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Die Umarmung
Unentschlossen lehnte sie an der Küchentür, die schon ziemlich abgenutzten Trekkingschuhe in der Hand.
"Jetzt geh schon", sagte ihr Mann.
"Aber ich kann euch doch nicht alleine lassen, ihr seid krank."
"Wir sind erkältet und nicht schwerkrank. Ich mach das schon, keine Sorge. Dir würde die frische Luft wieder mal gut tun."
"Aber..."
"Kein Aber." Ihr Mann stand nun vor ihr und strich ihr liebevoll über die Wange. "Und wenn du jetzt endlich deinen Hintern zur Tür hinausschwingen würdest, dann wärst du auch wieder pünktlich zurück, um uns ein leckeres Mittagessen zu zaubern." Sanft schubste er sie zur Tür hinaus, bevor er einen Hustenanfall über sich ergehen lassen musste. "Ich sag es dir, du schaffst es noch, dich anzustecken, wenn du weiterhin so stur bleibst."
Sie musste schmunzeln.
"Na gut, dann bin ich mal weg."
Noch bevor er sich abwenden konnte, drückte sie ihm einen Kuss auf den Mund.
"Tschüss, Kinder!", rief sie ihren beiden in den Fernseher starrenden Söhnen zu, während sie sich die Schuhe
zuband. Ein gemurmeltes Tschüss war die einzige Reaktion. Wie es schien, kam ihre Familie wirklich zwei Stunden ohne sie zurecht. Ein dreistimmiger Hustenchor ließ sie schnell das Weite suchen.
Tief atmete sie die laue Luft an diesem wolkenverhangenen Oktobervormittag ein. Der Tag sollte eigentlich mit einer kleinen Familienwanderung starten. Alle hatten sich darauf gefreut, gemeinsam etwas zu unternehmen, es war eine willkommene Abwechslung zum Alltag.
Ihre Motivation war nun durch die fehlende Begleitung etwas gedämpft, sie war nicht gerne alleine unterwegs, aber sobald sie die ersten Schritte hinter sich gebracht hatte und die wunderschöne, unberührte Natur bewusst wahrnahm, wurde ihr wieder klar, warum es sich hier jederzeit lohnte, die Zeit im Freien zu genießen. Die freie Natur hatte es ihr schon immer angetan und war ihr auf eine seltsame Art und Weise vertraut.
Ihre Wanderroute führte sie zuerst einen breiteren Weg entlang, der ausschließlich für Holztransporte bestimmt war, dieser mündete aber bald in einen selten begangenen Waldsteig, der steil den Berg hinauf führte.
Nach einer halben Stunde Gehzeit sah sie von weitem jemanden entgegenkommen. Es war die erste Person, die ihr heute begegnen würde und trotzdem war sie verwundert, hier überhaupt wen anzutreffen. Den Kopf zu Boden gesenkt, um über keine Steine oder Wurzeln zu stolpern, die den Waldweg säumten, setzte sie ihren Weg fort und hob kurz darauf wieder den Kopf, um nachzusehen, wie weit entfernt sie von der Person noch war. Ihr Blick streifte das Gesicht des Gegenübers, nun nah genug, um zu erkennen, dass es ein Mann war. Ein Mann, der ihr sehr bekannt vorkam.
Ohne es zu wollen, zogen Bilder an ihr vorbei. Lust, Leidenschaft, heftiges Verlangen, zwei gierige Körper die sich aneinander festhalten wie zwei Ertrinkende. Nein, das konnte nicht er sein. Sie musste sich geirrt haben. Den Kopf wieder starr zu Boden gerichtet, ging sie weiter, ihr Puls schnellte in die Höhe, aber sie wusste, es war nicht der Anstrengung wegen. Ihr Gegenüber war nun schon unmittelbar vor ihr, sie konnte es hören und nahm es kurz darauf aus dem Augenwinkel wahr. Es war unvermeidbar, sie würde nun den Kopf heben müssen. Sie würde gleich Gewissheit haben, sich hoffentlich wirklich geirrt zu haben und vor ihr einen unbekannten Mann erblicken. Sie hob den Kopf und schlagartig stockte ihr der Atem.
In Sekundenbruchteilen zog eine Episode ihres Lebens an ihrem inneren Auge vorbei. So muss es sein, kurz bevor man stirbt. Aber sie starb ja gerade nicht, oder doch? Ihr Herzschlag schien sich dessen nicht so sicher zu sein, denn unruhig und heftig spürte sie ihn in ihrer Brust. Vor ihr stand er. ER. Tom. Ihre Affäre von damals. Eine Affäre, die, wie der Name schon sagt, nicht hätte sein dürfen. Eine Affäre, die innerhalb von Minuten wie aus dem Nichts entstanden war, nur weil sie sich zuvor etwas länger als erlaubt in die Augen geblickt hatten. Eine Affäre, deren Intensität sie nie mehr danach in ihrem Leben erfahren sollte.
Die Erinnerungen der Vergangenheit hatten sie eingeholt. Sie war wieder jung. Anfang 20, ungebunden und immer unterwegs. Eine kalte Winternacht. Mit Freunden in ihrem Stammlokal.
Sie standen plaudernd an der Bartheke, als sie gegenüber einen Mann entdeckte, der ihr hier zuvor noch nie aufgefallen war. Dunkles Haar und ein lautes, männliches Lachen, als er sich über das Gesagte seines Gegenübers amüsierte, waren das Erste, das ihr auffiel. Als ob er ihren Blick gespürt hätte, sah er sie auf einmal an. Dunkle, ausdrucksstarke Augen musterten sie und ließen ihr sogar auf die Entfernung einen Schauer über den Rücken jagen. Anfangs wandte sie den Blick noch ab. Bald aber fand sie Gefallen an dem Spiel, das er mit ihr spielte. Er starrte sie so offensichtlich unverhohlen an, dass sie glaubte, es müsse schon das ganze Lokal darauf aufmerksam geworden sein. Sie starrte zurück, fand es reizvoll, welches Kribbeln dieses alleinige Anstarren in ihrem Körper hervorrief.
"Was schaut denn dieser alte Sack so aufdringlich herüber?", hörte sie ihre Freundin sagen.
Sie grinste. Er musste sicher 15 oder 20 Jahre älter sein. Wahrscheinlich verheiratet. Eigentlich hätte sie das abschrecken sollen, aber sie hielt ihn weiterhin mit ihrem Blick fest.
"Jetzt kommt der auch noch rüber. Ich bin dann mal weg." Ihre Freundin stöhnte auf und wandte sich schnell ab.
Plötzlich stand er vor ihr.
"Hallo." Er lächelte sie an. Von ganz nah schienen seine Augen sie regelrecht durchdringen zu wollen.
"Hallo!"
"Tom." Er streckte ihr die Hand entgegen.
"Anna", sagte sie, während sie ihm die warme Hand schüttelte.
Die wenige Distanz, die zwischen ihnen noch bestanden hatte, schien mit diesem Händeschütteln endgültig gebrochen. Die nächsten Stunden unterhielt sie sich so gut, wie schon lange nicht mehr. Über lokale Politik. Arbeit. Leute, die sie beide kannten. Über seine Frau. Das Wetter. Seine 4 Kinder. Das aktuelle Kinoprogramm. Über banale Themen, die vermutlich nur deshalb so interessant waren, weil sie mit ihm darüber sprach. Mit ihm, der so unübersehbar mit ihr flirtete.
Irgendwann wurden die Pausen zwischen ihren Gesprächen länger. Nicht, weil ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen war, sondern weil sich etwas an der Stimmung geändert hatte. Das Gespräch war nicht mehr ungezwungen. Es hatte eine Form angenommen, in der auf einmal jeder Satz mit Bedacht gewählt wurde, als würde ein falsches Wort plötzlich etwas kaputt machen, das noch gar nicht zu benennen war. Das Kribbeln, welches sie zuvor bei seinem Anblick noch verspürt hatte, war mittlerweile zu einem eigenartigen Verlangen angewachsen, das sie selber nicht in Worte fassen konnte. Warum übte ausgerechnet dieser Mann so eine Faszination auf sie aus? War es, weil sich dieser viel reifere Mann, der sie mit seinen Blicken regelrecht auszuziehen schien, für sie interessierte und sie sich dabei groß und stark fühlte? War es der Reiz des Verbotenen? Oder lag es nur am Alkohol? Vielleicht war es ein Zusammenspiel von allem, sie wusste es nicht. Aber sie hatte ihren Entschluss gefasst. Sie wollte mehr.
"Bitte sieh mich nicht so an, das macht mich verrückt", flehte er plötzlich in eine Stille hinein, die in der musikgeschwängerten Bar nur für sie beide existiert hatte. Er, der doch damit angefangen hatte. Innerlich triumphierte sie.
"Ich schaue ganz normal", erwiderte sie, wohlwissend, dass dem ganz und gar nicht so war. Ihr Blick sprach in dem Moment mehr als tausend Worte. Es lag das pure Verlangen darin. Das Verlangen nach diesem Mann, einem verheirateten und eigentlich für sie viel zu alten Familienvater.
Die Sekunden verstrichen langsam, ihre Augen ruhten auf den seinen, sie forderte ihn heraus, provozierte ihn regelrecht. Wartete auf seine nächsten Worte.
"Ich will heute zumindest noch eine Umarmung von dir", sagte er schließlich.
Noch war es nicht zu spät, noch war ein Rückzieher erlaubt. Aber ihre Entscheidung war längst gefallen. Und seine auch. Dieses kleine, in jeder anderen Situation so belanglose Wort hatte alles gesagt: zumindest.
"Du weißt genau, dass es nicht dabei bleiben wird", hörte sie sich sagen.
Der Weg dauerte zehn Minuten. Zehn Minuten, in denen so gut wie nichts gesprochen wurde. Nur, wohin sie gehen sollten. Danach hörten sie nur noch den kalten Schnee unter ihren immer schneller werdenden Schritten knirschen. Im schwachen Schein der Straßenlaternen sahen sie ihrem Atem zu, der kleine Nebelschwaden in der kalten Luft hinterließ. Die Hände hatten beide tief in die Taschen gesteckt, jede Berührung vermeidend, obwohl dieses zwanghafte Nichtberühren sie fast um den Verstand brachte. Noch war die Gefahr zu groß, gesehen zu werden.
Bald gab es keine künstliche Beleuchtung mehr, die weiß reflektierende Schneedecke war die einzige Lichtquelle, die ihnen den Weg wies. Hinter einem unbewohnten Haus machten sie Halt. Sie standen sich gegenüber, zögerten kurz, als würden sie nun plötzlich auf etwas warten, obwohl doch alles schon abgesprochen war.
"Komm", sagte er und sie ließ sich endlich in seine Arme fallen. Sie verharrten in dieser Umarmung, fest aneinandergepresst. Sie spürte seine Lippen an ihrem Hals, am Ohr, an der Stirn und schließlich auf dem Mund. Gierig erwiderte sie seinen Kuss. Ewig schien dieser anzudauern, bevor die Triebe endgültig siegten und sie sich hastig des Nötigsten entledigten. Der eiskalte Schnee, den sie wenig später an ihrem nackten Unterkörper spürte, ließ sie in dieser Nacht nicht frieren.
Am Anfang war es für sie nur ein Spiel. Wenn sie in der Bar, wo alles begonnen hatte, auf ihn traf - und das tat sie für einen verheirateten Mann oft - dann fanden sie immer einen Weg, ihrer Leidenschaft freien Lauf zu lassen. Sie genoss dieses Machtspiel. Es gab ihrem Selbstbewusstsein einen gewaltigen Auftrieb, wenn sie es jedes Mal wieder schaffte, diesen Mann alleine nur mit ihren Blicken zu verführen. Und es war ihr andererseits egal, wenn sie dann wieder tagelang nichts von ihm hörte. Sie war nicht abhängig, sondern fühlte sich einfach nur so frei wie noch nie.
Nachdem sie sich schon einige Monate trafen, die Plätze im Schnee hatte die Natur mittlerweile in saftige, weiche Wiesen verwandelt, stand er eines Abends wieder an der Bar. Sie ging auf ihn zu, mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht und er brachte ihr nur ein gequältes Lächeln entgegen.
"Was ist...?" Noch bevor sie die Frage zu Ende gestellt hatte, brach es aus ihm hervor:
"Du musst das beenden. Sei wenigstens du so intelligent und hau ab. Geh einfach. Ich kann es nicht." Er holte tief Luft. "Bitte!", flehte er.
"Und warum sollte ich das tun?"
"Sieh mich an", sagte er leise, sodass es in der lauten Bar kaum zu hören war.
Sein Gesicht spiegelte die pure Verzweiflung wider. Die Schuldgefühle seiner Familie gegenüber waren ihm daraus deutlich abzulesen. Sie glaubte, sogar feuchte Augen zu erkennen. Sofort wandte sie ihr Gesicht ab. Sie hasste es, wenn er so schwach war. Er war doch ihr starker Liebhaber, der wusste was er wollte und sich einfach nahm, was er brauchte. Dessen Fingernägel Spuren auf ihrem Rücken hinterließen, während er sie ein geiles Luder nannte. Wie konnte er da, verdammt nochmal, so schwach sein? Er durfte schwach werden, aber doch nicht schwach sein.
In dieser Nacht verließ sie wütend das Lokal. Alleine.
Die Wochen verstrichen. Sie hörte kein Lebenszeichen von ihm und von sich aus hatte sie sich ohnehin noch nie bei ihm gemeldet. Sie brauchte ihn eigentlich gar nicht. Er war nur ein netter Zeitvertreib. Eine Anlaufstelle, wo sie ihre Urtriebe ausleben konnte. Ihr Leben wäre ohne ihn nicht anders, sie trafen sich ja doch nur heimlich. Er war ersetzbar. Redete sie sich ein. Die Erleichterung, die sich ihr aufdrängte, als er sich nach langer Zeit doch wieder meldete, wollte sie nicht wahrhaben. Auch nicht die Anspannung, die sich in ihr aufgebaut hatte, als er wieder vor ihr stand und sie erst nach Minuten des Wartens mit einem "Komm" davon erlöste, das sie in seine Arme stürzen ließ.
Es war wieder so wie vorher. Sie genoss die wenige Zeit, die sie zusammen verbrachten. Die Augenblicke, in denen sie sich wieder groß und stark fühlte. Er rief sie mittlerweile fast täglich an. Wenn sie nichts von ihm hörte, war es ihr egal. Dass ihr Herz jedes Mal höher schlug, wenn sein Name auf dem Display erschien, schrieb sie dem Adrenalin zu, das dem Reiz des Verbotenen entsprang. Eines Tages meinte er am Ende eines Gespräches, er müsse ihr etwas sagen, beim nächsten Treffen. Bei diesen Worten breitete sich ein ungutes Gefühl in ihr aus.
Als sie in seinem Auto übereinander herfielen, dachte sie im ersten Moment nicht mehr daran.
"Du wolltest mir noch etwas sagen", fiel ihr ein, als sie sich danach ihre Kleidung, so weit es auf der engen Rückbank möglich war, überstreifte. Versuchte, so locker wie möglich zu klingen. Er schwieg.
"Ist es etwas Schlechtes?", drängte sie nach. Er sah sie sekundenlang an, bevor er antwortete.
"Sagen wir es so: Es würde die Sache nicht einfacher machen."
Ihr Herz schlug plötzlich bis zum Hals. Nein, nicht dieser Satz. Es war ihr noch nie bewusst geworden, aber sie wollte diese Worte, die jetzt kommen würden, von ihm nicht hören. Als ob es etwas ändern könnte, wenn sie ungesagt blieben, erwiderte sie schnell:
"Dann will ich es lieber nicht hören." Er sagte nichts mehr. Sie tat, als hätte sie den Schmerz in seinen Augen nicht gesehen und verließ das Auto.
Seine unausgesprochenen Worte hämmerten in ihrem Kopf, ließen sie wach liegen. Immer und immer wieder: "Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe..." Sie mochte es zwar nie bestätigt bekommen, aber sie war sich sicher, dass es das war, was er ihr sagen wollte. Es war doch so klar. Die täglichen Anrufe, die Risiken, die er ihretwegen eingegangen war. Das alles hatte nichts mehr mit Sex zu tun. Warum hatte sie das nicht früher gesehen? Aber wie konnte er, ein Mann, der doch um so vieles reifer und lebenserfahrener war als sie, sich in so etwas verrennen? Er wusste doch gar nicht, wie sie wirklich war. Wie sie lebte und dachte. Was sie in ihrem Leben noch alles vor hatte. Wie konnte er da an Liebe denken?
Er meldete sich nicht mehr. Sie traf ihn auch nicht mehr Samstagabend in ihrem Lokal. Ihr Lokal, so hatten sie es mittlerweile schon bezeichnet. Es war, als wäre er zum selben Schluss gekommen wie sie.
Hatte sie vorher immer geglaubt, sie würde ohne ihn auskommen, so ertappte sie sich jetzt häufig dabei, wie sie an ihn dachte. Griff manchmal zum Telefon, strich mit dem Finger über seinen Namen und drückte schlussendlich auf die Anruftaste, nur um dann gleich wieder aufzulegen. Was sollte sie ihm sagen? Sie wusste ja selber nicht, was in ihr vorging. Es hatte doch keinen Sinn. Für sie, die noch ihr ganzes Leben vor ihr hatte, gab es sicher eine andere Bestimmung, als auf ewig ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann zu haben.
Einmal noch sah sie Tom in ihrem Lokal. Sie war mit ihrem Freund unterwegs. Hatte es geschafft, eine Lebensbestimmung zu finden und sich dieser zu fügen. Sie stand an der Bar, genau dort, wo Tom sie damals mit seinen Augen in den Bann gezogen hatte.
Er entdeckte sie zuerst. Musste den vertrauten Umgang zwischen ihr und ihrem Gegenüber bemerkt haben, denn als sie ihn sah, war er gerade dabei, hastig sein Getränk zu leeren und nach draußen zu verschwinden, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Jahre später tauchte Tom wieder in ihren Gedanken auf. Nicht beherrschend, aber in Situationen, in denen er eigentlich nicht dort sein sollte. Während eines Streits mit ihrem Mann dachte sie an die Blödeleien mit Tom, die aber niemals in Boshaftigkeit ausgeartet waren. Wenn die Kinder an ihren Nerven zehrten, dachte sie an seine ruhige und in den richtigen Momenten doch wieder stürmische Art, die sie aber nie zur Verzweiflung gebracht hatte. Beim Sex schloss sie die Augen und stellte sich vor, es wäre Tom, der sie gerade nahm. Manchmal musste sie sich auf die Lippen beißen, um nicht seinen Namen zu schreien. Er war weit weg und doch irgendwie da.
Nun, nach so langer Zeit, stand er tatsächlich vor ihr. Alleine. Hektisch war ihr Blick zuvor schon umhergewandert, auf der Suche nach seiner Begleitung. Es existierte keine. Der Moment war gekommen, nach mehr als zehn Jahren würde sie ihm wieder in die Augen sehen. Würde erfahren, ob es darin noch immer das zu sehen gab, was sie damals verrückt werden ließ. Sie wusste es, als sich warmes Verlangen in ihr ausbreitete. Nichts hatte sich geändert.
Erwartend blickte er sie an und sagte: "Komm." Nur dieses Wort. Wie damals.
Es war ihr, als hätten sie sich gestern erst getroffen. Sie haderte kurz, doch tief in ihrem Inneren wusste sie es schon. Sie wollte sie. Nur diese eine Umarmung. Es wäre kein Fremdgehen, kein Kuss, kein Erforschen des anderes Körpers, kein Sex. Nur eine Umarmung. Nicht mehr. Sie zögerte dennoch kurz, bevor sie sich schlussendlich in seine Arme fallen ließ. Sie spürte die Wärme seines Körpers und drückte sich so fest es ging an seine Brust. Ihre Hände ruhten auf seinen Schulterblättern, übten Druck aus, um dieser Umarmung nicht gleich wieder zu entgleiten. Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Kopf, durch ihre Haare hindurch. Sein Herz schlug kräftig und schnell an ihrer Brust. Oder war es ihr eigenes, das sie so intensiv spürte? Niemand von beiden sagte auch nur ein Wort. Sie hielten sich einfach fest. Minutenlang. Er vergrub seine Nase in ihrem Haar, wodurch sie seinen Atem noch intensiver spürte. Er wagte es nicht, ihren Kopf mit seinen Lippen zu berühren. Das waren die unausgesprochenen Regeln zwischen ihnen. Ihre Härchen am gesamten Körper richteten sich auf und eine unglaubliche Wärme machte sich in ihr breit. Sie konnte es nicht mehr leugnen, sie wollte mehr. Sie dachte an den wilden, ungestümen und lauten Sex von damals, an ihr scheinbar unstillbares Verlangen nacheinander, welches sich nun wieder nach oben drängte.
Und doch hatte sie das Gefühl, dass diese Umarmung mehr in ihr auslöste, als es jede andere Berührung der Welt je getan hätte. Sie wünschte sich, diese Umarmung würde nie mehr enden.
Als sie sich gefühlte Stunden später schließlich aus der Umarmung lösten und sich tief in die Augen blickten, konnten darin beide dasselbe ablesen. Entweder sie müssten sofort aufhören und getrennte Wege gehen, oder sie würden sich vergessen und dem Verlangen nachgeben. Erneut, nach so langer Zeit. Es war nur noch ein kleiner Schritt, eine kleine Geste, ein kurzes geflüstertes oder auch nur von den Lippen ablesbares Wort hätte gereicht und sie könnten die vergangenen zehn Jahre aus ihrem Gedächtnis verbannen und dort weitermachen, wo sie damals aufgehört hatten. Zwanzig Schritte in den Wald hinein und niemand würde sie sehen, es würde nur noch sie beide geben. Wie früher. Sie standen sich gegenüber und blickten sich noch immer wie gebannt an. Mit den Händen hielten sie sich an den Armen des anderen fest. Langsam, ganz langsam streiften ihre Hände an den Armen entlang nach vorne. Die Berührung hinterließ ein Kribbeln auf ihrer Haut. Schließlich hielten sie sich nur noch an den Händen. Wärme durchflutete sie. Langsam löste sich die eine Hand und so hielten sie sich nur noch an der anderen. An einer Hand, die durch eine klitzekleine Bewegung den anderen mit sich ziehen hätte können.
Seine Finger streiften nun die Innenseite ihrer Handfläche. Ihre taten dasselbe, bis sie schließlich beide an den Fingerspitzen angelangt waren. Ein letztes Gefühl von unendlichem Verlangen durchströmte sie, bevor ihre Hand keinen Widerstand mehr spürte und das Gefühl der Wärme und des Prickelns auf ihren Fingerspitzen verflog. Kurz noch standen sie sich gegenüber, blickten sich an, bis sie ihren Blick senkte, sich wortlos abwandte und ihren Weg bergwärts fortsetzte.
Es war ein Abschied. Ein Abschied, der zuvor nie stattgefunden hatte, den damals niemand wollte, in Erwartung dessen, was noch alles kommen könnte. Nun war die Zeit gekommen. Diese Umarmung war der Abschied. Der Abschied für immer.
Kurze Zeit später kam sie auf ihrem Rückweg zu der Stelle zurück, wo sie sich umarmt hatten. Nichts deutete mehr auf die Begegnung hin, nur das feuchte Gras war an einer Stelle niedergetreten. Sie hockte sich hin und ließ ein Stück Natur in Form des braun verfärbten Grases durch ihre Finger gleiten. Wusste endlich, warum sie sich der Natur so verbunden fühlte.
Und da gestand sie sich endlich ein, dass sie ihn auf eine eigene Art und Weise schon all die Jahre liebte. Seit sie das erste Mal in seine dunklen Augen geblickt hatte. Sie liebte ihn nicht so, wie sie ihren Mann liebte. Den sie lieben gelernt hatte, weil er ihr und den gemeinsamen Kindern Sicherheit und Geborgenheit bieten konnte. Weil er einfach immer für sie da sein konnte. Weil das alle für normal und gut hielten.
Ihre Liebe zu Tom war anders. Nicht offensichtlich. Nur heimlich, in Gedanken. Sie hatte ihn endgültig abgewiesen, weil das so bleiben sollte. Aus dem einfachen Grund, weil die schönen Momente, die kurzen Erlebnisse höchsten Glücks das für immer bleiben würden, wenn sie in ihren Gedanken konserviert waren. Weil diese kostbaren Momente dort nie dem Alltag ausgesetzt wären, der all das hätte zerstören können.