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Die Zeit fährt Auto, doch kein Mensch kann lenken.

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22.05.2004
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Die Zeit fährt Auto, doch kein Mensch kann lenken.

"Die Zeit fährt Auto, doch kein Mensch kann lenken."
Erich Kästner

Der schwarze Funkwecker auf dem kleinen Buchenholztisch in der Küche zeigte genau 6.20 Uhr und 15 Sekunden an, als Herr Henlein mit einem gezielten Messerhieb sein Frühstücksei köpfte. Ein seliges Lächeln ruhte auf seinen Lippen. Wie jeden Tag war er auf die Minute pünktlich.
Wenn Herr Henlein etwas nicht ausstehen konnte, dann war es ein unorganisierter Tagesablauf. Bei dem Gedanken überfuhr Herrn Henlein ein Schauder, so dass er sich unweigerlich schütteln musste. All die Menschen, die sich beklagten, ihr Leben wäre zu kurz. Woran lag dies denn? Doch wohl nur an der Tatsache, dass sie ihr Leben nicht akribisch durchplanten. Herr Henlein war da ganz anders. Er hielt es wie Immanuel Kant, der jeden Morgen um 5 Uhr aufstand. Wie Kant war auch Herr Henlein ein Mann der Pflicht und der eisernen Disziplin.
Genüsslich schob Herr Henlein sich den letzten Bissen seines Marmeladenbrotes in den Mund und schaute zur Uhr: 6.35 Uhr. Es war Zeit für seinen morgendlichen Stuhlgang. Nachdem Herr Henlein sich auf der Toilette entleert hatte, fühlt er sich von jeglichem Ballast befreit und lief beschwingt in die Küche um sein Frühstücksgeschirr zu waschen. Nach 12 Minuten und 34 Sekunden griff er seinen schwarzen Aktenkoffer, den er jeden Abend um 19.43 Uhr packte, gab seiner Frau, die gerade damit beschäftigt war die Fransen des Wohnzimmerteppichs zu kämmen, einen zweisekündigen Kuss und verließ die Wohnung in Richtung Fahrstuhl.
Ein verknitterter weißer Zettel in Größe DinA5, der unordentlich mit einem Klebestreifen der Marke Tesa, an die Fahrstuhltür geklebt war, bereitete Herrn Henlein die ersten Sorgen an diesem jungen Morgen. „Fahrstuhl defekt!“ stand dort in schwarzen Lettern, vermutlich mit einem Edding 2185 geschrieben. Herr Henlein schaute auf seine Digitaluhr am linken Handgelenk, die er für 145,99€ bei Karstadt gekauft hatte. Hm, die Treppe würde ihn 28 Sekunden mehr kosten, aber dann müsste er eben schneller gehen.
Pünktlich um 7.30 Uhr parkte Herr Henlein auf dem Betriebsparkplatz ein und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Um 7.38 Uhr betrat er sein Büro, hängte seinen Mantel an dem Garderobenständer auf und begann augenblicklich damit den 2 Meter hohen Aktenberg auf seinem Schreibtisch abzuarbeiten.
Es war genau 12 Uhr, als sich Herr Henlein auf den Weg in die Kantine machte. Viele seiner Kollegen standen in Gruppen scherzend im Flur, in der einen Hand eine Tasse Kaffee, in der anderen eine Zigarette, deren Asche sich gefährlich bog wie der schiefe Turm von Pisa. Den hatte Herr Henlein übrigens an einem Dienstagnachmittag um 16.13 Uhr und 49 Sekunden bestiegen. Herr Henlein schaute verächtlich auf seine Kollegen. Wenn jeder diese Arbeitsmoral besäße, dann ginge es mit Deutschland total den Bach hinunter. Wenn er Kanzler wäre, dann würde er überall Stechuhren einführen und bei Verspätung das Gehalt im Sekundentakt kürzen lassen.
An der Kantinentheke nahm sich Herr Henlein einen Teller mit einem panierten Schweineschnitzel, nicht zu kross gebraten, Salzkartoffeln und Rosenkohl als Beilage wie er es jeden Donnerstagmittag zu tun pflegte. Um Punkt 12.30 Uhr schob er wieder seinen Sessel näher an den Schreibtisch und nahm eine Akte von dem auf circa 1,12 Meter geschrumpften Papierberg hinunter.
Um 18 Uhr hörte Frau Henlein wie sich der Schlüssel ihres Mannes im Schlüsselloch drehte. Zehn Minuten und 17 Sekunden später stand das Essen auf dem Tisch: Frikadellen, nicht zu kross gebraten, Salzkartoffeln und Rotkohl als Beilage wie sie es jeden Donnerstagabend zu essen pflegten. Während Herr Henlein genüsslich auf einem Stück Frikadelle kaute, betrachtete er seine Frau. Sie sah schön aus mit ihren leicht in die Stirn fallenden braunen Locken. Er hätte gerne …, aber Geschlechtsverkehr hatten sie nur jeden dritten Mittwoch im Monat, sowie an Sonn- und Feiertagen von 20.30 bis 21 Uhr. Heute Abend war seine Bastelzeit. Einen Zerstörer der deutschen Kriegsmarine im Maßstab 1:1250 weiterzubauen war doch auch was Feines.
Während seine Frau den Abwasch erledigte, ging Herr Henlein auf ein Bier in seine Stammkneipe, die „Schenke zum Silberwald“. Dort traf er auf Karl-Werner Hansjürgens, einen Freund aus Schulzeiten. Freund wäre eigentlich zu viel gesagt, denn etwas unterschied den jungen Herrn Henlein schon immer von anderen Jungen. Während diese Lokomotivführer oder Pilot werden wollten, träumte Herr Henlein nur von zwei Sachen: ein Schweizer Uhrwerk zu sein oder wenigstens den Big Ben stellen zu dürfen.
Nach 41 Minuten und 56 Sekunden, in denen sie über das Wetter und den Außenbeitrag von Französisch-Guayana debattiert hatten, verabschiedete sich Herr Henlein und machte sich auf den Heimweg. Die Zeit zwischen 19.45 Uhr und dem Beginn der Tagesschau hatte Herr Henlein für Unvorhergesehenes eingeplant. Leider hielt sich der Zufall meist nicht an diese ihm zugeteilte Zeit. Heut jedoch klingelte das Telefon! Roland, Herr und Frau Henleins einziger Sohn rief an, was dieser üblicherweise immer freitags um 18.43 Uhr tat. „Hallo Papa! Ich habe eine Überraschung für Mama und Dich! Ich lade euch am Samstag zu einem Ausflug nach Braunschweig ein. Na, was haltet ihr davon?“ Herr Henlein reagierte irritiert, er sah schon seinen ganzen Tagesrhythmus zusammenbrechen. „ Das ist wirklich nett gemeint, aber samstags räume ich doch immer den Keller auf und fahre das Leergut zum Container.“ Roland würde nicht locker lassen. „Ach Papa, seit eurer Hochzeitsreise nach Italien ward ihr so gut wie nie weg. Gönnt euch doch mal was.“ In Wahrheit suchte Roland nur einen Vorwand um seinen neuen Wagen auszufahren. Zudem kannte er die Einstellung seines Vaters nur zu gut. Dieser war determiniert auf jeden Urlaubstag zu verzichten und so lange durchzuarbeiten wie er konnte. In Zeiten nachlassender Produktivität durch fortschreitendes Alter wollte er sein Leben genießen und die Welt sehen. Roland konnte das nicht verstehen, aber einen Trumpf hatte er noch in seinem Ärmel. „Papa, sagt Dir denn die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig nichts?“ Herr Henleins Augen begannen aufzuleuchten. „Die optische Atomuhr! Da wollte ich ja schon immer hin.“
Und so saßen Roland, Herr und Frau Henlein am Samstagmorgen um 9.53 Uhr und 38 Sekunden in Rolands Ford Fiesta Futura Editionsmodell und fuhren auf der A2 in Richtung Braunschweig. Die 15“-Leichtmetallräder mit 195/50 R 15 Reifen im 9-Speichen-Design glitten ohne starke Vibrationen über den Asphalt der rechten Spur.
Um 10.42 Uhr kauften sie drei Tickets und bezahlten in 4 2€-Stücken, 1 1€-Münze, einem 50 Cent-Stück und 2 20 Cent-Münzen.
Um 10.44 Uhr war es endlich so weit: Herr Henlein stand vor seiner geliebten Atomuhr. Er strahlte über das ganze Gesicht, stolz wandte er sich an Roland: „Roland guck doch mal! Der chemische Prozess, der da drin abläuft, ist folgender: Kalziumatome werden in einer magnetooptischen Falle festgehalten und auf eine Temperatur von 10 Mikrokelvin abgekühlt. Dann wird die Falle abgeschaltet, so dass eine langsam expandierende Atomwolke entsteht. Vier gepulste Laserstrahlen treffen die Kalziumatome in kurzen zeitlichen Abständen. Dabei regen sie die Atome an und spalten zugleich deren de Broglie-Wellen auf. Schließlich werden die Teilwellen wieder zusammengebracht und es entsteht ein Interferenzmuster, das empfindlich davon abhängt, wie genau die Laser auf die Anregungsfrequenz der Atome abgestimmt sind. Nach etwa einer Zehntelsekunde wird die nächste Atomwolke in die Falle gebracht und die ganze Prozedur wiederholt sich. Mit einem Frequenzkammgenerator wird dann gezählt, wie die neue optische Atomuhr tickt.“
„Echt toll, Papa, aber lass uns bitte weitergehen. Da hinten gibt es auch noch tolle Sachen zu bestaunen.“
Doch Herr Henlein konnte seinen Blick nicht von der kühlen Schönheit der Uhr abwenden. „Geh Du schon mal mit Mama vor, ich komme dann gleich nach.“
So machten sich Roland und Frau Henlein in den Souvenirladen auf, um all die entzückenden Erinnerungsstücke, die kambodschanische 5-jährige in 18-Stunden-Schichten und unter Peitschenhieben angefertigt hatten, zu bestaunen. In einer Blechtonne rechts vom Eingang lagen Hunderte von Ansteckbuttons mit dem Slogan „Atomkraft – Ja, Bitte!“ für 30 Cent das Stück. Hinten am Regal stand eine Armada von Tassen mit dem Bild der optischen Atomuhr im Sonnenuntergang. Roland probierte ein T-Shirt in navy blue Größe XL mit der Aufschrift „ I love Atomuhren!“ an.

Währenddessen bestaunte Herr Henlein mit offenem Mund weiter sein Objekt der Begierde.
Auch sie spürte die Spannung, die zwischen ihnen lag. Eine merkwürdige Elektrisiertheit nahm von ihr Besitz, pulsierte durch ihre Leitungen. Sie spürte es ganz deutlich: Hier, genau vor ihr, stand ein Wesen, das noch viel genauer tickte als sie selbst. Seine Perfektion schmerzte und riss ein schwarzes Loch in ihre kleine Seele. Die Nummer zwei zu sein kam für sie nicht in Frage. Unter diesen Umständen konnte sie nicht weiterleben, ihr Leben war gescheitert. Unter einem letzten Aufbäumen ließ sie alle Kalziumatome zu einer Masse verschmelzen und beschoss sie mit der vollen Stärke der Laserstrahlen.
Herr Henlein spürte eine warme Welle durch seinen Körper fließen.
Frau Henlein rüttelte gerade an einer Schneekugel, in der die Atomuhr auf Skiern einen Berg hinuntersauste, als ein ohrenbetäubender Knall den Song „Rock around the atom clock“ von der Compilation „Clock and roll all night“, die für 17,99€ im Souvenirladen käuflich war, übertönte. Sie überkam unverzüglich ein ungutes Gefühl.
1 Stunde 28 Minuten und 57 Sekunden später überreichte ihr ein Feuerwehrmann in silbernem Raumfahreranzug eine kleine weiße Plastikbox, mit den sterblichen Überresten Herrn Henleins, die sie in mühevoller Kleinstarbeit von den Wänden und Decken abgekratzt hatten. Ein Mann in einem ockerfarbenen Anzug drückte ihr eine mit Souvenirs zum Bersten gefüllte Tüte in die andere Hand. Mit den Worten „Das mit der radioaktiven Strahlung bleibt besser unter uns.“, drehte er ihr gleich wieder den Rücken zu.
Um 14.27 Uhr und 11 Sekunden saßen Roland, Frau Henlein und Herr Henlein in seiner Box in Rolands Ford Fiesta Futura Editionsmodell und fuhren auf der A2 in Richtung Heimat.

„52-Jähriger bei Explosion in Braunschweig zerfetzt“ stand am Montagmorgen auf der Titelseite der Regionalzeitung.
Und wie erging es Roland und Frau Henlein in ihren schwersten Stunden?
Nun, Roland verkaufte die Uhrensammlung seines Vaters und ließ sich von dem Erlös sein Auto tiefer legen.
Frau Henlein ließ die Teppichfransen von nun an kreuz und quer liegen und gab ihrem Liebhaber Bescheid, der nun nicht mehr auf den Dienstagabend zwischen 18.47 und19.51 Uhr vertröstet werden musste.
Herr Henlein wurde schließlich auf dem Zentralfriedhof beigesetzt, wenn auch mit Verspätung, denn der Boden war für das Ausheben eines Urnengrabes vom tagelangen Regen zu schlammig.

 

Hallo Marla,

eine amüsante Geschichte über übertriebene Pünktlich- und Genauigkeit. Locker geschrieben, sodass es Spaß macht, sie zu lesen. Das hat man eben davon, wenn man alles zu genau nimmt und alles bis aufs kleinste durchplant. :D Am Ende kommt eh immer alles anders als gedacht.
Vor allem das Ende mit der Verspätung gefiel mir. Hab mich gut unterhalten. Der Titel von Erich Kästner passt. :thumbsup:

Viele Grüße,

Michael :)

 

hallo marla,
die idee gefällt mir gut: es kann eben auf der welt nur EINmal das maximum geben! der schluss mit der verspätung passt auch gut dazu. was mir weniger gefällt ist die umsetzung. klar: satire lebt von der überzeichnung/übertreibung....aber zuviel ist nicht gut. bereits nach wenigen zeilen hat der leser verstanden, dass dein prot auf die kleinsten details (sofern sie mit der zeit zu tun haben) achtet. also ich würde hier beträchtlich kürzen an deiner stelle. der hinweis: .....Mit den Worten „Das mit der radioaktiven Strahlung bleibt besser unter uns.“, drehte er ihr gleich wieder den Rücken zu..... würde ich auch weglassen. du schneidest hier fast in einem nebensatzh ein weiteres, diesmal hochbrisantes thema an - machst aber dann nichts draus. bitte, das ist meine ganz persönliche meinung. vielleicht siehst du es anders? mal sehen was andere kritiker dazu sagen. jedenfalls eine nette geschichte. und übrigens: recht herzlich willkommen auf kg! warum eigentlich erst "werdendes mitglied"??
ernst

 

Hallöchen!!!

finde deine Geschichte vom Thema her sehr interessant, aber wie schon angesprochen, zu lang.... hab mich bei der Hälfte beim Gedanken ertappt, ein paar Zeilen zu überspringen um zum Ende zu kommen... :dozey:

Alles in allem aber ne gute Geschichte... hab sie gern gelesen... :thumbsup:

LG, rolligirl

 

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