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Dillons Asche
Vor zwei langen Monaten hatte ihr Mann wieder einmal seine Koffer gepackt. Er brauchte diese Auszeiten. Sie war zurückgeblieben, um die gemeinsamen Verpflichtungen zu erfüllen.
Seit dem Zeitpunkt der Abreise war Dillon ihr Gefährte geworden. Jede Nacht, wenn der Schleier des Schlafes sie einzuhüllen begann, spürte sie plötzlich seinen Körper an ihrer Seite. Sie nahm es niemals wahr, wenn er den Raum betrat. Er war einfach da. Er sprach niemals ein Wort und sagte doch tausende.
Dillon – und seine Metamorphose vom Eindringling, über den geduldeten Besucher bis hin zum sehnsüchtig erwarteten Gast. Dillon - ihr Seelentröster, ihr Vertrauter, dessen Augen immer die richtigen Worte fanden, um ihre Tränen zum Versiegen zu bringen und ihren Kummer zu ersticken. Dillon – ihr Liebhaber, der ihre unbändige, unkontrollierte Leidenschaft auf eine magische Weise zu entfesseln vermochte.
Sie räkelte sich ein wenig, damit noch ein Stückchen mehr von ihrer Haut Dillons Berührung genießen konnte. Sie trank gierig von den kostbaren Momenten mit ihm wie eine Verdurstende. Am Anfang hasste sie das Moschus-Zeug, das er benutzte. Doch nach einiger Zeit sog sie den Duft nach Mann und Moschus, der so unverwechselbar zu ihm gehörte, lüsternd in sich auf.
Ihr allnächtliches Rendezvous hätte ein Arrangement für die Ewigkeit sein können. Doch morgen würde ihr Mann zurückkommen. Er würde dann auf Dillons Platz liegen und sie berühren wollen. Das Wissen um diese Tatsache begleitete sie bis zum Morgengrauen. Als die ersten schwachen Lichtstrahlen durch ihre Vorhänge blinzelten, wusste sie, dass sie den Moment nicht mehr halten konnte. Dass die Zeit mit Dillon gleich einer Sanduhr unaufhaltsam ablief und sie nichts dagegen tun konnte. Ihre Augen waren voller Schmerz, und seine konnten nur mit noch größerem Schmerz antworten. „Ich werde morgen nicht allein sein. Du kannst nicht wiederkommen. Er würde es merken.“ Unter Tränen sprach sie aus, was sie von Anfang an gewusst, aber in ihren Gedanken niemals wirklich zugelassen hatten.
Dillon verstand. Sein schöner Körper begann zu zerfließen. Er wurde zu Strömen aus feinem Sand, die über ihre nackten Glieder liefen. Sie erzitterte unter der Lebendigkeit des warmen Sandes. Dann wich Stück für Stück das Leben und sie fand sich in einer endlosen, toten Wüste. Ihre Kehle war trocken und schrie vor Durst. Die Hitze setzte ihr zu, so dass ihre Stirn glänzte, wie nach einer unermesslichen Anstrengung.
Die Atmosphäre in der weitläufigen Halle des Flughafens erinnerte an einen Ameisenhaufen. Alles kleine Ameisen mit Koffern, die ein- oder auscheckten, Verwandte küssten, ihrem letzten Aufruf folgten, angeregt telefonierend flanierten oder Tüten mit Parfüm und viel zu teurer Schokolade trugen.
Als die Türen sich zu den Seiten wegschoben, erschien ihr Mann auf der Bildfläche. Sein Blick streifte suchend die Wartenden, bis er bei ihr abrupt zum Stehen kam. Seine Miene erhellte sich, sein Schritt wurde schneller. Als er bei ihr war, schloss er sie strahlend vor Wiedersehensfreude in seine Arme, hob sie an und wirbelte sie wie ein kleiner Junge durch die Luft.
Sie ließ es geschehen. Es war kein Widerstand in ihr. Nur Leere. Die Leere war eine duldsame Sklavin.
Die nächsten Tage würden seinen Reiseberichten vorbehalten sein. Der lustige Fischverkäufer, der verschwundene Koffer bei der Ankunft, das zuvorkommende Personal in dem kleinen Hotel, das Malheur mit dem Schlüssel, die üppige Vegetation, die ganzen japanischen Touristen mit Fotoapparaten, das Mitbringsel für seine Eltern, der Gitarrenspieler, der ihn zum Mitsingen animiert hatte. Die Reihenfolge war willkürlich, der Inhalt auch nicht bedeutungsvoller.
Irgendwann würde er artig die Frage stellen, wie es ihr denn ergangen sei. Schade nur, dass, wenn sie darauf hin beginnen würde, Luft für eine Entgegnung zu holen, spontan noch eine Anekdote unbedingt sein scheinbar nie still stehendes Mitteilungsorgan verlassen wollte.
Natürlich gab es auch immer ein liebevoll ausgewähltes Ich-bin-wieder-da-jetzt-freu-Dich-Geschenk.
Russland hatte ihn zu diesen kleinen bemalten Püppchen inspiriert, die am wenigsten Platz auf dem Schrank einnahmen, wenn man sie ineinander stellte. Das Bauchtänzerinnen-Kostüm, das wohl einen Hauch von Orient in ihr Leben zaubern sollte, hatte ihr leider nicht gepasst. Der Boomerang und ihre Wurftechnik hatten auch nach drei Tagen intensiver Bemühungen im Stadtpark nicht wirklich zueinander finden können. Was würde es diesmal sein? Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen. Wo war der Knopf zum Vorspulen?
Doch diesmal unterschied sich sein Geschenk von den Unerfreulichkeiten der Vergangenheit. Aus der großen Papiertüte zog er eine Art Amphore. Sie war aus azurblauem zartem Glas gefertigt, und die Welt um sie herum trat einen Schritt zurück, um der puren Schönheit Raum zur Entfaltung zu geben.
„Das hier habe ich Dir mitgebracht. In der letzten Woche habe ich einen tollen Platz entdeckt. Nächstes Mal kommst Du mit, wenn ich dahin fahre. Aber hier ist schon einmal ein Vorgeschmack.“ Er wippte vor Begeisterung mit dem Kopf. „Mach schon auf!“
Er wünschte sich ihre Begleitung auf der nächsten Reise. Sein Geschenk war geschmackvoll und wahrlich besonders. Er freute sich so sehr, sie wiederzusehen. Vielleicht war dies ein neuer Anfang. Eine Chance für die Gemeinsamkeit und Verbundenheit. Ein Wegweiser der Hoffnung für ihre Beziehung.
Vorsichtig öffnete sie den üppig verzierten Korkverschluss. Als sie in das Gefäß linste, sah sie den feinen Sand. Beklemmung übermannte sie, und es war, als ob ihr irgend etwas oder jemand die Kehle zudrückte. Ein warmer Hauch und der Duft von Mann und Moschus strömten ihr entgegen.
Ihre Hände verspannten sich, und das feine Glas vermochte dem unkontrollierten Druck ihrer Finger nicht länger Stand zu halten. „Neeeeeeeein!“ , ihr entsetzter Schrei hallte durch den Flughafenterminal und lähmte die Ameisen.
Sie musste sehr, sehr unglücklich gefallen sein, als sie zu Boden glitt. Die Scherben der Urne zerschnitten ihre Hände und Unterarme und ihr heißes Blut färbte Dillons Asche in dem gigantischsten Rot, das diese Welt jemals gesehen hatte. Von den Umstehenden wussten nur diejenigen, die genau wie sie die Gestalten der Nacht in ihr Erleben ließen, dieses imposante Schauspiel zu deuten.