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Die zwei Linden
»Seit unsere kleinen Rabauken in die Schule gehen, sind sie wie ausgewechselt, meinst du nicht auch?«, sagte Fine zu Cäsar, als die Kinder zum Unterricht aufgebrochen waren. Vor allem Jenny, die immer etwas ängstlich wirkte, hatte mehr Selbstvertrauen gewonnen.
Aber am meisten hatte Maria sie überrascht, als sie vor zwei Tagen nach Hause gekommen war. »Mama, ich habe eine Freundin und weißt du, wie sie heißt? Errätst du nie! Sie heißt nämlich Brigitte.«
Fine freute sich mit Maria über ihre neue Freundin und hatte auch nichts dagegen, dass sie nach der Schule zusammen spielten. »Ich möchte aber, dass deine Geschwister dich begleiten. Wirst du mir diesen Wunsch erfüllen?«
»Von mir aus«, entgegnete Maria etwas enttäuscht. Sie wäre viel lieber mit Brigitte allein, so wie auf dem Schulhof, da waren die beiden auch immer zusammen und tuschelten, so, wie es Mädchen eben tun.
In der großen Pause waren die Mäusekinder auf dem Schulhof. Da konnten sie sich austoben. Maria und Brigitte beschlossen, mit einigen anderen Kindern Verstecken zu spielen. Die kleine Jana musste suchen. Sie musste immer als erste suchen, denn sie war ein verträumtes Mäuschen und es machte den anderen Kindern Spaß, sie zu necken, indem sie aus ihren Verstecken nach ihr riefen und sich dann wieder still verhielten.
Jana verdeckte ihre Augen, zählte laut bis zehn und sagte dann einen alten Kinderreim, den schon ihre Eltern aufgesagt hatten:
Eins zwei drei vier Eckstein
Alles muss versteckt sein!
Wer hinter mir steht, wer vor mir steht,
Wer an meinen beiden Seiten geht,
Der muss es dreimal sein! Eins zwei drei, ich komme!
Brigitte, Maria und ihre Geschwister versteckten sich hinter einem Blumentopf, der am Eingang zum Schulgarten stand. Er war mit Blumen bepflanzt, deren Blüten sich bis zum Boden ausbreiteten. Die Mäuse konnten sich unter den Blättern und Blüten gut verstecken. Sie hörten, wie Jana »Ich komme!« rief, und verhielten sich sprichwörtlich mäuschenstill.
Jana kam nicht auf die Idee, unter den Blumen nachzuschauen. Als sie weitergegangen war, fragte Brigitte in die Runde: »Wer hat Lust, heute nach der Schule durch die Gärten zu streifen?«
Die Idee fanden alle gut, Oskar legte aber einen Finger auf die Lippen, alle sollten leise sein. Und so nickten die anderen stumm. Damit war es ausgemacht.
Kurz, bevor es wieder zur Stunde klingelte, zeigten sie sich und Jana rannte an die Stelle, an der sie gezählt hatte, schlug dreimal dagegen und rief: »Brigitte, Maria, Griselda, Cäsaria, Jenny und Oskar sind angeschlagen!«
Die fünf schmollten gespielt, dann gingen sie zurück zu Lehrer Flux in die nächste Stunde.
Der Weg von der Schule nach Hause führte zwar an den Gärten der Menschen vorbei, aber diesmal schlüpften die Mäusekinder unter dem Zaun hindurch, in die Gärten hinein.
»Bleibt alle zusammen und schaut euch aufmerksam um, wir wollen keine Katze übersehen«, sagte Cäsaria, und Oskar fügte hinzu: »Sucht immer nach einem Loch, in dem wir verschwinden können.« Es war zwar aufregend, auf der Suche nach einem Abenteuer vom Weg abzuweichen, aber ganz ohne Angst waren die Mäusekinder nicht.
»Seht mal da, wollen wir uns das ansehen?«, fragte Griselda und zeigte auf einen Schuppen. Sie schlichen durch ein Salatbeet, das bis an ihn hinanreichte. In den Schuppen hineinzukommen war gar nicht schwer, denn ein Spalt unter der Tür lud die Mäuse geradezu ein. Sie mussten eine Weile warten, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnten.
»Riecht ihr das?«, sagte Griselda, und in ihrer Stimme schwang die Vorfreude auf etwas Leckeres. Sie hatte es nur noch nicht entdeckt.
»Käse!«, rief Maria. Sie stand vor einem Ding, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es bestand aus Holz und Draht – und aus Käse.
»Was ist das?«, fragte Jenny, die sich diese komische Vorrichtung genauer ansehen wollte.
»Ich würde da nicht hingehen«, sagte Oskar. »Ich habe so etwas in der Schule schon mal gesehen, als ich Kreide für Lehrer Flux aus dem Raum holen sollte, wo die ausgestopften Insekten, und so, sind.« Er schaute in die Runde und sagte bedeutungsvoll: »Das ist eine Mausefalle.«
»Was denn«, meinte Griselda, »mit dem Käse locken die Menschen dich an und wenn du zu verfressen bist, krach, bist du mausetot?«
Die anderen nickten ängstlich.
»Davor habt ihr doch nicht ernsthaft Angst?« Griselda musste laut lachen. »Soll ich euch den Käse servieren?«
»Nein, tu das nicht!«, sagte Oskar, aber Griselda untersuchte bereits sorgfältig die Falle.
Von draußen drang ein Kreischen und Heulen herein, keiner der kleinen Eindringlinge achtete darauf. Griselda schlich sich vorsichtig an und nahm das Käsestück herunter, ohne die Falle selbst zu berühren. Dann machte sie einen Schritt rückwärts. Das Kreischen und Heulen hörte auf und es folgte ein Krachen, und der Fußboden erzitterte. In dem Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall und die Falle sprang in die Höhe. Als sie wieder herunterfiel, war sie zusammengeklappt.
»D... das war knapp«, stotterte Griselda und ließ den Käse fallen. Keiner hatte mehr Appetit darauf. Sie flitzten wie die Wiesel aus dem Schuppen und machten sich auf den Nachhauseweg.
Der Schreck saß ihnen allen tief in ihren kleinen Körpern. Sie dachten, der Knall hätte ihren Ohren geschadet, denn sie hörten wieder das Kreischen und Heulen, aber als es aufhörte und kurz darauf wieder ein Krachen zu hören war, wussten sie, dass ihre Ohren etwas anderes gehört haben mussten.
»Habt ihr das gehört? Was ist passiert?« Alle fragten das Gleiche. Alle hatten Angst, denn das Geräusch kam aus der Richtung, in der das Stadion lag.
Jetzt begannen die Mäuslein schnell zu laufen. Wenn sie die nächste Ecke erreichten, könnten sie die Linden sehen.
Doch sie sahen die Linden nicht. Etwas Schreckliches musste passiert sein. Noch konnten sie den Eingang zum Stadion nicht sehen. Sie rannten, bis sie völlig außer Atem waren, und als endlich das Tor zu sehen war, standen große Autos davor und die zwei Linden lagen im Stadion.
»Was haben sie nur getan?« Griselda begann zu schluchzen, und jetzt erfasste auch die anderen eine schreckliche Angst. Und wieder fingen sie an zu rennen, aber die übrigen Mäuslein, selbst Oskar, wurden von dem Weinen ihrer Schwester angesteckt, sodass sie nach kurzer Zeit stehen bleiben und eine Pause machen mussten.
Als sie sich beruhigt hatten, fragte Maria mit leiser Stimme: »Ob sie alle am Leben sind?«
»Wie, alle?«, fragte Cäsaria.
»Mama, Papa, Lucia, Gerard.«
»Bestimmt ist ihnen nichts passiert«, sagte Brigitte. »Die Bäume sind nicht von einem Moment zum anderen umgefallen. Ich denke, sie konnten sich in Sicherheit bringen. Kommt, lasst uns nachsehen.«
Als sie ankamen, trauten sie ihren Augen nicht. Der Boden war mit Spänen übersät, als ob es geschneit hätte. Dort, wo die Bäume am Morgen noch gestanden hatten, sah man nur Stümpfe. Die Stämme mit ihren stattlichen Kronen lagen im Stadion, wo die Menschen mit ihren lauten Kettensägen jetzt die Äste abschnitten.
Anfangs dachte Oskar noch, der Biber hätte sie gefällt, aber dann besann er sich an die Kegel, die der Biber hinterließ, wenn der sich an einem Baumstamm zu schaffen machte.
Fine und Cäsar kamen aus dem Bau und sahen ihre Kleinen. Sofort liefen sie zu ihnen. »Kinder, Gott sei Dank ist euch nichts passiert. Wir waren schon verrückt vor Sorge.« Fine nahm einen nach dem anderen in die Arme. Cäsar und Oskar besahen sich die Katastrophe.
Die Mädchen huschten aufgeregt umher.
»Wo sind Lucia und Gerard?«, fragte Jenny, und als ihr niemand antwortete, rief sie die Eichhörnchen. Aber wie laut sie auch piepste, gegen den Lärm der Kettensägen der Menschen konnte sie nichts ausrichten.
Ein dunkler Schatten huschte in eleganten Sprüngen durch die Kronen. Es war Lucia, die sogleich aufgeregt zu den Mäusen kam.
»War Gerard schon bei euch?«
Fine schüttelte den Kopf.
»Dieser Narr!«, schimpfte Lucia. »Er wollte nicht auf mich hören und ist noch einmal auf den Baum gesprungen, um seine Farben und Pinsel zu retten.« Sie machte kehrt. »Ich muss ihn suchen.«
Genau in dem Moment hörten die Mäuse das vertraute Flattern der Taube Grete und schauten nach oben. Sie wollte sich wie immer auf einem Ast der Linden niederlassen und wusste nun vor Schreck nicht, wo sie landen sollte. Zum Glück entdeckte sie die Mäusefamilie.
»Du kommst wie gerufen«, sagte Cäsar, als Grete ihre Flügel angelegt hatte. »Du kannst doch die Schrift der Menschen lesen. Was steht auf der Tafel, die sie dort hingestellt haben? Wir sind zu klein.« Er zeigte auf die große Holztafel, die am Eingang zum Stadion aufgestellt worden war.
Grete flatterte um die Tafel herum und war entsetzt, was sie las. »Das ist furchtbar! Ihr müsst fort von hier. Euren Bau wird es bald nicht mehr geben.«
Die Mäuse verstanden nur mit Mühe, was die Taube gurrte, aber sie wussten sofort, dass es für sie nichts Gutes bedeutete.
»Würdest du bitte zum Feld fliegen?«, bat Fine, als Grete wieder bei ihnen war. »Grüß die Eltern und Freunde und berichte von unserem Unglück.«
Insgeheim hoffte Fine, Opa Oskar wüsste sofort Rat.
»Aber erst wollten die Mäuse von Grete wissen, was genau sie gelesen habe.
»Das Stadion soll größer werden, darum dürfen die Bäume nicht stehen bleiben. Das ist auch der Grund, dass euer Bau zerstört wird.« Die Taube sagte die letzten Worte, während sie schon losflatterte.
Oskar glaubte nicht, was er hörte.
»Nein, das kann nicht wahr sein!«, schrie er empört. »Dann können wir nie wieder ein Fußballspiel sehen? Und was ist mit der Schule und unseren Freunden und Lehrer Flux?«
Auch die Mädchen entrüsteten sich über die Grausamkeit.
»Wieso reicht den Menschen der Platz nicht aus, warum müssen sie immer mehr haben?« Cäsaria blickte in die Runde, bekam aber keine Antwort.
»Was wird jetzt geschehen?« Die Mäuse schauten erleichtert auf, vor ihnen stand Gerard, vollgepackt mit Pinseln und Farben und Gott sei dank wohlbehalten. Hinter ihm hüpfte auch Lucia heran.
Cäsar schüttelte resigniert den Kopf. »Wir werden, so schnell es geht, von hier fortgehen müssen. Aber was ist mit euch? Wo werdet ihr ...?«
Gerard schnitt ihm das Wort ab: »Mach dir um uns keine Sorgen. Wir finden einen Baum, in dem wir künftig wohnen können.«
Die Mäuse bildeten einen Kreis um die Eichhörnchen. Die Vorstellung, nicht mehr mit ihren lieb gewonnenen Freunden zusammen sein zu können, machte sie traurig.
»Wie wäre es«, sagte Fine, »wenn wir alle warten, bis Grete mit einer Nachricht vom Feld zurück ist? Solange könnt ihr in den Gärten einen Unterschlupf finden. Und wenn wir dann wissen, wohin wir gehen, kommt ihr mit uns.«
»Das hört sich gut an.« Lucia und Gerard nickten zustimmend.
Für einen Moment war Stille eingetreten, da vernahmen sie leises Schluchzen. Maria und Brigitte lagen sich in den Armen und beweinten das Ende ihrer Freundschaft.
»Aber wer behauptet denn, dass ihr keine Freunde mehr sein dürft?«, sagte Fine und tröstete die zwei. »Ihr könnt Briefe schreiben und euch genauso gut besuchen. Wir müssen nur Geduld haben, bis Grete zurückkommt.«
»Wie lange können wir noch bleiben?«, fragte Oskar.
Cäsar besah sich die umgestürzten Stämme und die Stümpfe.
»Viel Zeit haben wir nicht mehr«, gab er zur Antwort, und sie wussten, dass ihnen eine unruhige Nacht bevorstand. Und am Morgen käme dann hoffentlich die Taube mit einer guten Nachricht zurück.
Die Sägen verstummten, die Dämmerung zog herauf, der Tag ging zu Ende. Die Mäusefamilie ging mit den Gedanken schlafen, dass es ihre letzte Nacht am Stadion sein könnte.
»Mäuseöhrchen, es tut mir leid. Ich konnte dir nicht bieten, was ich dir versprochen hatte.« Cäsar hatte Tränen in den Augen.
Fine legte ihm eine Pfote auf die Wange. »Nichts kann so schlimm sein, dass wir es nicht gemeinsam schaffen. Und es ist gar nicht wahr, was du sagst. Du hast mir so viel mehr Freude gemacht.«
Dann fielen ihnen die Augen zu. Und morgen ist ein neuer Tag.