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Die verlorene Stimme
Es geschah im Sommer. Ein Sommer so unerträglich heiß.
Luft und Zeit schienen vereinbart zu haben still zu stehen. Er fror, obwohl kein Windhauch den trockenen Sand aufwirbelte.
Er zitterte am ganzen Leib und die Kälte schien sich um und in ihm auszubreiten.
Er hörte die Schreie. Die Welt um ihn herum schien den Atem anzuhalten, überwältigt von der Gewalt und der anscheinenden Gefühllosigkeit, die von den Menschen dort ausging.
Er musste mit ansehen, wie sich all die, die er so liebte, scheinbar von Dämonen besessen, um seine Schwester junge Mädchen scharten, sangen und schrieen. Und nie würde er den Blick vergessen, den sie ihm zugeworfen hatte, bevor ihre Mutter ihren Kopf festhielt. Er hatte nicht genau gesehen, was geschehen war, doch er hatte die unendliche Angst seiner Schwester gespürt. Er wusste, dass alle jungen Mädchen das durchmachten, doch als er das Ritual nun heimlich beobachtete, war er sich gar nicht mehr sicher, ob das alls so gut sein konnte für seine kleine Schwester.
Tränen rannen über ihre schwarzen Wangen, die auf einmal so bleich wirkten.
Dieses Bild hatte sich tief in seine Seele gebrannt.
Er wollte schreien, weinen, rufen, doch kein Laut drang aus seiner Kehle. Er saß einfach da, unfähig sich zu rühren, sogar unfähig wegzusehen, die Augen zu schließen.
Und auch sie hielt die Augen offen. Flehend suchte sie den Blick der Mutter, diese jedoch starrte scheinbar anteilnahmslos ins Leere. Auch die Frau, die ihr solche Schmerzen zufügte, die sie berührte an der Stelle ihres Körpers, die sie zu berühren sich selbst nicht gewagt hätte, schaute sie nicht an. Sie wusste nicht was ihr geschah, doch sie wusste wohl, dass es nicht unrecht war.
Sie kam sich schmutzig vor, wie sie so da lag, mager und schwarz, nackt auf dem lehmigen Boden.
Ihre salzigen Tränen glitzerten im Licht der Sonne und sobald sie auf dem Boden auftrafen, gingen sie schon in Rauch auf, als wollten sie möglichst schnell fliehen vor dieser Welt.
Alles, was sie nun noch um sich herum wahrnahm, war ein Brei aus Stimmen und Geräuschen und die Angst, in ihren eigenen Tränen zu ertrinken, die ihren Geist beherrschte.
Von nun an sollte nichts mehr sein, wie es gewesen war, alles hatte sich verändert.
Er hatte sich verändert.
Die anderen Dorfbewohner mieden ihn, er lebte alleine am Rande des Dorfes,
Er sei von Dämonen besessen, der böse Geist habe ihm Seele und Stimme geraubt, erzählte man sich.
Der einzige Mensch, der ihm geblieben war, war seine Schwester. Sie versorgte ihn mit Nahrung und leistete ihm Gesellschaft in den vielen einsamen Stunden.
Er aß und schlief kaum mehr, wurde des Nachts immer wieder gepeinigt und heimgesucht von Alpträumen, von den immer wiederkehrenden Bildern dieses einen Tages. In seinen Träumen schrie er und er erwachte von seinem Schreien, doch kein Laut durchbrach die Stille der Nacht.
Eines Nachts erwachte er wieder schweißgebadet. Sein Atem ging schnell und flach, Tränen liefen ihm über sein Gesicht und kalter Schweiß über seinen Rücken.
Der Regen war gekommen. Große Tropfen schlugen auf das Strohdach und die Wände seiner Lehmhütte waren schon feucht.
Fröstelnd kauerte er sich auf seiner dünnen Bastmatte zusammen, versuchte die Erinnerungen, die in seinem Kopf umhergeisterten zu verscheuchen.
Er wollte schlafen. Schlafen ohne zu träumen. Einen tiefen, traumlosen Schlaf wünschte er sich. Doch diese Erlösung schien ihm nicht gegönnt.
Immer wieder träumte er. Und so saß er nun da, konzentrierte sich auf das Geräusch des Regens, vor lauter Angst einzuschlafen.
Erst als es schon zu dämmern begann, schlief er ein.
Doch es war ein Schlaf, der es gerade schaffte, seinem Körper die nötige Kraft zum weiterleben zu geben. Sein Geist und seine Seele jedoch ruhten nicht und alles was ihm den Willen zu Leben gab, war der flehende Blick seiner Schwester, der ihn Tag für Tag bat, nicht zu gehen.
Sie war so jung gewesen, als seine Mutter und seine ganze Familie diese Gräueltat begangen hatten, sie konnte sich nicht mehr erinnern. Und das war ihr einziges Glück. Nur ganz tief in ihrem Herzen, da war etwas zerstört, etwas zerbrochen, etwas, was ihr nie erlauben würde zu vertrauen, oder zu lieben.
Als er an diesem Morgen erwachte, spürte er, dass etwas geschehen war. In ihm verkrampfte sich etwas. Er blickte durch sein kleines Fenster in die kalte, graue Welt. Der Regen schien sie in langen Fäden zu verhüllen.
Er redete sich ein, er habe nur wieder eine dieser unbegründeten Ängste, es könne ihr etwas geschehen, doch er wusste, dass dem nicht so war.
Der Abend nahte schon fast, und seine Angst war ins Unerträgliche gestiegen. Sie war nicht gekommen, nicht zum Frühstück, nicht zum Mittag.
Und so wagte er sich in das Dorf. Gesenkten Hauptes lief er den schmalen Pfad zu ihrem Haus entlang. Er spürte die verachtenden Blicke auf sich, doch er widerstand der Versuchung umzukehren, in seine kleine Welt.
Dann stand sie vor ihm. Seine Mutter. Fünf Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen und er hätte sie nie wieder sehen wollen. Doch bei ihrem Anblick überkamen ihn einem Moment lang Heimweh und Wehmut, den Hauch eines Augenblicks lang wollte er sie in den Arm nehmen, doch dann erwachte wieder die Erinnerung und der Hass und er würdigte sie keinen Blickes mehr.
Er schritt ohne zu fragen in die Hütte und sie ließ es geschehen.
Seine Schwester wirkte noch kleiner und gebrechlicher als sonst. Auf ihrem Gesicht schimmerte ein dünner Schweißfilm, und ihre Augen wirkten seltsam glasig. Als sie ihn kommen hörte, blickte sie zu ihm herüber und lächelte mühsam.
Er setzte sich zu ihr, hielt ihre Hand, streichelte sie. Wünschte sich, er könne zu ihr sprechen, sie trösten, doch so sehr er es auch wollte, er schien seine Stimme verloren zu haben.
So saßen sie lange und schwiegen. Ab und zu stöhnte sie ein wenig, er spürte wie sehr sie litt.
Immer wieder hustete sie stark und bellend.
Drei Wochen zogen sich so hin. Ihr Zustand verschlechterte sich, ihr Husten wurde immer schlimmer, das Fieber stieg immer wieder an, und vor lauter Halsschmerzen brachte sie kaum einen Bissen herunter.
Jeden Tag saß er bei ihr. Spendete ihr Trost und Liebe durch seine Anwesenheit.
So auch heute.
In die Stille hinein fragte sie mit zittriger Stimme: „Was ist damals geschehen? warum sprichst du nicht? Ich muss wissen was passiert ist!“
Wie sehr hatte er sich vor diesem Augenblick gefürchtet. Konnte er sie anlügen und ihr erzählen er habe einen Unfall oder eine Krankheit gehabt? Konnte er das? Konnte er ihr in die Augen sehen und sie belügen? Sie, die alles war, was er hatte?
In ihrer gemeinsamen Zeichensprache erklärte er ihr, er sei erkrankt und habe seine Stimme so verloren, und er sah ihr in die Augen und er konnte lügen, doch es zerriss ihm das Herz, als er bemerkte, sie wusste, dass er log.
Doch sie nahm es ihm nicht übel. Vielleicht spürte sie auch, dass es zu ihrem Besten war, nichts zu wissen.
Noch am selben Tag starb sie. Sie schlief ein und erwachte nicht mehr. Er hatte ihre Hand gehalten, solange bis er spürte, dass kein Leben mehr in ihr war. Und dann, als er wahrnahm, dass sie nicht mehr erwachen würde, schrie er. Und sein Schreien war so laut, dass er selber erschrak. Doch er schrie weiter. Er weinte und stöhnte. All das Leid brach aus ihm heraus.
Er weinte so sehr, dass er fürchtete in seinen Tränen zu ertrinken. Dann brach er zusammen, Sein ausgehungerter Körper fiel auf den ihren. Und so blieb er liegen. Er schluchzte und wimmerte noch lange. Und er war zu ausgehungert, die Anstrengung noch weiter zu ertragen. Er schlief ein. Schlief tief und traumlos.