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Die Tänzerin
Endlich ist es so weit. Jahrelang habe ich auf diesen Moment hin gearbeitet.
Ich wurde an der berühmtesten Ballettakademie im Land angenommen und habe zum allerersten Mal in meinem Leben eine Hauptrolle erhalten.
Und nun ist er da, der Abend der großen Aufführung.
Doch bin ich dafür bereit? Was, wenn etwas schief läuft?
Mir ist schon ganz schlecht vor Aufregung, doch nun ist nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstzweifel.
Für diesen Moment habe ich so viele Opfer gebracht.
Ich habe meine Familie verlassen, um an die Akademie zu ziehen. Meinen Freund und all meine Freunde musste ich dabei ebenfalls zurücklassen.
Viel Kontakt habe ich mit ihnen nicht mehr, da zwischen Schule und Balletttraining kaum noch Zeit für sie bleibt.
Ich hatte zwar Freunde hier an der Akademie, doch sie sprechen nicht mehr mit mir seit ich die Hauptrolle bekommen habe, die sie auch so gerne gehabt hätten.
Doch ich habe diese Hauptrolle verdient! Niemand hat so hart trainiert wie ich.
Ich halte mich an einen strengen Ernährungsplan, probe die endlosen Choreografien und Tanztechnik-Aufgaben stundenlang außerhalb des Unterrichts und besuche nach der Schule mindestens fünf Trainingsstunden täglich an der Akademie.
Entschlossen trete ich auf die Bühne und bringe mich in Position.
Die Unsicherheit und Nervosität, die ich vorher verspürt hatte, sind nun wie verflogen, denn ich bin kurz davor alles zu bekommen, was ich mir je gewünscht habe.
Der Vorhang öffnet sich und das Publikum applaudiert. Während ich auf das Einsetzen der Musik warte und mein Blick langsam über die Gesichter der Menschen schweift wird mir etwas bewusst – ich bin ganz allein.
Ich bin allein auf dieser Bühne, allein in dieser Stadt und allein auf dieser Welt.
Für wen tanze ich? Für all diese Fremden die mich so skeptisch betrachten?
War es das Wert, für meinen Traum alles aufzugeben - alles zu verlieren?
Musste ich es wirklich bis nach ganz oben schaffen, oder wäre ich in der Mitte glücklicher gewesen?
Die ersten Töne der Musik erklingen und ich setze zu meinen Schritten an.
Die Bewegungen, die ich seit Wochen ununterbrochen wiederhole, fühlen sich mit einem Mal ungewohnt und falsch an.
Normalerweise fühle ich mich lebendig und wunderschön, wenn ich tanze, doch nicht in diesem Moment.
Um ehrlich zu sein kann ich mich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern, als ich dieses Gefühl hatte.
Nun fühle ich mich wie eine leere Hülle.
Eine leere Hülle, die sich über eine leere Bühne bewegt und in leere Gesichter starrt.