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Die zwei Seiten der Mauer

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11.03.2003
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Die zwei Seiten der Mauer

Die zwei Seiten der Mauer

Wie ich hierher geraten war, wusste ich nicht mehr. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, was vorher gewesen war. Gab es da überhaupt etwas, etwas ausser diesem kleinen Stückchen Erde? Tage und Nächte waren vergangen, während ich noch immer hier lag und wartete. Der Mond hatte bereits seine volle Gestalt erreicht – als ich die erste Nacht hier auf der kalten Erde lag, war der Mond nur eine schmale Sichel gewesen. Egal, bald würde der Morgen kommen.
Ich war in einer Abenddämmerung an diesen Ort gekommen, verletzt. Jetzt spürte ich mein linkes Bein nicht mehr, die ersten paar Tage war ich beinahe verrückt geworden – der Schmerz hatte jede Faser meines Körpers durchdrungen. Manchmal noch war da eine leise Erinnerung an den vergangenen Schmerz, aber es machte mir nur bewusst, dass ich von dieser Mauer nicht wieder weggehen konnte. Zu Beginn hatte ich oft geschrieen, in der Hoffnung, jemand würde kommen mich zu retten. Niemand war gekommen, die Mauer schirmte mich von allem ab.
Irgendwo an einem nicht erreichbaren Horizont erschien eine dreckige, rosa Linie, die vom kommenden Morgen sprach. Schweiss bildete sich auf meiner Stirn, als ich vorwärts robbte, um den Tau vom Gras abzulecken. Es war das Einzige, was ich zu mir zu nehmen im Stande war. Gerade, als ich meinen Durst so gut wie möglich gestillt hatte, fiel mein Blick auf eine Öffnung in der Mauer. All meine Sinne richteten sich auf dieses kleine Loch. Nach einem Moment absoluter Reglosigkeit robbte ich näher an die Mauer. Das Loch war klein, aber ich konnte mit einem Auge hindurchblicken. Es war kaum ein Loch, vielmehr eine Ritze. Durch die Zeit hatte sich Erde angereichert, die mir nun den Weg in diese andere Welt versperrte. Mit zittriger Hand versuchte ich, den Dreck weg zu schieben. Im selben Moment, als ich meinen Finger in die Ritze tauchte, wusste ich, dass ich das besser nicht getan hätte. Trockene Erde löste sich vom Stein über der Ritze und versperrte mir nun den Blick. Ich schrie, doch niemand würde mich hören. Erschöpft blieb ich liegen. Die Sonne stieg hoch an den Himmel und lächelte hinab – es schien mir, als wolle sie mir Mut geben.

Die ersten Sterne glommen bereits auf, als ich wieder erwachte. Ich fror, die Sonne glühte nur noch in weiter Ferne und brachte keine Wärme mehr. Es war still – wie immer. In den Tagen, die ich bereits hier lag, war noch kein Geräusch an meine Ohren gedrungen. Vergeblich hatte ich auf das Zirpen eines Sperlings gewartet. Nicht einmal die leise Melodie des Windes hatte bis hierher gelangen können. Dieser Ort war abgeschirmt von allem Existierenden, ich war hier nur ein Fremdkörper. Jenseits der Mauer war Leben, doch hier… war der Warteplatz auf den Tod. Die Mauer versperrte den Rückweg ins Leben, aber jetzt hatte ich dieses Loch gefunden. Das gab mir neuen Mut. Ich richtete mich ein wenig auf und blickte durch die Öffnung. Der Staub hatte sich verflüchtigt, nur eine hohe Schicht aus Erde verhinderte einen Blick in die Welt hinter der Mauer. Vorsichtig blies ich ein wenig Erde weg. Die Ritze wurde grösser, ich glaubte, einen Garten ausmachen zu können und fuhr fort, darauf bedacht, nicht noch mehr Erde von oben zu lösen.
Endlich war ich fertig und blickte hindurch. Der Garten nahm Gestalt an: Eine Gruppe Bäume, deren Wipfel sich der sinkenden Sonne entgegenbeugten. Hinter diesen Bäumen war ein weisses Häuschen zu sehen, mit einem Balkon und rund um diesen hatte jemand Blumen angepflanzt. Mehr war mir nicht möglich zu sehen. Doch die kämpferische Seite in mir war neu entfacht worden. Schaffte ich es, in diesen Garten zu gelangen, musste ich die Leere auf dieser Seite der Mauer nicht mehr fürchten. Nur: Ich hatte keine Ahnung, wie ich das schaffen konnte, denn meine Kraft reichte gerade dazu aus, die Ritze in dieser Mauer von einem kleinen Bisschen Erde zu befreien. Wie also sollte ich auf die andere Seite der Mauer gelangen, mich retten? Gierig saugte ich mit meinem Blick die Bilder auf, die ich sah – bestrebt, sie nie wieder loszulassen. Die Nacht brach herein und ich konnte nichts mehr als die Schemen der Bäume erkennen. Im Haus wurde kein Licht angezündet – war es unbewohnt? Das liess meine Hoffnung wieder schmelzen und ich legte mich erschöpft an die kalte Mauer. Im Einschlafen fragte ich mich, ob die andere Seite wohl wärmer war.

Ein leises, schabendes Geräusch weckte mich. Erschrocken richtete ich meinen Oberkörper auf. Noch nie hatte ich hier irgendetwas wahrgenommen, ausser der kalten Erde und der undurchdringbaren Mauer. Und jetzt… „Hallo?“ zögernd - ich hatte Angst, dass meine Worte nur in der Leere dieses Raumes verschwanden - versuchte ich mich bemerkbar zu machen. Das Schaben hielt inne, es musste mich gehört haben. „Hallo!“ rief ich lauter. Mein Atem beschleunigte sich. Aufgeregt drückte ich mein Auge an die Ritze. Jemand war im Garten! Und dieser Jemand hatte mich gehört. Ich rief ein drittes Mal. Ein Auge erschien in der Ritze und wurde grösser, als es mich sah. Wie durch dickes Glas hörte ich eine Stimme. „Wer bist du?“ Vor Aufregung konnte ich kaum antworten.
„Ich bin Malte. Wie heisst du?“
„Ich bin Jan.“
Er schien mir noch jung, wohl nicht älter als zwölf Jahre. Seine Stimme drang erneut an mein Ohr: „Warum bist du da… drüben? Ich habe gedacht, dass hinter der Mauer nichts existiert. Aber du scheinst real. Wie bist du dorthin gekommen?“
Ich zuckte mit den Schultern, aber mir wurde gleich darauf klar, dass er mich ja nicht sehen konnte. Ich antwortete: „Hier existiert auch nichts, es ist leer und ich glaube nicht, dass Lebendes hier sein darf. Wie ich hierher gekommen bin, weiss ich nicht mehr. Aber ich kann nicht weg – ich bin verletzt.“
„Ich weiss auch keinen Weg hinüber. Ich wusste nicht, dass auf der anderen Seite der Mauer etwas… nun, lebt.“
„Wie“, ich zögerte, „ist es auf der anderen Seite? Bei dir?“
In Jans Auge trat ein seltsames Leuchten. Doch auch er zögerte. Schliesslich, fast widerwillig, erzählte er vom Garten, den ich gesehen hatte. „Es hat Bäume hier und Blumen. Mein Haus ist weiss. Die Tiere des Tages verkriechen sich langsam in ihren Schlupfwinkeln und machen denjenigen der Nacht Platz. Es wird kühl, aber noch ist es angenehm.“ Jan hielt inne, er schien mich fragen zu wollen, ob ich das aushalte, ob ich die Bilder, die er malte, ertragen würde. Ich antwortete leise auf seine ungestellte Frage. „Bitte… erzähle weiter. Ich sehne mich nach deiner Welt. Hier gibt es nichts ausser dieser einen Ritze in der Mauer, die deine und meine Welt verbindet. Der Boden ist kahl, nur wenig hartes Gras wächst hier. Und das Licht der Sonne wirkt seltsam leblos. Erzählst du aber von deiner Welt, dann dringt ein bisschen dieses Lebens hier ein und lässt verborgene Samen tief in der Erde reifen, lässt die Mauer dünner werden.“
Jans Augen zeigten mir sein Lächeln. „Dann erzähle ich dir gerne weiter, ein anderes Mal. Ich muss jetzt gehen.
Ich machte eine jähe Bewegung, die ihn zurückhalten sollte. Die Mauer bremste mich ab, Jans Erzählung hatte mich den kalten Stein vergessen lassen. „Warum gehst du?“ fragte ich hastig, in der Hoffnung, er würde bleiben. Er antwortete so leise, dass ich es fast nicht verstehen konnte: „Hier ist es Nacht, ich muss nach Hause.“ Er war noch ein Kind.
Die Nacht war dunkler als sonst, als Jan in sein weisses Haus verschwunden war. Irgendwann schlief ich unruhig ein, träumte ohne mich daran zu erinnern. Als ich erwachte, fühlte ich mich nicht ausgeruht, im Gegenteil: Ich hatte das Gefühl, in der Nacht viele Kämpfe gefochten zu haben.

Die Sonne ging ihren Weg, aber Jan tauchte nicht auf. Gegen Mittag war ich nahe dem Verzweifeln, mein Auge suchte unablässig die Haustür auf der anderen Seite der Mauer, doch ich konnte sie weder entdecken noch hörte ich ihr Zuschlagen. Wo war Jan? Er, der auf der Seite des Lebens stand, dort, wo die Bäume in einen sanften Wind Geschichten wisperten – so als dürften nur die Lebenden von dem erfahren, was sie zu erzählen hatten. Ich sah sie flüsternd in einem Wind, den ich nicht spüren konnte. Ich sah sie ihre Köpfe zueinander neigen und sich im Geheimen umarmen. Die Blumen zu ihren Füssen schienen ihre Blütenkelche den Baumkronen entgegenzurecken – erfolglos allerdings. Nirgends aber war Jan. Ich rief, aber er musste zu weit weg sein, als dass er mein Rufen hätte hören können. Irgendwann rollte ich mich ausgelaugt auf den Rücken und beobachtete mein eigenes Land. Seit ich hier war, hatte sich nichts verändert, keine Blüten, die sich abends schlafen legten, keine flüsternden Baumseelen, nur dieses harte Gras – von der Öde dieses Ortes längst ausgetrocknet – und die kalte Mauer. Das Muster der Steine in der Mauer zog sich endlos eintönig hin, aus den Ritzen spross kein Unkraut, keine noch so zarte und zerbrechliche Blume. Ich zog meine Beine an, doch nur das rechte gehorchte, im anderen war kaum Leben mehr. Die leise Frage, die ich mir schon stellte, seit das linke Bein langsam abstarb, erklang erneut in meinem Innern, hallte wider wie in einer leeren Wohnung, deren Bewohner sich ein neues Zuhause gesucht hatte. Würde ich, würde mein Geist, ebenso absterben? Sich allmählich von meinem Körper trennen und dann ins Nichts entschwinden? Ich fürchtete mich, denn ich hatte mir den Ort meines Todes nicht so vorgestellt. Es war so kahl hier, meine Augen verloren sich in der Ferne, blieben an einem nicht existenten Punkt in der gleichmässigen Fläche dieser Welt hängen. Die einzige konstante Linie hier bildete die Mauer, aber ihre Kälte stiess mich weiter in dieses unbekannte Land, in das ich nicht gehen wollte. Wo war nur Jan, er konnte meine Verbindung zu der anderen Seite der Mauer sein – warum nur kam er nicht? Die Sonne hatte den Zenit bestimmt längst überschritten, ich konnte es nicht mehr genau einschätzen, die Zeit verschmolz hier in einem einzigen Punkt, der ewig andauerte, in dem sich Sonne und Mond abwechselten. In Jans Welt gab es eine Zeit, an der ich teilhaben wollte. Wo war nur Jan?

Die Dämmerung verwischte die Spuren des Tages ohne Jan. Irgendwo am kalten Firmament erhob sich ein eisiger Mond, ferne Sterne umgaben ihn. Ein Blick in den Garten sagte mir, dass er nun ebenso verlassen dalag, wie meine Welt. Wieder hüllte sich das weisse Haus in eisiges Schweigen und kein Licht brannte. Ich versank erneut in meiner Gedankenwelt, die fernab der Welt lag, in der ich mich jetzt befand, aber sie war auch nicht in dem Garten auf der anderen Seite der Mauer zu finden. Ich schreckte auf, als ich Jans Stimme vernahm. „Entschuldige bitte.“
„Warum bist du nicht gekommen?“
„Ich… es war mir nicht möglich.“ Jans Auge wich meinem Blick aus.
Ich drang nicht weiter in ihn ein, vielleicht würde er es mir einmal sagen. „Jan, bitte erzähl’ mir von deiner Welt! Leuchtet bei euch der Mond auch?“
„Ja, es muss bald Vollmond sein.“
„Und… erzählen sich die Bäume… ihre Geschichten?“
Jan zuckte zusammen, als habe ich nach einem Geheimnis gefragt, welches über Tausende von Jahren sorgsam gehütet worden war. Sein Auge verschwand und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ich versuchte, irgendwie Jan zu finden, aber er war weg. Vergeblich rief ich ihn, er antwortete nicht. Ich liess meinen Kopf ins harte Gras sinken und wartete. Auf was ich wartete, wusste ich nicht.

„Malte?“
Ich wachte aus meiner Gedankenwelt auf. Jan war zurückgekehrt. „Warum bist vorhin weggegangen?“
„Ich…war nicht weg. Ich habe mich an die Mauer gelehnt.“
„Aber…“
„Lass gut sein!“ Jan unterbrach mich geduldig. „Es tut mir leid.“
Ich erwiderte nichts darauf. Auf einmal unterbrach Jan erneut die Stille. „Ja, es stimmt. Die Bäume erzählen sich Geschichten, aber… deine Frage hat mich daran erinnert, dass ich sie einst hören konnte. Doch ich verlernte es. Du magst vielleicht glauben, dass ich noch ein Kind bin und sie noch hören sollte, aber sie schweigen, wenn ich in ihrer Nähe bin. Und deine Frage hat mich getroffen. Weisst du, ich glaubte, alles bliebe so, wie es vor einigen Tagen noch war. Und die Mauer war für mich… das Ende. Und jetzt ist da dieses Loch. Und dieses Loch verbindet mich mit deiner Welt, die so leer ist. Sie zieht mich zu sich. Ich habe Angst. Angst davor, dass ich meiner Welt entschwinden werde. Seit ich dich, diese Ritze, gefunden habe, sind in meiner Welt viele Dinge verschwunden. Die Bäume haben aufgehört zu reden, der Blumen Farben verblassen. Der Mond hat sich entfernt, er geht nicht mehr seine alte Bahn. Alle Lebensenergie dieser Welt entschwindet langsam.“

Bald darauf war Jan gegangen. Den Mond, der die kahle Erde meiner Seite der Mauer beschien, empfand ich nur noch als gestohlen. Er gehörte nicht hierher. Er gehörte zu Jans Welt. Alles, was durch die Ritze gedrungen war, durch Jans Worte und durch meine Beobachtungen, war fremd hier. Die Mauer, die mich von Jan und seiner Welt trennte, hätte niemals dünner werden dürfen. Während der Mond seinen Weg nach drüben suchte, griff ich nach loser Erde auf meiner Seite der Mauer. Ich schloss die Ritze in der Mauer, bis nichts mehr zu mir dringen konnte. Als ich nicht mehr in den Garten Jans sehen konnte, sank meine Hand langsam auf das harte Gras. Jans Stimme verblasste.

 

Hallo Marana,

Du schreibst hier über zwei, nein sogar drei Welten. Zwei sind durch eine Mauer getrennt, und eine ist die Gedankenwelt des Prot. Malte.
Maltes Welt ist öde, Jans erscheint paradiesisch.
Das Paradies scheint durch Maltes Anwesenheit jenseits der Mauer bedroht. Jan selbst zweifelt, ob er Malte helfen sollte, da er die Gefahr für sich spürt.

Die Frage, die ich mir stelle, warum verzichtet Malte auf weitere Hilfe?

Philosophisch gesehen, bedeutet das persönliche Opfer durch Hergabe des eigenen Lebens immer das Wohl des anderen?


Liebe Grüße
Goldene Dame

 

Hallo Goldene Dame!
Danke für dein Feedback!

Malte verzichtet darauf, weil er Jans Welt Verderben bringt, weil er nicht dorthin gehört.

Ob es aber immer das Wohl des anderen bedeutet... Kommt drauf an, wie das Opfer aussieht - durch das Verschliessen der Ritze in der Mauer konnte Malte den "Tod" von Jans Welt verhindern.

Liebe Grüsse,
Marana

 

Hallo Manuela,
tut mir leid, dass ich erst jetzt dazu komme, deine Geschichte zu lesen, aber ich habe Ferien und war unterwegs...
Dafür habe ich sie jetzt um so gründlicher gelesen.

Ich bin beeindruckt und gefangen in deiner Geschichte. Sie hat mich sehr berührt.
Immer wieder musste ich kurz aufhören zu lesen, um durchzuatmen. Denn ich habe immer wieder gedacht, dass es mir ähnlich wie Malte geht.
Vielleicht verstehst du meine Gedankengängen, ich werden sie auf jedenfall versuchen verständlich auszudrücken:
Malte scheint ein Mensch zu sein, der in sich gekehrt, in seiner eigenen, traurigen Welt lebt. Er schreit nach Hilfe, so wie viele traurige Menschen Hilferufe starten, die leider meistens von den Mitmenschen überhört werden.
Er findet nun diesen kleinen Riss, der ihm helfen kann, und versucht, sich durch ihn in die fröhliche Welt zu begeben. Aber die Menschen auf der anderen Seite übersehen seine traurige Situation, helfen ihn nicht, sondern lassen ihn am ausgestreckten Arm verhungern.
Auch dies passiert so oft.
Darauf hin entschließt sich Malte, diesen Riss zuzumachen, als hätte es ihn nie gegeben, und langsam in seiner traurigen Welt (depression!) zu versinken/ innerlich abzuserben...

So sehe ich die Geschichte, sie hat mich zu tiefst berührt, weil sie in wunderbarer Art und Weise dieses Soziale Problem behandelt.
Meine Meinung,
lieber Gruß
Wiebke

 

Liebe Wiebke!
Ferien... wie schön!

Danke für deine Antwort und ich freue mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat! Erstaunlich, wie verschieden die Geschichte gesehen wird und es zeigt mir, wieviele Facetten etwas haben kann! Wenn ich deine Parallelen, die du zu dir und Malte ziehst, vergleiche mit dem, was ich fühle, dann verstehe ich deine Gedankengänge sogar sehr gut.

Lieber Gruss,
Manuela

 

Hallo Marana!

Eine sehr schöne Geschichte. Besonders die zweite Hälfte hat mir besonders gut gefallen, dort wo die Welten beginnen, sich zu vermischen.

Du hast die Abhängigkeit Maltes von der Ritze (Hoffnung)und vom kleinen Jan schön dargestellt. Auch die Beschreibung der leeren, öden Welt, im Vergleich mit dem kleine Haus und seiner Umgebung ist sehr schön dargestellt.

Vielleicht wäre es noch ein bisschen passender gewesen, wenn du die Geschichte im Präsens angesiedelt hättest.

Ich habe die Geschichte so gesehen, dass Malte einen Unfall hatte, der ihm(oder ihr?) Erinnerung und beinahe das Leben raubte. Nun lebt er knapp vor dem Tode und versucht sich an den dünnen Faden Leben und Hoffnung zu klammern, den er hat.
Doch sie lässt sich sicherlich auch auf verschiedene Situationen im Leben übertragen, wie zum Beispiel Depressionen, wie Wibib sagt. Ebenso Einsamkeit, Scheuheit etc.

So, und jetzt noch die Lieferung aus der Zitatur:

als ich die erste Nacht hier auf der kalten Erde lag war der Mond
Nur 'n Komma zwischen lag und war
die Mauer schirmte mich von jeglichem Äusseren ab.
was meinst du mit 'jeglichem Äusseren'? Sollte es nicht eher 'von der Aussenwelt ab' heissen?(klänge auch runder) Bin mir aber nicht sicher, ob du die Aussenwelt meinst, oder einfach alles was eine Gestalt hat. Dann würde ich aber Äusseren ersetzen.
Es war das Einzige, was ich zu mir nahm, seit ich hier lag.
der dritte Teil tönt nicht so schön und ist mE überflüssig. 'Es war das Einzige, was ich zu mir nehmen konnte', würde genügen.
Mit zittriger Hand versuchte ich, den Dreck weg zu schieben.
schreibt man das wirklich auseinander (weg zu schieben)? Sieht sehr komisch aus... wobei, bei der neuen Rechtschreibung weiss man ja nie...
Im selben Moment, als ich meinen Finger in die Ritze tauchte, wusste ich, dass es falsch gewesen war.
'falsch' tönt irgendwie falsch in dem Zusammenhang. Ich würde es so umschreiben: als ich meinen Finger in die Ritze getaucht hatte, erkannte ich, dass dies ein Fehler gewesen war.
oder so.
In den Tagen, die ich hier war, war noch kein Geräusch an meine Ohren gedrungen.
ein 'war' könntest du wegbringen: In den Tagen, die ich hier verbracht hatte, war noch...
Allgemein würde ich so wenig wie möglich 'sein' oder 'haben' als Vollverb verwenden.
Dieser Ort war abgeschirmt von allem Leben, ich war hier nur ein Fremdkörper. Jenseits der Mauer war Leben, doch hier… war der Warteplatz auf den Tod.
Gefällt mir, schöner Satz. Nur das erste 'Leben'... wäre schön wenn du es gegen was anderes umtauschen könntest... fällt mir auch nicht gross was ein; vielleicht 'Natur'?
Neue Kräfte aufbauend richtete ich mich ein wenig auf und blickte durch die Öffnung.
'aufbauend' passt mE nicht wirklich, da Malte einsetzt/nutzt und nicht produziert. Ausserdem ein Komma vor 'richtete'.
Also vielleicht 'aber jetzt hatte ich dieses Loch gefunden und es gab mir neue Kraft. Ich richtete mich ein wenig auf...'
Gierig saugte ich mit meinem Blick die Bilder auf, die ich sah – bestrebt, sie nie wieder loszulassen.
Schön und passend
Der Boden ist kahl, keine nur wenig hartes Gras wächst hier. Und die Sonne scheint durch eine gläserne Wand, die die Wärme abhält und das Licht wirkt seltsam leblos.
1.'keine' hat keinen Platz vor 'nur wenig'
2. Solange die gläserne Wand nur gläsern und nicht noch trüb oder so ist, verstärkt sie eher das Sonnenlicht und die Wärme (Treibhauseffekt)
Achja, ein bisschen weiter unten kommt noch eine 'gläserne Trennwand', ist es die gleiche, oder ist dort die Mauer gemeint? Die Mauer war doch aus Stein? Ansonsten könnte Malte hindurchsehen und dann würde sie die ganze, lebende Welt sehen.
Ich hatte das Gefühl, in der Nacht viele Kämpfe gekämpft zu haben.
Absichtlich zwei mal kämpfen? Find ich nicht gerade schön, würde da gekämpft durch gefochten ersetzen oder so.
Die Sonne wanderte ihren Weg entlang
Das 'entlang' ist überflüssig; wer einen Weg geht, wandert ihm auch entlang. Ansonsten würde 'verfolgte ihre Bahn' auch nett tönen.
Er, der auf der Seite des Lebens stand, dort, wo die Bäume in einen sanften Wind Geschichten wisperten – so als dürften nur die Lebenden von dem erfahren, was sie zu erzählen hatten.
Sehr schön
Jans Auge wich meinem aus.
Stell dir das bildlich vor; so zwei Augen, die rollend einander ausweichen. Entweder 'Jans Blick wich dem meinen.' oder 'Jans Auge wich meinem Blick aus'
Die Glaswand, die mich von Jan und seiner Welt trennte, hätte niemals geschmolzen werden dürfen.
Wieder die Glaswand, die mir scheinbar nicht so gut gefällt. Aber das 'schmelzen' ist okay.

Nochmals: Die Geschichte hat mir ganz gut gefallen!

Viele Grüsse,

Van

 

Hallo Van!
Danke für deinen ausführlichen Kommentar!

Ich habe die Geschichte deinen Empfehlungen entsprechend geändert, das mit dem Auseinanderschreiben weiss ich auch nicht - ich habe gemeint, dass man es auseinander schreibt... :)

Die gläserne Wand... Die hat nicht nur dich gestört, daher habe ich sie jetzt weggelassen und ich muss zugeben, ohne tönt's schon viel besser.

Danke für's Lesen und kommentieren!

Liebe Grüsse,
Manuela

 

Überarbeitete Version

Wie ich hierher geraten war, wusste ich nicht mehr. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, was vorher gewesen war. Gab es da überhaupt etwas, etwas ausser diesem kleinen Stückchen Erde? Tage und Nächte waren vergangen, während ich noch immer hier lag und wartete. Der Mond hatte bereits seine volle Gestalt erreicht – als ich die erste Nacht hier auf der kalten Erde lag, war er nur eine schmale Sichel gewesen. Egal, bald würde der Morgen kommen.
Ich war in einer Abenddämmerung an diesen Ort gekommen, verletzt. Jetzt spürte ich mein linkes Bein nicht mehr, die ersten paar Tage war ich beinahe verrückt geworden – der Schmerz hatte jede Faser meines Körpers durchdrungen. Manchmal noch war da eine leise Erinnerung an den vergangenen Schmerz, aber es machte mir nur bewusst, dass ich von dieser Mauer nicht wieder weggehen konnte. Zu Beginn hatte ich oft geschrieen, in der Hoffnung, jemand würde kommen mich zu retten. Niemand war gekommen, die Mauer schirmte mich von allem ab.
Irgendwo an einem nicht erreichbaren Horizont erschien eine dreckige, rosa Linie, die vom kommenden Morgen sprach. Schweiss bildete sich auf meiner Stirn, als ich vorwärts robbte, um den Tau vom Gras abzulecken. Es war das Einzige, was ich zu mir zu nehmen im Stande war. Gerade, als ich meinen Durst so gut wie möglich gestillt hatte, fiel mein Blick auf eine Öffnung in der Mauer. All meine Sinne richteten sich auf dieses kleine Loch. Nach einem Moment absoluter Reglosigkeit robbte ich näher an die Mauer. Das Loch war klein, aber ich konnte mit einem Auge hindurchblicken. Es war kaum ein Loch, vielmehr eine Ritze. Durch die Zeit hatte sich Erde angereichert, die mir nun den Weg in diese andere Welt versperrte. Mit zittriger Hand versuchte ich, den Dreck weg zu schieben. Im selben Moment, als ich meinen Finger in die Ritze tauchte, wusste ich, dass ich das besser nicht getan hätte. Trockene Erde löste sich vom Stein über der Ritze und versperrte mir nun den Blick. Ich schrie, doch niemand würde mich hören. Erschöpft blieb ich liegen. Die Sonne stieg hoch an den Himmel und lächelte hinab – es schien mir, als wolle sie mir Mut geben.

Die Sonne war schon weit gewandert, als ich wieder erwachte. Ich fror, denn sie glühte nur in weiter Ferne und brachte keine Wärme. Es war still – wie immer. In den Tagen, die ich bereits hier lag, war noch kein Geräusch an meine Ohren gedrungen. Vergeblich hatte ich auf das Zirpen eines Sperlings gewartet. Nicht einmal die leise Melodie des Windes hatte bis hierher gelangen können. Dieser Ort war abgeschirmt von allem Existierenden, ich war hier nur ein Fremdkörper. Jenseits der Mauer war Leben, doch hier… war der Warteplatz auf den Tod. Die Mauer versperrte den Rückweg ins Leben, aber jetzt hatte ich dieses Loch gefunden. Das gab mir neuen Mut. Ich richtete mich ein wenig auf und blickte durch die Öffnung. Der Staub hatte sich verflüchtigt, nur eine hohe Schicht aus Erde verhinderte einen Blick in die Welt hinter der Mauer. Vorsichtig blies ich ein wenig Erde weg. Die Ritze wurde grösser, ich glaubte, einen Garten ausmachen zu können und fuhr fort, darauf bedacht, nicht noch mehr Erde von oben zu lösen.
Endlich war ich fertig und blickte hindurch. Der Garten nahm Gestalt an: Eine Gruppe Bäume, deren Wipfel sich dem Horizont entgegenbeugten. Hinter diesen Bäumen war ein weisses Häuschen zu sehen, Blumen umgürteten es. Mehr war mir nicht möglich zu sehen. Doch die kämpferische Seite in mir war neu entfacht worden. Schaffte ich es, diesen Garten zu erreichen, musste ich die Leere auf dieser Seite der Mauer nicht mehr fürchten. Nur: Ich hatte keine Ahnung, wie ich das schaffen konnte, denn meine Kraft reichte gerade dazu aus, die Ritze in dieser Mauer von einem kleinen Bisschen Erde zu befreien. Wie also sollte ich auf die andere Seite der Mauer gelangen, mich retten? Gierig saugte ich mit meinem Blick die Bilder auf, die ich sah – bestrebt, sie nie wieder loszulassen. Meine Augen wurden müder und ich konnte nichts mehr als die Schemen der Bäume erkennen. Im Haus ah ich kein Licht, keine Bewegung – war es unbewohnt? Das liess meine Hoffnung wieder schmelzen und ich legte mich erschöpft an die kalte Mauer. Im Einschlafen fragte ich mich, ob die andere Seite wohl wärmer war.

Ein leises, schabendes Geräusch weckte mich. Erschrocken richtete ich meinen Oberkörper auf. Noch nie hatte ich hier irgendetwas wahrgenommen, ausser der kalten Erde und der undurchdringbaren Mauer. Und jetzt… „Hallo?“ zögernd - ich hatte Angst, dass meine Worte nur in der Leere dieses Raumes verschwanden - versuchte ich mich bemerkbar zu machen. Das Schaben hielt inne, es musste mich gehört haben. „Hallo!“ rief ich lauter. Mein Atem beschleunigte sich. Aufgeregt drückte ich mein Auge an die Ritze. Jemand war im Garten! Und dieser Jemand hatte mich gehört. Ich rief ein drittes Mal. Ein Auge erschien in der Ritze und wurde grösser, als es mich sah. Wie durch dickes Glas hörte ich eine Stimme. „Wer bist du?“ Vor Aufregung konnte ich kaum antworten.
„Ich bin Malte. Wie heisst du?“
„Ich bin Jan.“
Er schien mir noch jung, vielleicht nicht einmal älter als zwölf Jahre. Seine Stimme drang erneut an mein Ohr: „Warum bist du da… drüben? Ich habe gedacht, dass hinter der Mauer nichts existiert. Aber du scheinst real. Wie bist du dorthin gekommen?“
Ich zuckte mit den Schultern, aber mir wurde gleich darauf klar, dass er mich ja nicht sehen konnte. Ich antwortete: „Hier existiert auch nichts, es ist leer und ich glaube nicht, dass Lebendes hier sein darf. Wie ich hierher gekommen bin, weiss ich nicht mehr. Aber ich kann nicht weg – ich bin verletzt.“
„Ich weiss auch keinen Weg hinüber. Ich wusste nicht, dass auf der anderen Seite der Mauer etwas… nun, lebt.“
„Wie“, ich zögerte, „ist es auf der anderen Seite? Bei dir?“
In Jans Auge trat ein seltsames Leuchten. Doch auch er zögerte. Schliesslich, fast widerwillig, erzählte er vom Garten, den ich gesehen hatte. „Es hat Bäume hier und Blumen. Mein Haus ist weiss. Vielleicht hast du es ja gesehen. Jeden Morgen, wenn ich hier bei der Mauer die Pflanzen giesse, sie pflege, begleitet mich die Stille des Gartens. Nein, sonst findet kaum jemand hierher, nur selten. Aber die kommen sind ebenso schweigsam wie das meiste hier.“ Jan hielt inne, er schien mich fragen zu wollen, ob ich das aushalte, ob ich die Bilder, die er malte, ertragen würde. Ich antwortete leise auf seine ungestellte Frage. „Bitte… erzähle weiter. Ich sehne mich nach deiner Welt. Hier gibt es nichts ausser dieser einen Ritze in der Mauer, und eine lange Strecke über nur graue Steine, sorgsam und ohne Lücke aufgebaut... Der Boden ist kahl, nur wenig hartes Gras wächst hier. Und das Licht der Sonne wirkt seltsam leblos. Erzählst du aber von deiner Welt, dann dringt ein bisschen dieses Lebens hier ein und lässt verborgene Samen tief in der Erde reifen, lässt die Mauer dünner werden.“
Jans Augen zeigten mir sein Lächeln. „Dann erzähle ich dir gerne weiter, ein anderes Mal. Ich muss jetzt gehen.“
Ich machte eine jähe Bewegung, die ihn zurückhalten sollte. Die Mauer bremste mich ab, Jans Erzählung hatte mich den kalten Stein vergessen lassen. „Warum gehst du?“ fragte ich hastig, in der Hoffnung, er würde bleiben. Er antwortete so leise, dass ich es fast nicht verstehen konnte: „Ich kann nicht länger bleiben, ich habe noch zu arbeiten.“
Der Tag war düsterer als sonst, als Jan in sein weisses Haus verschwunden war. Irgendwann schlief ich unruhig ein, träumte ohne mich daran zu erinnern. Als ich erwachte, fühlte ich mich nicht ausgeruht, im Gegenteil: Ich hatte das Gefühl, im Schlaf viele Kämpfe gefochten zu haben.

Die Sonne ging ihren Weg, aber Jan tauchte nicht auf. Gegen Mittag war ich nahe dem Verzweifeln, mein Auge suchte unablässig die Haustür auf der anderen Seite der Mauer, doch ich konnte sie weder entdecken noch hörte ich ihr Zuschlagen. Wo war Jan? Er, der auf der Seite des Lebens stand, dort, wo die Bäume in einen sanften Wind Geschichten wisperten – so als dürften nur die Lebenden von dem erfahren, was sie zu erzählen hatten. Ich sah sie flüsternd in einem Wind, den ich nicht spüren konnte. Ich sah sie ihre Köpfe zueinander neigen und sich im Geheimen umarmen. Die Blumen zu ihren Füssen schienen ihre Blütenkelche den Baumkronen entgegenzurecken – erfolglos allerdings. Nirgends aber war Jan. Ich rief, aber er musste zu weit weg sein, als dass er mein Rufen hätte hören können. Irgendwann rollte ich mich ausgelaugt auf den Rücken und beobachtete mein eigenes Land. Seit ich hier war, hatte sich nichts verändert, keine Blüten, die sich abends schlafen legten, keine flüsternden Baumseelen, nur dieses harte Gras – von der Öde dieses Ortes längst ausgetrocknet – und der kalte Stein. Das Muster der Steine in der Mauer zog sich endlos eintönig hin, aus den Ritzen spross kein Unkraut, keine noch so zarte und zerbrechliche Blume. Ich zog meine Beine an, doch nur das rechte gehorchte, im anderen war kaum Leben mehr. Die leise Frage, die ich mir schon stellte, seit das linke Bein langsam abstarb, erklang erneut in meinem Innern, hallte wider wie in einer leeren Wohnung, deren Bewohner sich ein neues Zuhause gesucht hatte. Würde ich, würde mein Geist, ebenso absterben? Sich allmählich von meinem Körper trennen und dann ins Nichts entschwinden? Ich fürchtete mich, denn ich hatte mir den Ort meines Todes nicht so vorgestellt. Es war so kahl hier, meine Augen verloren sich in der Ferne, blieben an einem nicht existenten Punkt in der gleichmässigen Fläche dieser Welt hängen. Die einzige konstante Linie hier bildete die Mauer, aber ihre Kälte stiess mich weiter in dieses unbekannte Land, in das ich nicht gehen wollte. Wo war nur Jan, er konnte meine Verbindung zu der anderen Seite der Mauer sein – warum nur kam er nicht? Die Sonne hatte den Zenit bestimmt längst überschritten, ich konnte es nicht mehr genau einschätzen, die Zeit verschmolz hier in einem einzigen Punkt, der ewig andauerte, in dem sich Sonne und Mond abwechselten. In Jans Welt gab es eine Zeit, an der ich teilhaben wollte. Wo war nur Jan?

Der Nachmittag schritt unerbittlich voran. Ein Blick in den Garten sagte mir, dass er nun ebenso verlassen dalag, wie meine Welt. Immer noch hüllte sich das weisse Haus in eisiges Schweigen und kein Licht brannte. Ich versank wieder in meiner Gedankenwelt, die fernab der Welt lag, in der ich mich jetzt befand, aber sie war auch nicht in dem Garten auf der anderen Seite der Mauer zu finden.

Unzählige Male glaubte ich, Jan im Haus zu sehen. Aber er war es nie. Einmal, ich war beinahe ob meiner Erschöpfung eingeschlafen, glaubte ich Jans Stimme zu hören. „Ist alles in Ordnung bei dir?“ Ich wollte antworten, wollte ihm erzählen, wie es mir ging, was ich für Träume und Ängste hatte. Doch als ich durch die Ritze blickte, was Jan nirgendwo.

Die Sonne, die die kahle Erde meiner Seite der Mauer beschien, empfand ich auf einmal nur noch als gestohlen. Er gehörte nicht hierher. Sie gehörte zu Jans Welt. Alles, was durch die Ritze gedrungen war, durch Jans Worte und durch meine Beobachtungen, war fremd hier. Die Mauer, die mich von Jan und seiner Welt trennte, hätte niemals dünner werden dürfen. Während der Mond seinen Weg nach drüben suchte, griff ich nach loser Erde auf meiner Seite der Mauer. Ich schloss die Ritze in der Mauer, bis nichts mehr zu mir dringen konnte. Als ich nicht mehr in den Garten Jans sehen konnte, sank meine Hand langsam auf das harte Gras. Jans Stimme verblasste.

 

Im Rahmen meiner Maturaarbeit habe ich diese Geschichte erneut genauer betrachtet und ihr noch einige Änderungen beigefügt.

 

Hi Marana,

deine Geschichte gefällt mir, macht mich aber auch betroffen.

Ich weiß nicht was du Aussagen möchtest, doch ich sehe vor mir einen Menschen, der im Koma liegt.
Sein Bewußtsein liegt schon hinter der Mauer des Lebens. In dieser Zwischenwelt, wo er darauf wartet, dass sich sein Geist vom Körper löst.
Doch ist er noch nicht bereit. Er versucht zu kämpfen.
Dann hört er Geräusche.
Vielleicht nimmt er jetzt wahr, das jemand in sein Zimmer kommt.
Sein Unterbewußtsein öffnet eine kleine Spalte zum Leben außerhalb seiner Traumwelt. Es ist ein letztes Aufbäumen vor dem Tod.
Er sieht jemanden, vielleicht ein Arzt, ein Pfleger, oder ein Familienmitglied.
Doch das was er erlebt ist seine Fantasie, geboren aus den Sinneseindrücken von außen. (So wie man kurz vor dem Erwachen, von außen etwas hört und im Traum verarbeitet)
Der Besuch, in seiner Vorstellung, der Junge aus dem Garten geht, kommt wieder. Wo zuerst Hoffnung war, wächst die Erkenntnis, es hat keinen Sinn . Dein Prot ist nicht mehr zu retten. Er weiß es und sein Besuch weiß es.
Die Seele deines Prots, spürt die Traurigkeit des anderen, merkt dass er ihm die "Sonne" zum Leben nimmt.
Das will er nicht. Also verschließt er den Spalt in der "Mauer", nimmt sein Schicksal an.
Seine Hand fällt auf das harte Gras, er hört die Stimme aus dem Leben nicht mehr.
Er stirbt.

Deine Geschichte ist gut geschrieben.
Würde mich interessieren, was deine Intention war.

lieben Gruß, coleratio

 

Hi Coletario!
Vielen Dank für deinen Kommentar! Ich freue mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat.

Meine Intention...
Nun, im Grunde genommen wollte ich ungefähr das aussagen, was du auch geschrieben hast. Malte wartet auf den Tod, will aber nicht sterben. Er klammert sich verzweifelt an das Leben - etwas, das ihm aber nicht mehr gehören kann. Ein letztes Aufbäumen, ja. Eine letzte Hoffnung. Aber schliesslich sieht er ein (muss einsehen), dass es eine trügerische Hoffnung ist und er lässt los, stirbt.

Ich war und bin immer noch erstaunt, wie viele Möglichkeiten es gibt, diese Geschichte zu interpretieren. Ich bin bisher mit jeder (jedenfalls hier auf kg.de) einverstanden, jede dieser Facetten spiegelt sich in meinem Text. Und für jeden ist eine eigene Interpretation möglich: Koma, Depression... Es gibt (mindestens) zwei Welten, die aufeinanderprallen. Die eine dem Tod nahe (in welcher Form auch immer), die andere in einem Garten, in einer anderen Welt beinahe. Malte schwebt in der Mitte, zwischen Tod und Leben. Der Garten ist eine reine Version, kein Zwischending.

Ich wünsche dir noch einen schönen Abend!
Lieber Gruss,
Marana

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Marana,

Ich fand deine Geschichte wirklich sehr fesselnd und schön geschrieben. :thumbsup:
Da dir viele ihre Interpretation mitgeteilt haben, will ich dir meine auch nicht vorenthalten:

Für mich leben Malte und Jan auch in ganz unterschiedlichen Welten. Wobei es sich aber um zwei verschiedene Sichtweisen einer Welt handelt. Jan ist noch jung, erst 12. Er sieht die Welt noch mit den Augen eines Kindes. Für ihn ist die Welt noch bunt und fröhlich wie ein Garten, er fühlt sich in ihr geborgen und denkt in ihr könne ihm nie etwas Schlimmes passieren. Malte war auch einmal in Jans Welt, er hat aber eine Entwicklung durchgemacht, ist älter geworden. Er wurde mit der oft harten und grausamen Realität unserer Welt konfrontiert. Er hat noch mühe in dieser neuen Welt zurechtzukommen, ist auch schon auf die Nase gefallen (davon kommen die Verletzungen). Der Weg ist für ihn noch lang und steinig bis er mit beiden Beinen im Leben stehen kann. Er hat Angst, dass er nie in dieser Welt zurechtkommen wird (Tod). Die Sonne symbolisiert für mich die schönen, manchmal raren Augenblicke im Leben. Als Malte Jan trifft, erinnert er sich an die Zeiten als er auch so jung war (dies durch das Loch in der Mauer). Malte sehnt sich nach Jans Welt, merkt aber dass es nie wieder möglich sein wird in diese Welt zurückzukehren (verschliesst deshalb das Loch). Jan distanziert sich auch von Maltes Welt, er fühlt sich ihr noch nicht gewachsen und hat vielleicht auch ein wenig Angst vor ihr.
Die Mauer ist wie eine unsichtbare Mauer die zwischen Kindern und Erwachsenen liegt. Hat ein Mensch in seinem Leben diese Mauer einmal Überwunden, wird es ihm nie wieder möglich sein ein Kind zu sein.

Naja... Dies ist wohl nicht gerade das, was du mit deiner Geschichte aussagen wolltest, ich hoffe dir gefällt diese Interpretation trotzdem. :shy:

Gruss Aliesa

 

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