Die Weiße Wand
Die Wand ist weiß. Mehlweiß. Vollkommen weiß. Kreideweiß. Ein perfektes weiß. Schneeweiß. Reflektierend und strahlend weiß. Papierweiß. Sie schaut göttlich aus wie sie so graziös dasteht und sich präsentiert. Doch niemand kann hinter die Wand blicken. Niemand kann sehen wie es in der Wand aussieht. Was für Ängste und sorgen die Wand täglich durchsteht. Die Wand ist schüchtern, sehr schüchtern, jawohl. Dies ist auch der Grund warum sie sich noch niemanden offenbart hat. Die Wand schämt sich. Schämt sich für einen Makel auf ihrem sonst so makellosen weißen Körper. Diamantenweiß. Ein hässlich langer Kratzer über cirka 30 Zentimeter in etwa einem halben Meter Höhe, verläuft quer über die Beine der Wand. Doch sie kann nichts dafür, nein kann sie wirklich nicht. Schuld waren die anderen, schuld sind immer die anderen, weiß doch jeder. In ihrem Fall war es der behinderte Nachbar der sich nur mal kurz die Biertischgarnitur vom Balkon ausleihen wollte. Doch so einen Biertisch mit nur einem Arm tragen zu wollen ist ziemlich vermessen. Hierfür bräuchte man schon zwei Arme, über die Herr Karsunke jedoch nicht verfügt. Er hat vor drei Jahren seinem Arm beim Spazieren gehen verloren und nie wiedergefunden. Schicksal. Vielleicht sollte er mal zum Fundamt gehen. Seit dem Versuch von Herrn Karsunke, die Biertische mit nur einem Arm vom Balkon durch das Wohnzimmer hinaus in den Flur, die Treppen hoch und dann in seine Wohnung zu heben, prangt der hässliche Kratzer an der ansonsten absolut weißen Wand. Reinweiß. Er kam mit dem ersten Tisch genau zwei Meter weit in das Wohnzimmer, bevor er mit der Unterkante des Tisches an die Wand stieß, welche vor Schmerzen aufschrie. Doch leider konnte Herr Karsunke die Wand nicht hören, da er die Sprache der Wände nicht spricht, geschweige denn hören kann. Seit jenem unglückseligen Tag ist die Stimmung der weißen Wand, Porzellanweiß, gedrückt. Sie wird ständig von ihren Zimmerkollegen gemoppt. Jedoch hat sie keinen Mobbingbeauftragten, nein den hat sie nicht. Du Missgeburt, du Fehler der Natur sowie du Toilettenwand sind noch die harmlosesten Beschimpfungen die sich die Wand von Morgens bis Abends anhören darf. Sie fühlt sich ausgestoßen und ausgeschlossen. Sie ist oft traurig und weint Nächtelang. Doch dadurch wird es auch nicht besser, nein wird es nicht. Ganz im Gegenteil. Wenn sie so weiter weint, bildet sich bald Schimmel und sie wird noch mehr unter ihrem Aussehen leiden müssen. Das einzige was dieser Wand noch helfen könnte ist ein Wellnesswochenende mit allem drum und dran. Den alten Putz komplett abschlagen, neu einkalken, neu verputzen und zu guter letzt weiß streichen. Das wäre schön, jawohl schön. Dann endlich könnte sie wieder mit erhobenen Haupte dastehen und jeder würde über sie sagen: "Ist das aber eine schöne weiße Wand." Titanweiß. "Solch ein hübsches Weiß." Blütenweiß. "Weißer als Weiß" Gottgleichweiß.
El Loco