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Die weiße Frau

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17.10.2004
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Die weiße Frau

Hätte die alte Frau nur eine halbe Stunde weit in die Zukunft blicken können, wäre sie wahrscheinlich liegen geblieben. Doch weder war sie eine Hellseherin, noch hatte sie Lust, den Rest des Abends in ihrem muffigen Zimmer des St.Marien Altenheims zu verbringen.
Natürlich verstieß es gegen die Hausordnung, wenn ein Heimbewohner nach 21 Uhr das dreistöckige Gebäude verließ, doch das war ihr egal. Sie wollte ihre letzten Lebensjahre nicht wie ein Gefangener verbringen. Also stieg sie aus ihrem Bett, hielt sich kurz an der Kante fest, um den Puls zu beruhigen – sie war mit ihren 87 Jahren nicht mehr so fit, wie sie es sich gern wünschte - und ging zur großen Schrankwand, wo sie wie jeden Abend ihre Schuhe vorgestellt hatte.
Sie kannte jeden Winkel ihres kleinen Zimmers. Wenn man auf einer Fläche der Größe einer Gartenlaube wohnt, ist das auch kein Problem; auch nicht für einen alten Menschen. Vor allem, wenn man sich neben dem einmal wöchentlich stattfindenden Unterhaltungsnachmittag im Seniorencafe und den Spaziergängen in dem gepflegten Park nur an diesem Ort aufhielt.
Es war ein Schock für sie gewesen, als sie hier einziehen musste. Nachdem sie über 50 Jahre mit ihrem Mann in einer großen Villa am Stadtrand gewohnt hatte (und mit ihm durch die ganze Welt gereist war), kam ihr dieses Zimmer wie ein Käfig vor. Ein Käfig mit Ausgangszeiten, die ständig kontrolliert wurden. Sie dachte oft an den Hühnerstall, den ihre Eltern damals hatten. Und je länger sie in dem Heim wohnte, desto häufiger erwischte sie sich dabei, dass sie sich mit Hühnern verglich. Es waren eingesperrte, dumme Tiere, die gefüttert werden mussten. Manchmal glaubte sie sogar, dass einige der Pflegerinnen (allen voran Schwester Martha) das genauso sahen. Sie bevormundeten sie und die meisten der anderen Heimbewohner, als ob sie wirklich nur Hühner wären, die aus Profitgier (am Leben) gehalten wurden.
Genau das wollte sie nicht mehr länger ertragen. Sie war zwar alt, aber trotzdem ein Mensch. Und an diesem Abend sogar ein Mensch mit einem großen Wunsch...

*

Dichter Oktobernebel zwang Paul, langsam über die Landstraße nach Hause zu fahren. Aber das störte ihn nicht; weder hatte er es eilig, noch bereitete ihm die Strecke zwischen Westenheide und Försterhausen große Probleme. Er kannte sie genauso auswendig wie die Partitur des Stückes, das er vor einer guten Stunde mit dem Försterhausener Kammerorchester und dem angeschlossenen Chor aufgeführt hatte: Orffs „Carmina Burana“.
Er liebte diese Oper über alles. Deshalb drang aus den Autoboxen auch nun der majestätische Chor des Präludiums: „O FORTUNA, VELUT LUNA, STATU VARIABILIS“1. Er drehte so laut auf, dass er seine Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln verzog. Es musste verrückt aussehen, wie sein kleiner Polo zwischen den Feldern schlich und von einem lateinischen Chor angefeuert wurde. Aber es war um diese Uhrzeit – die Digitaluhr zeigte 2:03 Uhr an - niemand mehr unterwegs. Vielleicht störten sich Rehe und Hasen an Orff, aber damit konnte er leben. Er hatte in den letzten Monaten mit Schlimmerem leben müssen.
Er dachte daran, dass er in fünf Stunden schon wieder zur Arbeit musste. Doch das war ihm egal. Er hatte in letzter Zeit häufig schlecht geschlafen und war Müdigkeit gewöhnt. Seinen Chef störte es nicht, solange er seinen Job gut machte. Und das tat er, wenn auch mit einer gewissen Gleichgültigkeit.
In Gedanken folgte er den Staccati der Chornotation, als er plötzlich in einigen Metern Entfernung eine Gestalt auf der Straße sah. Er drosselte das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit. Er konnte nur Umrisse erkennen, aber diese verrieten ihm, dass es kein Tier war, da es auf zwei Beinen stand. Was in Gottes Namen hatte jemand hier zu suchen? Es waren noch gute sieben Kilometer bis Försterhausen.
Durch den Nebel und die Scheinwerfer sah die Person aus wie ein Engel. Er schluckte und bekam eine Gänsehaut. Die Gestalt trug ein weißes Kleid und hatte schlohweißes Haar, das leicht im Wind wehte. Sie breitete die Arme aus und er trat auf die Bremse.
Das Wesen ging langsam auf ihn zu. Er machte instinktiv die Knöpfe runter und griff nach seinem Handy. Was auch immer das Wesen vorhatte, er wollte etwas unternehmen können. Und wenn es entgegen seiner sich einschleichenden Furcht nur ein Anruf beim örtlichen Abschleppdienst war. Aber er hatte keinen Empfang.
Er verfolgte nun jeden Schritt der Gestalt. Sie ging so langsam, dass er nicht mehr an einen Engel, sondern an einen Geist dachte. Ein Nebelgeist. Er hielt nichts von diesem New Age Kram, aber dieses Wesen war entweder seinem chronischen Schlafmangel zuzuschreiben, oder es war tatsächlich ein Geist. Ihn fröstelte es.
Als es am Wagen angekommen war, erkannte er, dass es weder ein Engel, noch ein Geist war, sondern eine alte, dünne Frau im Morgenmantel. Sie streckte den Arm nach dem Wagen aus und stützte sich auf die dunkle Karosserie, während sie sich der Fahrertür näherte.
Schließlich sah er ihr blasses, faltiges Gesicht und die glasigen Augen. Er versuchte sich einzureden, dass sie nichts Böses im Schilde führte, sondern nur dringend Hilfe brauchte. Nun, seine Temperaturanzeige am Armaturenbrett sagte ihm, dass es draußen acht Grad Celsius waren. Was immer die Frau auch hier zu suchen hatte, es war nicht gesund, dass sie es tat – und vielleicht auch nicht beabsichtigt. Also brauchte sie sicher Hilfe.
Sie klopfte mit ihren Fingernägeln an die Scheibe.
Wieder bekam er eine Gänsehaut.
Sie bewegte ihre Lippen, aber er verstand kein Wort.
„FORTUNE ROTA VOLVITUR, DESCENDO MINORATUS.“2
Er drehte die Musik leiser und schaute die Frau an. Sie kam dicht an die Scheibe und stierte ihn an. Er rutschte nervös im Fahrersitz hin und her. Vielleicht war sie eine Wahnsinnige?
Sie bewegte wieder ihre spröden Lippen, und diesmal verstand er, was sie sagte: „Entschuldigung, ich habe mich verlaufen. Ich wollte bloß einen kleinen Spaziergang machen, wissen Sie? Aber dieser Nebel, das ist ja unmöglich. Ich möchte zu der Villa am Roggenkamp. Da wohne ich, wissen Sie? Mein Mann wartet dort auf mich. Und meine Tochter mit ihrer kleinen Mia. Sie machen sich bestimmt schon alle Sorgen.“ Sie hob ihren Kopf und schaute über den Wagen hinaus in den Nebel.
Paul wusste, wo der Roggenkamp war. Schließlich war dort... Er verdrängte den Gedanken.
„Wissen Sie, junger Mann, ich würde den Weg ja selber finden, schließlich lebe ich schon lange hier, aber dieser Nebel! Ich weiß nicht einmal, aus welcher Richtung ich gekommen bin, geschweige denn, in welche ich gehen muss.“
Ihm gingen Tausend Gedanken durch den Kopf. Angefangen von der Frage, ob die alte Frau eine Wahnsinnige, oder vielleicht nur eine Schlafwandlerin war. Ob ihr Mann nicht schon längst die Polizei gerufen hatte. Ob er das alles nur träumte und gerade die heftigsten Halluzinationen hatte, von denen er je gehört hatte. Und wenn er sie wirklich das kleine Stück mitnehmen würde, wie er beim Anblick des... Er schüttelte den Kopf, als ob er die Gedanken damit vertreiben könnte.
Schließlich sagte er: „Steigen sie einfach ein, ich fahr Sie hin.“ Etwas in ihm rebellierte gegen diese Entscheidung, aber was sollte er machen, sie hier stehen lassen? Wenn er am nächsten Tag in der Zeitung lesen würde, dass sie von einem besoffenen, unachtsamen Autofahrer überfahren worden war, würde er sich das ewig vorhalten. „Es ist nicht weit und auch kein Umweg. Ist also kein Problem.“
„Ach, das ist aber wirklich nett von Ihnen, junger Mann.“
Sie ging zur Beifahrerseite und er entriegelte die Tür. Sie stieg etwas unbeholfen ein. Paul schätzte sie auf knappe 80 Jahre.
„Sie hören aber schöne Musik.“ Sie lächelte ihn mit großen Augen an. Unwillkürlich musste er an den bösen Wolf aus Rotkäppchen denken. „Ich bin regelmäßig zu Konzerten gegangen. Mein Mann ist ein sehr guter Musiker, wissen Sie? Er hat in vielen verschiedenen Orchestern gespielt. Jetzt klappt es nicht mehr mit dem Violinenspiel. Aber wir hören noch gerne seine Schallplattenaufnahmen.“
Paul fuhr langsam weiter. Der Nebel war dichter geworden.
„Früher hat er sogar ein Orchester dirigiert, wissen Sie? Aber das ist schon so lange her. Wo er nicht überall gespielt hat! Durch die ganzen Welt sind wir gereist. Das war herrlich.“
Sie verstummte und Paul schaute kurz zu ihr herüber. Ihr Blick war in den Nebel gerichtet, als ob sie dort etwas sah, das ihm verborgen blieb. Er überlegte, ob sie wirklich in der alten Villa wohnte. Er war sich nicht sicher, aber er war der Annahme, dass dort seit ein paar Jahren das Försterhausener Museum war. Gab es am Roggenkamp mehrere Villen? Wie auch immer: Wieso lief die Frau nachts durch die Gegend? Ein Spaziergang um diese Uhrzeit? Noch dazu in Pantoffeln und Morgenmantel? Das war alles mehr als merkwürdig.
„Violine?“ fragte er schließlich, um sich von den Fragen, und der Erinnerung an... „Ich spiele auch Violine. Im Försterhausener Kammerorchester.“
„Im Kammerorchester?“ Ihre Stimme war hauchdünn. Als ob er etwas Fürchterliches gesagt hatte und sie sich vergewissern musste, dass sie sich nicht verhört hatte. „Sagten Sie Kammerorchester? Dort habe ich meinen Wilhelm kennen gelernt. Er war vom ersten Augenblick an die Liebe meines Lebens. Und das ist er noch immer.“ Sie kreuzte die Arme über ihrer Brust, was ihm ein wenig theatralisch vorkam. „Wissen Sie, manchmal begegnet man Menschen unter den merkwürdigsten Umständen. Es kann alles ändern. Von jetzt auf gleich.“ Ihr blieb die Doppeldeutigkeit ihrer Worte anscheinend verborgen. Zumindest verlor sie keinen Satz über die Umstände, warum sie jetzt gerade neben ihm im Auto saß. „Sind Sie verheiratet, junger Mann?“
Er sah sie kurz irritiert an und antwortete nach kurzem Überlegen knapp: „Nein.“
„Warum nicht? Sie sind doch ein netter Mensch.“
Ihre Direktheit verärgerte ihn. Er sprach selten mit jemandem über seine große Liebe. Schon gar nicht mit einer Fremden. Aber vielleicht stellte sie die Antwort ruhig. So hoffte er es und erzählte ihr von Nadine. „Meine große Liebe ist vor zwei Jahren gestorben. Bei einem Autounfall.“ Er schluckte, „Der Arzt sagte, sie war auf der Stelle tot. Tot, eine Woche vor unserer Hochzeit.“
Die alte Frau sah ihn ohne einen Ausdruck von Verwunderung an. „Da vorn ist es, nicht wahr?“ Sie zeigte nach vorn auf die Straße, wo im nächsten Augenblick ein Schild – und das Kreuz - sichtbar wurden.
„Ja, aber...“
„Lassen Sie mich einfach an der Ecke raus. Von dort ist es nicht mehr weit.“
„Aber... .“
„Ich bin zwar alt, aber das kleine Stück schaffe ich noch. Mein Mann wird sich freuen, mich wiederzusehen.“ Er verstand kein Wort mehr. „Er wird mich sicher erwarten. Wie sehr freue ich mich! Haben Sie vielen Dank, dass Sie mich hierher gebracht haben.“
„Äh.“ Er war völlig verwirrt. „Kein Problem. Aber... .“
Sie reichte ihm die Hand. Er nahm sie und erschrak ob der kühlen, lederartigen Haut. Sie lächelte ihn an und stieg aus. Ihr Blick fiel auf das kniehohe Kreuz, auf dem die Daten 17.Mai 1969 – 6.August 2002 unter dem Namen „Nadine“ standen.
„Carmina Burana, erster Akt, zweites Lied, letzte Strophe.“ flüsterte sie ihm zu und verschwand im Nebel.
Sprachlos saß er da und schaute hinaus in die graue Nacht. Er kam sich vor wie in einem dieser angesagten Mystery-Thriller, in dem er ohne Kenntnisse des Drehbuchs mitspielte.
Er machte die Musik wieder lauter und spulte zu der besagten Stelle vor:

AMA ME FIDELITER, FIDEM MEAM NOTO:
DE CORDE TOTALITER ET EX MENTE TOTA
SUM PRESENTIALITER ABSENS IN REMOTA
QUISQUIS AMAT TALITER, VOLVITUR IN ROTA.

Er hatte keine Ahnung, was die Frau ihm damit sagen wollte. Sicher, die Textpassage las sich wie eine Liebeserklärung. Aber wenn man den Kontext verstand, war es eine reine Naturbeschreibung. Der Chor sang in diesem Lied vom anbrechenden Frühling, und von der Sonne, die mit ihrer Kraft das Leben neu hervorbringt. Was auch immer die Alte ihm sagen wollte, er verstand es nicht. Und außerdem: Wieso wollte sie ihm überhaupt etwas sagen? Weder hatte sie Nadine persönlich gekannt, noch konnte sie wissen, dass sie hier gestorben war. Er ärgerte sich über die Alte, dachte sogar kurz daran, ihr zu folgen und sie zur Rede zu stellen.
Dann fiel sein Blick auf das dunkle, hölzerne Kreuz und er sackte im Sitz zusammen. Seit über einem Jahr war er nicht mehr hier gewesen. Er hatte ihr eine Kornblume, ihre Lieblingsblume, mitgebracht und sie vor das Kreuz gelegt. Nun wuchsen Disteln an der Stelle. Das Leben ging seinen normalen Weg weiter. Nur für ihn war nichts mehr, wie es war. Und mit einem Male wurde er sich der ganzen Leere bewusst, die ihr Tod in ihm ausgelöst hatte. Er schluchzte und nach ein paar Sekunden fielen Tränen auf sein rotes Seidenhemd.

*

Er konnte - wie erwartet - nicht einschlafen. Zum einen wegen dieser verdammten Mücke, die trotz der kühlen Temperaturen draußen überlebt hatte (der diesjährige Altweibersommer - dieses Wort würde nun für immer eine völlig andere Bedeutung für ihn haben – war warm und verregnet gewesen) und nun in seinem Schlafzimmer auf ihn wartete, zum anderen wegen der Erinnerungen an Nadine und der komischen Bemerkung der alten Frau. Er zerbrach sich den Kopf darüber, was sie ihm wohl sagen wollte. Aber er hatte keine Idee. Die Frau war verrückt und das alles nichts weiter als ein verdammt blöder Zufall. Basta!
Um noch wenigstens drei Stunden Schlaf zu bekommen, schaltete er das Nachtprogramm der ARD ein. Das hatte bisher immer geklappt. Und auch diesmal schaffte er es nur noch, die Anfangsmelodie von „High Noon“ mitzusummen, ehe er in einen traumlosen Schlaf fiel.

*

Am Morgen wachte er mit Kopfschmerzen auf. Er schlurfte ins Bad, nahm eine kalte Dusche und kochte seinen von Kollegen gefürchteten Morgenkiller-Kaffee. Die Ereignisse der letzten Nacht kamen ihm vor wie ein Traum. Ein sehr realer Traum, aber zu unlogisch, um wirklich passiert zu sein. Er wollte nicht wieder darüber nachdenken und las stattdessen die Zeitung.
Auf der Arbeit tauschte er seine Jeans und sein Shirt gegen einen schwarzen Anzug und Hemd, und nahm vom Chef den ersten Auftrag entgegen. Er rief Christian, seinen Kollegen, und nahm den Autoschlüssel vom Haken. Gemeinsam fuhren sie dann zur westlichen Stadtgrenze, zum St.Marien Altenheim.
Als sie in die Straße zum Altenheim einbogen, sah Paul ein Werbeplakat der Kunstausstellung im Försterhausener Museum. Ein seltsames Gefühl überkam ihn. „Du, Christian,“ Er versuchte, so normal wie möglich zu klingen. „Wie heißt noch mal gleich die Straße, wo das Museum ist?“
„Das Museum ist am Roggenkamp. Wenn du nach Westenheide fährst, auf der linken Seite. Wieso?“
Paul fühlte sich plötzlich unwohl. Wenn das Museum dort lag, wo er es gestern Nacht schon vermutet hatte, wohin war dann die alte Frau gegangen? Er beschloss, sofort die Polizei anzurufen, sobald sie wieder zurück waren.
„Hallo? Paul? Wieso fragst du?“
„Ach, ich hab‘ gerade ein Plakat der Kunstausstellung gesehen und überlege, ob ich mir das nicht mal antun soll.“ Er versuchte, locker und witzig zu klingen. Christian lachte und stellte keine weiteren Fragen, es funktionierte.

Sie kannten Schwester Martha von früheren Aufträgen. Sie ging neben den beiden Männern her und erzählte ihnen auf dem Weg in den Keller von der gestrigen Nacht.
„Doktor Reinbach sagt, dass es gegen 2 Uhr passiert ist. Herzinfarkt, sie war auf der Stelle tot. Schwester Luise hat sie heute morgen gefunden. Sie lag vor dem Kleiderschrank. War wohl auf dem Weg zur Toilette, zumindest hatte sie ihre Hausschuhe an. Kein schöner Tod, aber es ging schnell.“
Paul hatte diese Phrase schon Tausend mal gehört. Und ihn wunderte es jedes mal, dass die Leute einfach behaupteten, es ging schnell. Vielleicht wussten Menschen, wenn sie sterben würden. Ging es dann schnell? War es dann besser? Und, was war schon ein schöner Tod? So lange man nicht selbst gestorben war, konnte man das wohl nicht einschätzen.
„Hinterlässt sie Verwandte?“ fragte Christian routinemäßig.
„Nein, ihr Mann ist vor vier Jahren gestorben und ihre Tochter ist seit über zwanzig Jahren tot.“
Schwester Martha schloss die dicke Eisentür auf. Der kühle Raum roch nach Weihrauch und war spärlich gefüllt: eine Bahre, ein mannshohes, bronzenes Kreuz und ein paar angezündete Kerzen. Sie gingen hinein. Und als Paul die alte Frau erkannte, verstand er alles.

AMA ME FIDELITER, FIDEM MEAM NOTO:
DE CORDE TOTALITER ET EX MENTE TOTA
SUM PRESENTIALITER ABSENS IN REMOTA
QUISQUIS AMAT TALITER, VOLVITUR IN ROTA.3
__________________________
1 Oh, Schicksal,
wie der Mond
bist du veränderbar.

2 Das Rad des Schicksals dreht sich,
erniedrigt steige ich hinab.

3 Lieb mich getreu! Sieh wie treu ich bin:
mit ganzem Herzen und ganzer Seele
bin ich bei dir, selbst wenn ich weit weg bin.
Wer zu so starker Liebe fähig ist kann den Kreis schließen.

 

Heyho oceansoul,

herzlich willkommen auf Kg.de. Ich steige mal direkt in die Textkritik ein, Gesamteindruck folgt am Ende.

Sie kannte jeden Winkel des sechzehn Quadratmeter großen Zimmers

Das ist mir dann doch etwas zu pedantisch - klingt wie eine Betriebsanleitung, nicht wie Prosa. Hätte es ein "kleines Zimmer" ö.ä. nicht auch getan?

war dies der einziger Ort, wo sie sich aufhielt

Ja, "wo" ist als Präposition gerade sehr hipp. Ich empfinde es dennoch als schlechten Stil und würde hier ein "an dem" bevorzugen.

in der großen Villa am Stadtrand

Der unbestimmte Artikel ("in einer großen Villa") ist passender.

Sie dachte oft an den Hühnerstall, den ihre Eltern damals hatten

Schönes Bild.

Dichter Oktobernebel zwang Paul, langsam über die Landstraße nach Hause zu fahren

Etwas unglücklich formuliert. Zwang ihn der Nebel nun dazu, langsam zu fahren, über die Landstraße zu fahren, oder zu beidem?

Aber das störte ihn nicht, weder hatte er es eilig ...

Würde hier dringend zu einem Semikolon raten.

Er drehte so laut auf, dass er seine Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln verzog

Dieser Kausalzusammenhang will mir nicht recht einleuchten. Wie wäre es mit einer und-Konstruktion?

und von einem lateinischen Chor angefeuert wurde

Ebenfalls ein schönes Bild.

Es breitete die Arme aus

Es? Das Gestalt?

Was auch immer das Wesen auch vorhatte

Ein "auch" streichen.

Nun, es waren acht Grad Celsius draußen

Und das weiß er woher?

als ob sie dort etwas sah, was ihm verborgen blieb

Ja, "was" ist auch sehr beliebt - sehe aber keinen Grund, diesen Satz nicht mit "dass" zu bilden.

dass das Haus seit ein paar Jahren ein Museum beherbergte

Man kann Gäste "beherbergen", aber kein Museum. Falsches Wort.

der diesjährige Altweibersommer - dieses Wort würde nun für immer eine völlig andere Bedeutung für ihn haben

*hehe* Gut!

in seinem Schlafzimmer umherirrte

Mücken irren nicht umher.

schaltete er den Fernseher ein und schaute sich einen schwarz-weiß Spielfilm auf dem ersten Programm an

Hmm. Das ist eine Stelle, an der die Beschreibung ruhig etwas üppiger sein dürfte. Welchen Film guckt er denn?

Auf der Arbeit tauschte er seine Jeans und sein Shirt gegen einen schwarzen Anzug und Hemd

Zieht man sich normalerweise nicht schon zuhause um?


Insgesamt eine gelungene Geschichte. Routiniert geschrieben, gute Dialoge, geschickter Einsatz von "Carmina Burana" (auch wenn ich empfehlen würde, die deutschen Übersetzungen zu verwenden, da das Runterscrollen den Lesefluss empfindlich stört). Klar, der Plot ist vorhersehbar, aber mir gefällt, dass ausgerechnet der Bestattungsunternehmer - sofern ich das richtig verstanden habe - den Geist der alten Frau mitnimmt.
Fazit: Du darfst ruhig weiterposten ;)

Cheers

 

Hallo Wendigo,

erstmal vielen Dank für Dein flugses und ausführliches Feedback. Deine Anmerkungen waren sehr hilfreich. Vor allem beim Wörtchen "wo" und "was" :o) Deren Gebrauch muss ich unbedingt einstellen; wurde mir schon einmal angekreidet, und: Ihr habt ja recht 0:-)

Zu drei Dingen möcht ich aber noch etwas sagen.

Zum einen die "16qm": Ich finde, die Alternative "kleines Zimmer" ist ein sehr dehnbarer Begriff, 16qm hingegen sind ganz klar winzig. Deswegen hatte ich mich für die genaue Angabe entschieden.

Zum zweiten die Sache mit dem "Anzug anziehen auf der Arbeit": Also, ich habe noch kein Praktikum beim Bestatter gemacht ;-) aber ich glaube nicht, dass die in ihren Anzügen morgens zur Arbeit fahren. Mag sein, dass ich mich täusche, aber ICH würde lieber ein bequemes Outfit wählen und mich - wie es z.B. auch bei der Polizei üblich ist - auf der Arbeit umziehen.
Aber vielleicht weiß da jemand besser Bescheid und verrät es mir. Im Grunde genommen ist es mir ja egal, wo der Paul sich umzieht. (Fällt so etwas eigentlich unter "schlechte Recherche"?!)

Und schließlich noch die Sache mit den lateinischen Texten: Es wäre "unlogisch", direkt die dt. Übersetzung anzugeben, da der Chor ja auf Latein singt. Deswegen habe ich es so gehandhabt.

Den Rest Deiner Anmerkungen habe ich gleich mal umgesetzt, vor allem dieses peinliche "wo"... *dumdidumdum*

Also, vielen Dank - vor allem auch für Deine Erlaubnis, weiter schreiben zu dürfen :o)

Viele Grüße,
oceansoul

 

Heyho oceansoul,

freut mich, dass du mit meiner Kritik etwas anfangen konntest. Ein paar Anmerkungen will ich aber auch noch loswerden:

Zum einen die "16qm": Ich finde, die Alternative "kleines Zimmer" ist ein sehr dehnbarer Begriff, 16qm hingegen sind ganz klar winzig. Deswegen hatte ich mich für die genaue Angabe entschieden.

Dann schreib doch "winzig". Oder - noch besser - lass dir einen guten Vergleich einfallen ("so winzig wie ..."). Die 16qm sind so elegant wie ein Vorschlaghammer ...

Und schließlich noch die Sache mit den lateinischen Texten: Es wäre "unlogisch", direkt die dt. Übersetzung anzugeben, da der Chor ja auf Latein singt. Deswegen habe ich es so gehandhabt.

Okay, das verstehe ich. Die deutsche Übersetzung in Klammern hinter den Originaltext zu setzen, wäre wohl auch keine Lösung, oder?

 

Japp, ein Vergleich scheint mir auch eine gute Lösung zu sein, Wendigo. Habe die Stelle mal wie folgt geändert:

"Sie kannte jeden Winkel ihres kleinen Zimmers. Wenn man auf einer Fläche der Größe einer Gartenlaube wohnt, ist das auch kein Problem; auch nicht für einen alten Menschen. Vor allem, wenn man sich neben dem einmal wöchentlich stattfindenden Unterhaltungsnachmittag im Seniorencafe und den Spaziergängen in dem gepflegten Park nur an diesem Ort aufhielt."


Hmmm, die Übersetzung sofort mitanzugeben stört vielleicht nicht mehr den Lesefluss, aber die Optik :o) Jetzt bleibt die Frage nach dem kleineren Übel... Ich mach mir mal Gedanken dazu.

:o)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi oceansoul und willkommen auf KG.de!

Nur ganz kurz, da ich wenig Zeit habe:

Sehr schöne, klassische Gruselgeschichte. Die meisten Textanmerkungen wurden ja bereits gemacht, mehr ist mir auch nicht aufgefallen.
Die Einbindung des Textes ist dir gut gelungen. Ich bin sowieso ein Freund von so etwas (stehe auch total auf in Geschichten eingeflochtene Liedertexte).
Mir persönlich hat die Übersetzung am Schluss vollkommen gereicht.
Ansonsten merkt man, dass du ein routinierte Schreiber bist; deine Sprache ist größtenteils gekonnt und du lieferst nette Vergleiche.
Ansonsten wird mir diese Story mit Sicherheit noch eine zeitlang im Gedächtnis bleiben, wegen des melancholischen Endes, wenn sie auch sonst nicht viel Neues geboten hat.

So, dass wars erstmal von mir.

Nicht besonders hilfreich, hm?

Beste Grüße

Cerberus

EDIT:

Du schreibst, dass du einiges geändert hast, allerdings befindet sich unter deiner Geschichte kein entsprechender Vermerk. Vielleicht verklickt?
Ansonsten, eine Sache möchte ich doch zitieren:

Doch weder war sie eine Hellseherin, noch hatte sie Lust, noch länger in ihrem muffigen Zimmer des St.Marien Altenheims zu bleiben.

Das zweite noch stört mich.

 

Hallo Cerberus,

Danke für Dein Feedback und Deine Willkommensgrüße!

Meine Verbesserungen habe ich bis jetzt nur in meiner Word-Version aufm PC geändert. Kann ich die Veränderungen denn hier auch sofort in der Geschichte vornehmen? Über den Button "Bearbeiten"? (Würde Sinn machen, aber ich frage lieber 0:-) )

Das zweite "noch" hab ich getilgt.

Dein Feedback war entgegen Deiner Annahme sehr wohl hilfreich. Da ich ja vollkommen neu hier bin, bin ich über jede Wortmeldung dankbar. Egal ob sie positiv, negativ, kurz oder lang ausfällt. "Reaktion" ist doch das A & O eines Schreiberlings.

Viele Grüße,
oceansoul

 

Hi oceansoul,

du kannst sogar einfach die alte Geschichte löschen und die neue, überarbeitete reinkopieren. Spart ne Menge Arbeit. ;)

Gruß

MisterSeaman

 

MisterSeaman schrieb:
Hi oceansoul,

du kannst sogar einfach die alte Geschichte löschen und die neue, überarbeitete reinkopieren. Spart ne Menge Arbeit. ;)

Gruß

MisterSeaman


Soeben geschehen, MisterSeaman :o)

Dank und Gruß,
oceansoul

 

Hi Oceansoul,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Genau mein Ding. :)

Textarbeit wurde schon genug geliefert.
Mir ist eh nur der Inhalt und die Aussage einer KG wichtig.

Für mich ist die wichtigste Aussage deiner KG, dass sich am Ende der Kreis schließt.
Guter Plot, gute Sprache, gute Dialoge.
Weiter so :thumbsup:

liebe Grüße, coleratio

 

N'abend coleratio,

vielen Dank für Dein Lob und den Daumen :o) Das ermutigt ungemein. Und ja, ich werde weitermachen, darauf kannst Du Gift nehmen (wobei, ein Schokoriegel tut's auch...)

Abendliche Grüße,

oceansoul

0:-)

 

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