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Die tausend Tode des jungen Markus
Die tausend Tode des jungen Markus
„Lauf! Lauf so schnell du kannst!“, schrie Markus seinem Freund Alex zu. Wie aus dem Nichts war der Mann hinter ihnen aufgetaucht.
Alex hatte plötzlich große Angst. „Wer ist das?“
Doch Markus konnte diese Frage nicht beantworten. Wie sollte er seinem besten Freund erklären, dass sein Leben davon abhing, wie schnell sie nun rannten? Seine 13-jährige Karriere als Mensch würde mit einem Schlag beendet sein, wenn der Verfolger sie erreichte.
„Bleibt stehen!“, rief der Mann den Jungen nach. Er war groß und breit gebaut und schnaubte immer lauter.
Markus beschleunigte sein Tempo und das zwang auch Alex, mitzuhalten. Angst war ein hervorragender Antrieb.
Wie konnte das nur geschehen? Die beiden Burschen waren gerade auf dem Weg zur Schule gewesen. Markus hatte erzählt, wie er am Wochenende heimlich die BMX-Bahn der Erwachsenen runter gerast war. Dass das nicht stimmte, musste Alex nie erfahren, nur dass er es glaubte, war entscheidend. Und er glaubte es. Alles lief einfach wunderbar. Und dann das.
Die beiden Jungen gelangten an eine Straße. Autos schoben sich im zähen Frühverkehr über den Asphalt. Markus und Alex blieben schnaufend stehen.
„Was sollen wir jetzt nur tun? Er wird uns einholen!“, sagte Alex.
Markus überlegte. Er war immer der Führer von seinen Freunden gewesen. Jetzt durfte es nicht anders sein, sonst war seine Stellung verloren.
Er sah auf die Straße. Autos hupten. Stehen bleiben wäre die vernünftigste Idee. Stehen bleiben, bis der Mann sie eingeholt hatte. Nur nicht in den Verkehr laufen.
Doch diese Option gab es nicht.
Markus packte Alex Hand und zog ihn mit einem Ruck auf die Straße. Autos hupten und Bremsen quietschten. Alex schloss die Augen und ließ sich einfach ziehen in der vagen Hoffnung, ihm würde nichts geschehen.
Doch da rammte sie ein Auto, schleuderte sie hoch in die Lüfte und Alex konnte ganz genau sehen, wie der Asphaltboden immer näher kam.
„Komm schon, wir müssen weiter!“, sagte Markus und riss seinen Freund mit. Kein Auto hatte sie gerammt. Alex öffnete die Augen. Sie hatten Glück gehabt.
Hinter der nächsten Ecke hielten sie an, um zu verschnaufen. Ihr Verfolger war nicht so wagemutig gewesen. Sie hatten ihn abgehängt.
„Na, wie habe ich das gemacht?“, fragte Markus noch etwas außer Atem.
„Sag mir jetzt, wer das ist!“, sagte Alex und keuchte.
Doch Markus konnte es ihm nicht sagen. Er würde es nicht verstehen.
„Ist er ein Mörder?“
„Ja, so in der Art.“
Markus sah, wie Alex ängstlich - aber beeindruckt von dem Schicksal seines Freundes - langsam den Kopf schüttelte.
„Hab keine Angst!“, sagte Markus. „Ich bin ja hier, um dich zu beschützen. So etwas habe ich schon öfter überstanden.“
Dann verdunkelte sich die Sonne. Im Schatten eines Riesen blickten sich die zwei Jungen um und sahen ihren Verfolger. Er keuchte und schnaubte, sein Kopf war rot angelaufen.
Diesmal war es Alex, der zuerst loslief. Markus folgte.
„Wo wollt ihr hin?“, brüllte der Mann, aber seine Stimme wurde leiser.
„Wir müssen uns sofort verstecken!“, sagte Alex und Markus gefiel der Befehlston in der Stimme seines Freundes ganz und gar nicht. Er hätte das gleiche gesagt, doch aus dem anderen Mund gefiel ihm die Idee plötzlich nicht mehr.
„Nein“, sagte Markus und überholte Alex. „Wir müssen zur Schule. Dort sind wir sicher.“ Wie gewohnt erwiderte Alex nichts.
Mittlerweile schien es so, als hätte ihr Verfolger aufgegeben. Kein Mann lief mehr hinter ihnen her. Kein Keuchen war mehr zu hören. Sie liefen langsamer. Und schließlich gingen sie nur noch.
„Das war knapp“, sagte Markus und versuchte, seinem Freund alle Fragen zu beantworten: „Ich kann dir leider nicht sagen, wer das war. Aber es wäre furchtbar gewesen, wenn er uns erwischt hätte.“
„Hätte er uns umgebracht?“
„Mich auf jeden Fall.“
Alex schüttelte sich und schließlich betraten sie das Schulgebäude.
Sie waren zu spät. Im Gang befanden sich keine Leute mehr. Die Türen waren geschlossen. Sie bahnten sich ihren Weg zu ihrem Klassenzimmer und öffneten die Tür.
Sie waren schon oft zu spät gekommen und wussten, was sie erwartete: Ein scharfer Blick des Lehrers, lächelnde Münder der Klassenkameraden. Es war heldenhaft, nicht immer pünktlich zu sein. Und Markus war stolz darauf.
Doch an diesem Tag ereigneten sich die Dinge nicht wie gewöhnlich. Zwar waren alle Blicke auf sie gerichtet, doch diesmal lächelte auch der Mund des Klassenlehrers.
„Markus. Alex. Wir haben euch erwartet.“
Alex sah sich erstaunt um und dann lief ihm das Blut aus sämtlichen Gliedern seines Körpers. In der letzten Reihe, auf Markus Platz, lehnte ihr Verfolger, ihr Peiniger, der Markus ermorden wollte.
Warum hilft uns keiner, fragte sich Alex und dann kam die prompte Antwort: der Verfolger war infiziert, so wie in dem Computerspiel und hatte alle mit der teuflischen Krankheit angesteckt. Sie würden sich nun auf sie stürzen und bei lebendigem Leibe fressen.
Der Mann erhob sich und ging auf die Kinder zu. Alex verkroch sich hinter seinem Freund. Er war noch zu jung zum Sterben.
Markus war hingegen kein solcher Feigling. Er stellte sich nun seinem Fluch, wartete auf seine Hinrichtung.
Langsam holte der Mann einen Gegenstand hervor, der Markus Schicksal besiegeln würde. Hätte er nur vor Jahren erkannt, welchen Kometenschweif sein Handeln in die Zukunft ziehen würde, hätte er sein Leben anders gelebt.
Markus schloss die Augen, als ihm der Mann den weichen Gegenstand an die Brust drückte. Er griff danach.
„Den hast du vergessen. Er soll dir bei der Schularbeit Glück bringen.“ Der Plüschhase in seinen Händen brannte wie Feuer. Markus Existenz schien zu wanken und brach schließlich, als er das Kichern der Klassenkollegen hörte.
Der Mann, den sich das Schicksal so hart als seinen Vater ausgesucht hatte, küsste ihn und verließ das Klassenzimmer.
Markus hörte den Spott.
Er hörte das Lachen.
Markus starb tausend Tode.