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Die zwei Seiten der Mauer
Die zwei Seiten der Mauer
Wie ich hierher geraten war, wusste ich nicht mehr. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, was vorher gewesen war. Gab es da überhaupt etwas, etwas ausser diesem kleinen Stückchen Erde? Tage und Nächte waren vergangen, während ich noch immer hier lag und wartete. Der Mond hatte bereits seine volle Gestalt erreicht – als ich die erste Nacht hier auf der kalten Erde lag, war der Mond nur eine schmale Sichel gewesen. Egal, bald würde der Morgen kommen.
Ich war in einer Abenddämmerung an diesen Ort gekommen, verletzt. Jetzt spürte ich mein linkes Bein nicht mehr, die ersten paar Tage war ich beinahe verrückt geworden – der Schmerz hatte jede Faser meines Körpers durchdrungen. Manchmal noch war da eine leise Erinnerung an den vergangenen Schmerz, aber es machte mir nur bewusst, dass ich von dieser Mauer nicht wieder weggehen konnte. Zu Beginn hatte ich oft geschrieen, in der Hoffnung, jemand würde kommen mich zu retten. Niemand war gekommen, die Mauer schirmte mich von allem ab.
Irgendwo an einem nicht erreichbaren Horizont erschien eine dreckige, rosa Linie, die vom kommenden Morgen sprach. Schweiss bildete sich auf meiner Stirn, als ich vorwärts robbte, um den Tau vom Gras abzulecken. Es war das Einzige, was ich zu mir zu nehmen im Stande war. Gerade, als ich meinen Durst so gut wie möglich gestillt hatte, fiel mein Blick auf eine Öffnung in der Mauer. All meine Sinne richteten sich auf dieses kleine Loch. Nach einem Moment absoluter Reglosigkeit robbte ich näher an die Mauer. Das Loch war klein, aber ich konnte mit einem Auge hindurchblicken. Es war kaum ein Loch, vielmehr eine Ritze. Durch die Zeit hatte sich Erde angereichert, die mir nun den Weg in diese andere Welt versperrte. Mit zittriger Hand versuchte ich, den Dreck weg zu schieben. Im selben Moment, als ich meinen Finger in die Ritze tauchte, wusste ich, dass ich das besser nicht getan hätte. Trockene Erde löste sich vom Stein über der Ritze und versperrte mir nun den Blick. Ich schrie, doch niemand würde mich hören. Erschöpft blieb ich liegen. Die Sonne stieg hoch an den Himmel und lächelte hinab – es schien mir, als wolle sie mir Mut geben.
Die ersten Sterne glommen bereits auf, als ich wieder erwachte. Ich fror, die Sonne glühte nur noch in weiter Ferne und brachte keine Wärme mehr. Es war still – wie immer. In den Tagen, die ich bereits hier lag, war noch kein Geräusch an meine Ohren gedrungen. Vergeblich hatte ich auf das Zirpen eines Sperlings gewartet. Nicht einmal die leise Melodie des Windes hatte bis hierher gelangen können. Dieser Ort war abgeschirmt von allem Existierenden, ich war hier nur ein Fremdkörper. Jenseits der Mauer war Leben, doch hier… war der Warteplatz auf den Tod. Die Mauer versperrte den Rückweg ins Leben, aber jetzt hatte ich dieses Loch gefunden. Das gab mir neuen Mut. Ich richtete mich ein wenig auf und blickte durch die Öffnung. Der Staub hatte sich verflüchtigt, nur eine hohe Schicht aus Erde verhinderte einen Blick in die Welt hinter der Mauer. Vorsichtig blies ich ein wenig Erde weg. Die Ritze wurde grösser, ich glaubte, einen Garten ausmachen zu können und fuhr fort, darauf bedacht, nicht noch mehr Erde von oben zu lösen.
Endlich war ich fertig und blickte hindurch. Der Garten nahm Gestalt an: Eine Gruppe Bäume, deren Wipfel sich der sinkenden Sonne entgegenbeugten. Hinter diesen Bäumen war ein weisses Häuschen zu sehen, mit einem Balkon und rund um diesen hatte jemand Blumen angepflanzt. Mehr war mir nicht möglich zu sehen. Doch die kämpferische Seite in mir war neu entfacht worden. Schaffte ich es, in diesen Garten zu gelangen, musste ich die Leere auf dieser Seite der Mauer nicht mehr fürchten. Nur: Ich hatte keine Ahnung, wie ich das schaffen konnte, denn meine Kraft reichte gerade dazu aus, die Ritze in dieser Mauer von einem kleinen Bisschen Erde zu befreien. Wie also sollte ich auf die andere Seite der Mauer gelangen, mich retten? Gierig saugte ich mit meinem Blick die Bilder auf, die ich sah – bestrebt, sie nie wieder loszulassen. Die Nacht brach herein und ich konnte nichts mehr als die Schemen der Bäume erkennen. Im Haus wurde kein Licht angezündet – war es unbewohnt? Das liess meine Hoffnung wieder schmelzen und ich legte mich erschöpft an die kalte Mauer. Im Einschlafen fragte ich mich, ob die andere Seite wohl wärmer war.
Ein leises, schabendes Geräusch weckte mich. Erschrocken richtete ich meinen Oberkörper auf. Noch nie hatte ich hier irgendetwas wahrgenommen, ausser der kalten Erde und der undurchdringbaren Mauer. Und jetzt… „Hallo?“ zögernd - ich hatte Angst, dass meine Worte nur in der Leere dieses Raumes verschwanden - versuchte ich mich bemerkbar zu machen. Das Schaben hielt inne, es musste mich gehört haben. „Hallo!“ rief ich lauter. Mein Atem beschleunigte sich. Aufgeregt drückte ich mein Auge an die Ritze. Jemand war im Garten! Und dieser Jemand hatte mich gehört. Ich rief ein drittes Mal. Ein Auge erschien in der Ritze und wurde grösser, als es mich sah. Wie durch dickes Glas hörte ich eine Stimme. „Wer bist du?“ Vor Aufregung konnte ich kaum antworten.
„Ich bin Malte. Wie heisst du?“
„Ich bin Jan.“
Er schien mir noch jung, wohl nicht älter als zwölf Jahre. Seine Stimme drang erneut an mein Ohr: „Warum bist du da… drüben? Ich habe gedacht, dass hinter der Mauer nichts existiert. Aber du scheinst real. Wie bist du dorthin gekommen?“
Ich zuckte mit den Schultern, aber mir wurde gleich darauf klar, dass er mich ja nicht sehen konnte. Ich antwortete: „Hier existiert auch nichts, es ist leer und ich glaube nicht, dass Lebendes hier sein darf. Wie ich hierher gekommen bin, weiss ich nicht mehr. Aber ich kann nicht weg – ich bin verletzt.“
„Ich weiss auch keinen Weg hinüber. Ich wusste nicht, dass auf der anderen Seite der Mauer etwas… nun, lebt.“
„Wie“, ich zögerte, „ist es auf der anderen Seite? Bei dir?“
In Jans Auge trat ein seltsames Leuchten. Doch auch er zögerte. Schliesslich, fast widerwillig, erzählte er vom Garten, den ich gesehen hatte. „Es hat Bäume hier und Blumen. Mein Haus ist weiss. Die Tiere des Tages verkriechen sich langsam in ihren Schlupfwinkeln und machen denjenigen der Nacht Platz. Es wird kühl, aber noch ist es angenehm.“ Jan hielt inne, er schien mich fragen zu wollen, ob ich das aushalte, ob ich die Bilder, die er malte, ertragen würde. Ich antwortete leise auf seine ungestellte Frage. „Bitte… erzähle weiter. Ich sehne mich nach deiner Welt. Hier gibt es nichts ausser dieser einen Ritze in der Mauer, die deine und meine Welt verbindet. Der Boden ist kahl, nur wenig hartes Gras wächst hier. Und das Licht der Sonne wirkt seltsam leblos. Erzählst du aber von deiner Welt, dann dringt ein bisschen dieses Lebens hier ein und lässt verborgene Samen tief in der Erde reifen, lässt die Mauer dünner werden.“
Jans Augen zeigten mir sein Lächeln. „Dann erzähle ich dir gerne weiter, ein anderes Mal. Ich muss jetzt gehen.
Ich machte eine jähe Bewegung, die ihn zurückhalten sollte. Die Mauer bremste mich ab, Jans Erzählung hatte mich den kalten Stein vergessen lassen. „Warum gehst du?“ fragte ich hastig, in der Hoffnung, er würde bleiben. Er antwortete so leise, dass ich es fast nicht verstehen konnte: „Hier ist es Nacht, ich muss nach Hause.“ Er war noch ein Kind.
Die Nacht war dunkler als sonst, als Jan in sein weisses Haus verschwunden war. Irgendwann schlief ich unruhig ein, träumte ohne mich daran zu erinnern. Als ich erwachte, fühlte ich mich nicht ausgeruht, im Gegenteil: Ich hatte das Gefühl, in der Nacht viele Kämpfe gefochten zu haben.
Die Sonne ging ihren Weg, aber Jan tauchte nicht auf. Gegen Mittag war ich nahe dem Verzweifeln, mein Auge suchte unablässig die Haustür auf der anderen Seite der Mauer, doch ich konnte sie weder entdecken noch hörte ich ihr Zuschlagen. Wo war Jan? Er, der auf der Seite des Lebens stand, dort, wo die Bäume in einen sanften Wind Geschichten wisperten – so als dürften nur die Lebenden von dem erfahren, was sie zu erzählen hatten. Ich sah sie flüsternd in einem Wind, den ich nicht spüren konnte. Ich sah sie ihre Köpfe zueinander neigen und sich im Geheimen umarmen. Die Blumen zu ihren Füssen schienen ihre Blütenkelche den Baumkronen entgegenzurecken – erfolglos allerdings. Nirgends aber war Jan. Ich rief, aber er musste zu weit weg sein, als dass er mein Rufen hätte hören können. Irgendwann rollte ich mich ausgelaugt auf den Rücken und beobachtete mein eigenes Land. Seit ich hier war, hatte sich nichts verändert, keine Blüten, die sich abends schlafen legten, keine flüsternden Baumseelen, nur dieses harte Gras – von der Öde dieses Ortes längst ausgetrocknet – und die kalte Mauer. Das Muster der Steine in der Mauer zog sich endlos eintönig hin, aus den Ritzen spross kein Unkraut, keine noch so zarte und zerbrechliche Blume. Ich zog meine Beine an, doch nur das rechte gehorchte, im anderen war kaum Leben mehr. Die leise Frage, die ich mir schon stellte, seit das linke Bein langsam abstarb, erklang erneut in meinem Innern, hallte wider wie in einer leeren Wohnung, deren Bewohner sich ein neues Zuhause gesucht hatte. Würde ich, würde mein Geist, ebenso absterben? Sich allmählich von meinem Körper trennen und dann ins Nichts entschwinden? Ich fürchtete mich, denn ich hatte mir den Ort meines Todes nicht so vorgestellt. Es war so kahl hier, meine Augen verloren sich in der Ferne, blieben an einem nicht existenten Punkt in der gleichmässigen Fläche dieser Welt hängen. Die einzige konstante Linie hier bildete die Mauer, aber ihre Kälte stiess mich weiter in dieses unbekannte Land, in das ich nicht gehen wollte. Wo war nur Jan, er konnte meine Verbindung zu der anderen Seite der Mauer sein – warum nur kam er nicht? Die Sonne hatte den Zenit bestimmt längst überschritten, ich konnte es nicht mehr genau einschätzen, die Zeit verschmolz hier in einem einzigen Punkt, der ewig andauerte, in dem sich Sonne und Mond abwechselten. In Jans Welt gab es eine Zeit, an der ich teilhaben wollte. Wo war nur Jan?
Die Dämmerung verwischte die Spuren des Tages ohne Jan. Irgendwo am kalten Firmament erhob sich ein eisiger Mond, ferne Sterne umgaben ihn. Ein Blick in den Garten sagte mir, dass er nun ebenso verlassen dalag, wie meine Welt. Wieder hüllte sich das weisse Haus in eisiges Schweigen und kein Licht brannte. Ich versank erneut in meiner Gedankenwelt, die fernab der Welt lag, in der ich mich jetzt befand, aber sie war auch nicht in dem Garten auf der anderen Seite der Mauer zu finden. Ich schreckte auf, als ich Jans Stimme vernahm. „Entschuldige bitte.“
„Warum bist du nicht gekommen?“
„Ich… es war mir nicht möglich.“ Jans Auge wich meinem Blick aus.
Ich drang nicht weiter in ihn ein, vielleicht würde er es mir einmal sagen. „Jan, bitte erzähl’ mir von deiner Welt! Leuchtet bei euch der Mond auch?“
„Ja, es muss bald Vollmond sein.“
„Und… erzählen sich die Bäume… ihre Geschichten?“
Jan zuckte zusammen, als habe ich nach einem Geheimnis gefragt, welches über Tausende von Jahren sorgsam gehütet worden war. Sein Auge verschwand und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ich versuchte, irgendwie Jan zu finden, aber er war weg. Vergeblich rief ich ihn, er antwortete nicht. Ich liess meinen Kopf ins harte Gras sinken und wartete. Auf was ich wartete, wusste ich nicht.
„Malte?“
Ich wachte aus meiner Gedankenwelt auf. Jan war zurückgekehrt. „Warum bist vorhin weggegangen?“
„Ich…war nicht weg. Ich habe mich an die Mauer gelehnt.“
„Aber…“
„Lass gut sein!“ Jan unterbrach mich geduldig. „Es tut mir leid.“
Ich erwiderte nichts darauf. Auf einmal unterbrach Jan erneut die Stille. „Ja, es stimmt. Die Bäume erzählen sich Geschichten, aber… deine Frage hat mich daran erinnert, dass ich sie einst hören konnte. Doch ich verlernte es. Du magst vielleicht glauben, dass ich noch ein Kind bin und sie noch hören sollte, aber sie schweigen, wenn ich in ihrer Nähe bin. Und deine Frage hat mich getroffen. Weisst du, ich glaubte, alles bliebe so, wie es vor einigen Tagen noch war. Und die Mauer war für mich… das Ende. Und jetzt ist da dieses Loch. Und dieses Loch verbindet mich mit deiner Welt, die so leer ist. Sie zieht mich zu sich. Ich habe Angst. Angst davor, dass ich meiner Welt entschwinden werde. Seit ich dich, diese Ritze, gefunden habe, sind in meiner Welt viele Dinge verschwunden. Die Bäume haben aufgehört zu reden, der Blumen Farben verblassen. Der Mond hat sich entfernt, er geht nicht mehr seine alte Bahn. Alle Lebensenergie dieser Welt entschwindet langsam.“
Bald darauf war Jan gegangen. Den Mond, der die kahle Erde meiner Seite der Mauer beschien, empfand ich nur noch als gestohlen. Er gehörte nicht hierher. Er gehörte zu Jans Welt. Alles, was durch die Ritze gedrungen war, durch Jans Worte und durch meine Beobachtungen, war fremd hier. Die Mauer, die mich von Jan und seiner Welt trennte, hätte niemals dünner werden dürfen. Während der Mond seinen Weg nach drüben suchte, griff ich nach loser Erde auf meiner Seite der Mauer. Ich schloss die Ritze in der Mauer, bis nichts mehr zu mir dringen konnte. Als ich nicht mehr in den Garten Jans sehen konnte, sank meine Hand langsam auf das harte Gras. Jans Stimme verblasste.