagen, doch du legst bereits deinen Zeigefinger auf meine Lippen.
"Es tut mir Leid", flüsterst du.
Vorsichtig drückst du mich auf die Matratze und streifst den Pulli ab.
Wie sehr ich deinen Geruch doch liebe.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal so richtig miteinander geschlafen habe. Ich meine damit keinen gewöhnlichen Sex.
Auch lange nachdem wir uns aus der gegenseitigen Umklammerung gelöst haben, sprechen wir noch miteinander; scherzen, lachen. So etwas haben wir seit Ewigkeiten nicht mehr getan.
Wir reden im Flüsterton über die alten Zeiten. Darüber, wie es war, als wir uns damals auf dem Hausboot sahen. Diese bescheuerte Party von dem Typen, dessen Namen wir heute beide vergessen haben. Du in diesem roten Rock, der dir zu groß war, weil du ihn von einer Freundin geliehen hattest. Und ich total angetrunken. Darum bemüht, möglichst nüchtern zu erscheinen.
Wir sind schon ein Team gewesen, an jenem Abend. Du hast es mir gleich angetan.
"Es wird Zeit zu schlafen", hauchst du mir ins Ohr, und beinahe auf Kommando kehre ich zurück in die Traumwelt.
Aufgewacht.
Es ist kalt. Ich stehe auf und schließe das Fenster.
Habe ich nur geträumt? Du bist nicht da. Deine Kleidung ist verschwunden.
Ein erschreckender Gedanke hält mich gefangen.
Es klingelt an der Tür.
Ich brauche sie nicht zu öffnen, um zu wissen, dass zwei Polizisten vor ihr stehen; starr wie Statuen, mit traurigem Blick.
Du hättest bei dem Wetter in München bleiben sollen.