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Durchreise

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16.08.2001
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Durchreise

Das Nirvana einer durchwachten Nacht zog an ihren müden Augen vorbei, umhüllte sie mit einem dumpfen Gefühl übertauchter Müdigkeit, fast wie tiefer Narkoseschlaf. Sie musste erst die Gefühlsschwaden und Gedankenfetzen der vergangenen Stunden beiseite schieben, weil sie wie ein dichter Vorhang vor ihren Augen hingen und die Sicht trübten. Die Sicht auf das Essentielle, wirklich Wichtige.

Ihre Hände hatten sich irgendwann einmal berührt, richtigerweise sich in einem Moment der Unachtsamkeit gegenseitig gefangen und waren ineinander verblieben, so als ob sie immer schon zusammengehört hätten. Wie ein Teil, der einen anderen ergänzt und so ein Ganzes ergibt. Sie hatten sich in ihrer Unbefangenheit beide zu weit hinaus gewagt auf das glatte Eis, wussten nicht, was sie für den anderen, auch nicht, was sie für sich selbst damit anrichteten.
In ihm irgendwo ganz tief musste sich ein scheuer Mensch verbergen, jemand der oft den Zwang verspürte sich zurückzuziehen, unter diesem Rückzug litt und den Schmerz wie ein Stigmata mit sich herumtrug, das in regelmäßigen Abständen aufbrach. Er verstrahlte so viel Wärme und Sicherheit für sie, sah aber nur die eigenen Fallstricke und Untiefen, vor der er sie in einem fort warnte. Natürlich wusste sie nicht, was für ein Mensch er tatsächlich war, kannte nur den einen flüchtigen Eindruck einiger Stunden. Aber konnte sie sich so irren? Konnte er sich so verstellen? Sie wollte sich diese Fragen nicht stellen, wollte einfach nur herausfinden, wie er tickte, was ihn trieb, wer er war. Sie wollte mehr Zeit mit ihm verbringen, ihn kennenlernen, um schließlich den in ihm zu finden, vor dem er sie den ganzen Abend schon warnte. Nach seinen Schilderungen erwartete sie einem Ungeheuer zu begegnen, einem todtraurigen Wesen, dessen Schmerz und Leiden die Herzen jener Menschen lähmen, die sich ihm zu sehr nähern oder sich gar in ihn verlieben. Und dieses Ungetüm hielt er in den Kerkern seiner Seele gefangen, versuchte sie davor zu schützen, während er sich um die Möglichkeit brachte, gemeinsam mit ihr dieses Wesen endlich freizulassen und den leeren Raum mit Gefühlen aufzufüllen.
Das Risiko schien ihm zu groß zu sein. Er hatte in seiner Angst einen wahrhaft guten Kerkermeister gefunden, einer, der ihn ebenso gefangen hielt wie das Ungetüm in seiner Seele. Sie wollte ihn wachküssen, ihm für einen kurzen Moment zeigen, wie es sich anfühlen würde, dem Ungeheuer gemeinsam die Freiheit zu schenken und es endlich ziehen zu lassen.

Sie musste gegen eine wahre Bastion anrennen, ein Kampf gegen Windmühlen, der für sie aussichtsloser nicht hätte sein können. Denn es schien, als wolle er gar nicht von seiner Last befreit werden, als hätte er sich mit seinem Ungetüm angefreundet, als sei er der Gefangene. Durch den Nebel tauber Müdigkeit hallte ihr die Frage entgegen, wer hier gegen wen verteidigt werden sollte und fast erschien es ihr, also wolle er dieses ihm schon zum vertrauten Begleiter gewordene Ungeheuer vor sich selbst beschützen. Der Kerkermeister seiner selbst.

Seine Arme umschlossen sie wie starke Burgmauern einer Stadt. Sie fühlte sich in Sicherheit, hatte keine Angst vor dem Wesen, das da in ihm lauern sollte. Mit jedem Kuss, in den sie miteinander verschmolzen, wuchs der Berg an Schlüsseln vor ihr, aus dem sie den einen Passenden für das Gefängnis des Ungeheuers finden sollte. Eine aussichtslose Suche, denn schon türmten sich Tausende Schlüssel bis zur Decke, umgaben sie von allen Seiten. Diese Suche könnte für sie zur Lebensaufgabe werden, während er weit von ihr entfernt weiterhin sein Ungetüm gefangen hielt, vorgab mit ihm zu kämpfen, doch in Wahrheit sich schon lange mit ihm arrangiert hatte. Das begriff sie langsam, während sie in den Bergen von Schlüsseln wühlte, hastig, denn viel Zeit blieb ihr nicht, den Richtigen zu finden.

Als er ihr im Moment des Abschieds noch einmal den Schutz eines mittelalterlichen Bollwerks gab und sie in seiner Wärme versank, wusste sie, dass der passende Schlüssel für sein Gefängnis hier nicht zu finden war.
Je intensiver er sie küsste, umso distanzierter fühlte sie sich von ihm, so als ob er sie mit jedem Kuss weiter von sich wegschieben wollte. Da saß sie nun in einem Kahn, den er vom Steg losgemacht hatte, sie zum Abschied ein letztes Mal küsste und das Boot dann vom Ufer abstieß.

Du bist im falschen Märchen gelandet, Prinzessin. Du musst den Schlüssel nicht suchen, kannst es auch gar nicht, denn der Prinz möchte von seinem Ungeheuer nicht befreit werden. Das Tor zum Ungetüm verschließt ein Schlüssel, den er selbst in sich trägt und nicht bereit ist, Dich finden zu lassen. Mache Dich auf in Deinem Schiff, befahre weiter den Strom Deines Lebens und finde das richtige Märchen.

 

Hallo AndreaK.,
beim Lesen deiner Geschichte kamen mir zwei Gedanken nacheinander.
Zuerst : o nein, nicht sie auch (im Bezug auf mich)
und dann : also bitte! Geht doch!
Soll heissen : es gibt jede Menge Menschen, die "emotional" stark empfinden, aber!
auch die "stark empfindlichen" haben auch einen Verstand und wissen ihn zu benützen.
Finde es extrem ok, dass deine Prot sehr wohl fühlen kann, sich aber nicht "einfangen" läßt.
Nata

 

Abend!
Ich muss dir gestehen, dass ich mich mit dieser Geschichte extrem identifizieren konnte, das komische daran ist allerdings eher, dass ich nicht weiß, welcher Teil mir eher entspricht... Sie oder er?
Jedenfalls finde ich es gut, dass du so ein "kleines" Ding, etwas, das andere nie erfahren und übersehen würden, zum Thema einer Geschichte mit Pointe gemacht hast!
Dein Stil ist meiner Meinung nach irgendwie sehr blumig und manchmal nicht wirklich geradlinig, aber das ist es gerade, was ihn für mich interessant macht. Metaphern sind nicht jedermanns Sache. Der/die eine mag sie, der/die andere nicht. Wär aber vllt. gut, das Seil dabei nicht zu überspannen, bis man sich nicht mehr wirklich raussieht!

Sonst aber find ich's sehr gelungen!
Liebe Grüße!
Merdania

 

wow.
Punkt.
Verdammt gut beobachtet (bzw. gefühlt). Du hast m.M.n. sehr schöne und v.a. treffende Metaphern gefunden für das, was in ihm vorgeht, was sich in seinem Inneren abspielt. Z.B. "Und dieses Ungetüm hielt er in den Kerkern seiner Seele gefangen, versuchte sie davor zu schützen, während er sich um die Möglichkeit brachte, gemeinsam mit ihr dieses Wesen endlich freizulassen und den leeren Raum mit Gefühlen aufzufüllen." TOLL!
Und auch den Abschluss (das "richtige Märchen") fand ich sehr passend, um nicht zu sagen ideal für diese Geschichte *seufz*
Und: "Sie wollte ihn wachküssen, ihm für einen kurzen Moment zeigen, wie es sich anfühlen würde, dem Ungeheuer gemeinsam die Freiheit zu schenken und es endlich ziehen zu lassen." Da klingt das "Erlösungsmotiv" an... siehe Fliegender Holländer, siehe Steppenwolf (Senta/Hermine als "Erlöserin")... a propos Steppenwolf... also ich persönlich erkenne mich in IHM wieder, sowohl im Steppenwolf, als auch in Deinem Protagonisten.... wahrscheinlich berührt es mich deshalb so stark... offen gesagt, habe ich mich eine "gewisse" Phase meines Lebens auf so eine "Erlöserin" gewartet und mir in fiktiven Dialogen im Geiste ausgemalt, wie ich SIE, wenn ich sie bzw. wenn sie mich denn gefunden hätte und mich aus meinem Kerker, in den ich mich selbst bugsiert habe, "befreien" hätte wollen, Widerstand hätte leisten wollen, und OB, bzw. WIE sie denn wohl meinen Widerstand hätte überwinden können... ich habe diese Geistes-Dialoge nie aufgeschrieben, aber Deine Story hat mich dazu animiert bzw. motiviert, dies doch mal zu tun, weil ich könntz ja mal in zukünftigen meiner stories einbaun... hmm, wenn SIE die "Richtige" gewesen wäre, hätte sie sich von meinem "Steppenwolf-Ungeheuer" nicht abschrecken lassen und hätte auch einen Weg durch meine "Festungs-Anlagen" gefunden, untertunnelt, überflügelt, wie auch immer... es wäre ein "harter" Kampf (verbal!) geworden, an die innerste Substanz von uns beiden gehend, aufreibend, verletzend, schweisstreibend...ich würde sie an ihre Grenzen treiben, und sie mich, jaaa, auch SIE hätte ihre "dunklen" Seiten, ihr "beast within" (anders natürlch als meins, aber ebenso stark und unbeugsam, nein, so leicht würde ich nicht klein beigeben, sie aber auch nicht, zwei "Dickköpfe", die sich gefunden haben... und nach diesem Kampf wären unser beiden Ungeheuer bezwungen, nein nicht friedlich freigelassen und entfleucht, nein, Festungsmauern wären gesprengt, die Ungeheuer - unserer beide Ungeheuer - lägen am Boden zermetzelt in ihrem ätzenden, giftigen Blut , der von der Schlacht aufgewirbelte Staub würde sich legen, ein leichter Morgenwind würde den nebel des Krieges hinegwehen, die Sonne zaghaft, dann immer stärker das - ehemalige Schlachteld - in ein hoffungsvolles gelbes Licht tauchen und die beiden ehemaligen Kontrahenten - jetzt LIEBENDE - erwärmen... cut. die "Erlöserinnen-Phantasie" habe ich überwunden. ich brauche SIE nicht mehr. naja, nicht brauchen, aber vielleicht laufe ich ihr - und sie mir - doch noch mal über den weg...
ok, ich merke, ich schweife ab... schluss jezz.
steppenwölfiger Gruß: marmota

 

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