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Drinks für sie

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09.05.2004
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Drinks für sie

Ich sitze hier. Wieder einmal. Beinah täglich teile ich die von Zigarrenrauch verpestete Luft und die bakterienverseuchten Drinks mit denselben betrunkenen Arbeitslosen, Geschiedenen und Pennern.
Es widert mich an, wenn ich sehe, wie sich manche Männer gehen lassen. Wenn ich sehe, wie sie ein billiges Bier nach dem anderen in ihre süchtige Kehle hinunterschütten, eine Zigarette nach der anderen qualmen.
Ihre Entschuldigung? Ja, ich habe meinen Job verloren, doch wenn ich genug trinke, wird es besser. Meine Frau vögelt mit ihrem Chef, oh Verzeihung, meine Exfrau vögelt mit ihrem Chef.
Woher ich ihre Ausreden kenne? Nun, ich müsste blinder sein als Stevie Wonder, nicht aus ihren Gesichtern genau diese Vorwände lesen zu können. Manchmal wird mir aber auch ein Gespräch aufgedrängt, ein Betrunkener haucht mir seinen Bieratem ins Gesicht, während er sich darüber auslässt, wie schlecht die Welt geworden ist.
Wie gesagt, es widert mich an.
Weshalb ich mich von all diesen Menschen unterscheide? Weshalb ich mich über sie auslasse, während mein bereits fünftes Glas Scotch auf dem Tresen steht und in meinem rechten Mundwinkel eine Zigarette baumelt?
Der Grund tritt soeben durch die Tür zum Hinterzimmer in den verqualmten Raum. Sie trägt wieder dieses wundervolle weiße Hemd, wie jeden Abend in den letzten zwölf Wochen. Ihr schwarzes Haar hat sie zu einem Dutt gezwirbelt, kleine Strähnen hängen vor ihren Augen. Immer wieder bläst sie das Haar aus ihrem Gesicht.
Ihre Fingernägel sind in demselben Rot lackiert, in dem auch ihre Lippen schimmern. Die Augen hat sie blau umrandet.
Heute Abend sieht sie schöner aus, als je zuvor. Ja, ich weiß, gestern sagte ich das Gleiche. Doch heute ist es tatsächlich wahr.
Andere Männer halten sie für hässlich. Ihre Hüften sind zu breit, ihre Nase zu flach und ihre Zähne schief.
Doch für mich ist sie perfekt.
In den letzten Wochen habe ich jeden Abend versucht, sie anzusprechen. Immer irgendein Gespräch zu beginnen. Jedes Mal öffne ich meinen Mund und alles was ich sagen kann, ist: „Bitte noch einen.“ Und auch ihre Antwort bleibt immer gleich, ändert sich nie: „Kommt sofort, mein Süßer.“
Weshalb schaffe ich es nicht, mit ihr zu sprechen? Habe ich Angst, dumm zu klingen? Oder habe ich Angst, dass sie sich als dumm herausstellt? Ich weiß es nicht.
Als ich vor Wochen diese Taverne das erste Mal besuchte, wollte ich meiner Wohnung fern bleiben. Meine Frau trieb es gerade mit ihrem Filialleiter, da passte ich nicht ins Bild. Ich ließ ihnen ihre Privatsphäre und kehrte in die nächstbeste Bar ein.
Und da stand sie. Schenkte in geübten Bewegungen Bier in Gläser ein, gab der Jukebox einen gekonnten Schlag und brachte sie wieder zum Laufen.
Ich setzte mich an den Tresen, um ihr so nah wie möglich zu sein.
„Was darf’s sein?“, fragte sie mich mit einem hinreißenden Lächeln, bei dem sie eine Zahnlücke entblößte.
„Scotch.“
„Kommt sofort, mein Süßer.“
Seit diesem Gespräch spiele ich jeden Tag perfekt meine Rolle. Auch sie verpasst nie ihren Einsatz.
Heute jedoch möchte ich improvisieren.
Sie trocknet ein nasses Glas mit einem Geschirrtuch, summt zum eben laufenden Song und wippt mit dem Kopf.
Ich sehe sie an, meine Augen sind trotz des Alkohols klar und meine Gedanken gebündelt. Meine Lippen öffnen sich, warten auf meine Stimmbänder. Sie sieht mich an, ihre grünen Augen glänzen in dem trüben Licht.
Und als meine Stimme endlich ihren Dienst wieder aufnimmt, höre ich mich sagen:
„Bitte noch einen.“
Ich bleibe jeden Abend lange, bis in die frühen Morgenstunden. Bin immer einer der letzten Gäste. Das wird auch heute wieder so sein. Wo sollte ich auch hingehen wollen? Morgen kann ich ausschlafen, meinen Job habe ich schließlich bereits vor sechs Wochen verloren.
Doch ich möchte mich nicht hinter diesen lächerlichen Ausreden verstecken. Ich trinke nicht wegen meiner fremdgehenden Frau. Ich trinke auch nicht wegen meines verloren gegangenen Jobs.
Nein. Ich trinke nur für sie.

© Tamira Samir

 

hi Zao!

die sich zweifellos sehr gut liest, denn Stil und Wortwahl sind, meiner Meinung nach, auf hohem Niveau.
also, das hör ich doch gern! :D

Mit der Sparte war ich mir nicht so sicher. Ich hab mir nur gedacht, wegen der Frau passts scho ein bisserl.

Vielen Dank fürs Lesen, macht mich echt happy. :shy:


cu Tama

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Tamira!

Hat mir gut gefallen, Deine Geschichte. :)
Ein interessanter Einblick in die Gedanken Deines Protagonisten, irgendwie traurig, hoffnungslos und melancholisch, zugleich voller Sehnsucht, die nicht gelebt werden kann, weil der Mut fehlt, den ersten Schritt zu tun. Der Alkohol ist Bauarbeiter und hilft, ein schützendes Gebäude aus Selbstlügen zu bauen, in dem man sich gut verstecken kann…
Auch stilistisch war sie ganz angenehm zu lesen.

Ein paar Kleinigkeiten noch:

»„Bitte noch Einen.“«
einen (dahinter steht ja eigentlich „Scotch“, auch wenn er das in Deutsprache gesagt hat ;))

»Habe ich Angst dumm zu klingen?«
– Angst, dumm

»und kehrte in die nächst beste Bar ein.«
– nächstbeste (zusammen)

»gab der Jukebox einen gelernten Schlag«
– besser würde mir gefallen „einen gekonnten Schlag“, eventuell auch „einen geübten“

»„Was darf’s sein?“ fragte sie«
– sein?“, fragte

Liebe Grüße,
Susi :)

PS.: Was die Rubrik betrifft: Ich finde schon, daß die Geschichte hierher paßt - schließlich ist Dein Protagonist wohl für immer verliebt, auch, wenn es ziemlich "problematisch" ist. ;)

 

hi Häferl!

Danke fürs Lesen und deine Kritik! Vor allem für das Lob :)
(Lob von einem Veteran :shy: )

Die Fehler hab ich gleich ausgebessert.

»„Bitte noch Einen.“«
Da war ich mir ned sicher ob man Einen groß oder klein schreibt. Danke für die Aufklärung.

cu Tama

 

Hi Tamira,

ja, die Ausflüchte und Rechtfertigungen, die wir uns für unser Tun suchen, sind schon so vielfältig, wie die Begründungen, mit denen wir andere verachten. ;)

Deine Geschichte hat mir gut gefallen. Vielleicht schafft dein Prot es ja irgendwann noch, das Getränk zu wechseln ;)

Lieben Gruß, sim

 

hi sim!

danke fürs Lesen!

Und schön, dass 's dir gefallen hat. Hört man doch gerne :cool:

cu Tama

 

Hi "Eigentlich-doch-Horrorfrau-oder?",

hier zeigst Du mal wieder, dass Du Dich in jeder "Sparte" gut zurecht findest. Kompliment.

Zu Deiner Geschichte: Es war tatsächlich eine story, bei der ich das Grinsen nicht aus dem Gesicht bekam (oh Gott, was soll ich jetzt nur tun???) :D

Hat mir super gefallen; jeder trinkt, weil er irgendwelche Sorgen hat. Und doch sind es alle die Gleichen. Es wird halt nur anders ausgelegt.
Hoffe nur, Dein Prot trinkt sich die Frau nicht hübsch ... :aua:

Aber ich finde es ja interessant, welches Bild Du von uns Männern hast... :Pfeif:

War aber ne prima story!!!

Also, bis zum nächsten Mal! Aber vorher hätte ich gern noch ein assiges Bier ... :anstoss:

Salem

 

hi @ all:

danke fürs lesen und kommentieren (standardsatz, kann man den ned auf ein tastenkürzel legen?)


salem

Hi "Eigentlich-doch-Horrorfrau-oder?",
naja, kleine ideen gehören in eine kleine geschichte, und das kann ich beim horror gar ned :shy:

Zu Deiner Geschichte: Es war tatsächlich eine story, bei der ich das Grinsen nicht aus dem Gesicht bekam
das freut mich.


jo

Gut gefiel mir vor allem, wie sich dein Prot über die ihn umgebenden Menschen auslässt und er um keinen Deut besser ist als sie
das war auch beim schreiben irgendwie witzig ;)

freut mich, dass es euch gefallen hat

also bis dann

 

Hallo Tamira!

Coole Geschichte, nett geschrieben und amüsant.

Was hab ich noch zu sagen? Das Köstlichste war für mich:

Meine Frau trieb es gerade mit ihrem Filialleiter, da passte ich nicht ins Bild. Ich ließ ihnen ihre Privatsphäre und kehrte in die nächstbeste Bar ein.
Harte Selbstironie...

Irgendwie kam mir die Bar vor, als hätte es dort nur männliche Abstürze. Aber das weibliche Äquivalent hält sich meist am gleichen Ort auf. Aufgepeppelte Alttussen oder so.
Anderseits konzentriert sich die Story ja auf diese eine Frau, die 'mein Süsser' wohl nur aus Gewohnheit und des Jobs wegen sagt. Hast du übrigens gut beschrieben, mit der Zahnlücke und so :D.

Viele Grüsse,

Van

 

hi van!

danke und schön, dass es dir gefallen hat.

Irgendwie kam mir die Bar vor, als hätte es dort nur männliche Abstürze
ja,ja, klischee klischee...

Tama

 

Hallo Tamira,

eine gut geschriebene Geschichte, genug gesagt, um die Menschen und die Situation zu schildern, aber nicht zu dick aufgetragen.
Eine interessante Art, Selbstbetrug zu schildern und das ewige Bestreben der Menschen (trotz allem) besser als andere zu sein.

Alles Gute,

Tschüß... Woltochinon

 

wow, also dafür, dass ich die geschichte um mitternacht geschrieben habe, weil mir so langweilig war, kommt sie ja tatsächlich recht gut an!

man rechnet nie mit solchen dingen, ned wahr?

danke für den kommentar, woltochinon. lieb.

Tama

 

hey noel!

Und das Ende bietet genug Potential, um die Geschichte in meinem sonst so perversen Gedächtnis unvergesslich zu machen.
uuuuhhhh..... das war ja mal ein echt netter kommentar.
dieser satz wird sich in meinem gedächtnis unvergesslich machen. obs pervers ist, weiß ich nicht. das sehen wir noch. :D

vielen dank.

 

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