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Durchreise
Das Nirvana einer durchwachten Nacht zog an ihren müden Augen vorbei, umhüllte sie mit einem dumpfen Gefühl übertauchter Müdigkeit, fast wie tiefer Narkoseschlaf. Sie musste erst die Gefühlsschwaden und Gedankenfetzen der vergangenen Stunden beiseite schieben, weil sie wie ein dichter Vorhang vor ihren Augen hingen und die Sicht trübten. Die Sicht auf das Essentielle, wirklich Wichtige.
Ihre Hände hatten sich irgendwann einmal berührt, richtigerweise sich in einem Moment der Unachtsamkeit gegenseitig gefangen und waren ineinander verblieben, so als ob sie immer schon zusammengehört hätten. Wie ein Teil, der einen anderen ergänzt und so ein Ganzes ergibt. Sie hatten sich in ihrer Unbefangenheit beide zu weit hinaus gewagt auf das glatte Eis, wussten nicht, was sie für den anderen, auch nicht, was sie für sich selbst damit anrichteten.
In ihm irgendwo ganz tief musste sich ein scheuer Mensch verbergen, jemand der oft den Zwang verspürte sich zurückzuziehen, unter diesem Rückzug litt und den Schmerz wie ein Stigmata mit sich herumtrug, das in regelmäßigen Abständen aufbrach. Er verstrahlte so viel Wärme und Sicherheit für sie, sah aber nur die eigenen Fallstricke und Untiefen, vor der er sie in einem fort warnte. Natürlich wusste sie nicht, was für ein Mensch er tatsächlich war, kannte nur den einen flüchtigen Eindruck einiger Stunden. Aber konnte sie sich so irren? Konnte er sich so verstellen? Sie wollte sich diese Fragen nicht stellen, wollte einfach nur herausfinden, wie er tickte, was ihn trieb, wer er war. Sie wollte mehr Zeit mit ihm verbringen, ihn kennenlernen, um schließlich den in ihm zu finden, vor dem er sie den ganzen Abend schon warnte. Nach seinen Schilderungen erwartete sie einem Ungeheuer zu begegnen, einem todtraurigen Wesen, dessen Schmerz und Leiden die Herzen jener Menschen lähmen, die sich ihm zu sehr nähern oder sich gar in ihn verlieben. Und dieses Ungetüm hielt er in den Kerkern seiner Seele gefangen, versuchte sie davor zu schützen, während er sich um die Möglichkeit brachte, gemeinsam mit ihr dieses Wesen endlich freizulassen und den leeren Raum mit Gefühlen aufzufüllen.
Das Risiko schien ihm zu groß zu sein. Er hatte in seiner Angst einen wahrhaft guten Kerkermeister gefunden, einer, der ihn ebenso gefangen hielt wie das Ungetüm in seiner Seele. Sie wollte ihn wachküssen, ihm für einen kurzen Moment zeigen, wie es sich anfühlen würde, dem Ungeheuer gemeinsam die Freiheit zu schenken und es endlich ziehen zu lassen.
Sie musste gegen eine wahre Bastion anrennen, ein Kampf gegen Windmühlen, der für sie aussichtsloser nicht hätte sein können. Denn es schien, als wolle er gar nicht von seiner Last befreit werden, als hätte er sich mit seinem Ungetüm angefreundet, als sei er der Gefangene. Durch den Nebel tauber Müdigkeit hallte ihr die Frage entgegen, wer hier gegen wen verteidigt werden sollte und fast erschien es ihr, also wolle er dieses ihm schon zum vertrauten Begleiter gewordene Ungeheuer vor sich selbst beschützen. Der Kerkermeister seiner selbst.
Seine Arme umschlossen sie wie starke Burgmauern einer Stadt. Sie fühlte sich in Sicherheit, hatte keine Angst vor dem Wesen, das da in ihm lauern sollte. Mit jedem Kuss, in den sie miteinander verschmolzen, wuchs der Berg an Schlüsseln vor ihr, aus dem sie den einen Passenden für das Gefängnis des Ungeheuers finden sollte. Eine aussichtslose Suche, denn schon türmten sich Tausende Schlüssel bis zur Decke, umgaben sie von allen Seiten. Diese Suche könnte für sie zur Lebensaufgabe werden, während er weit von ihr entfernt weiterhin sein Ungetüm gefangen hielt, vorgab mit ihm zu kämpfen, doch in Wahrheit sich schon lange mit ihm arrangiert hatte. Das begriff sie langsam, während sie in den Bergen von Schlüsseln wühlte, hastig, denn viel Zeit blieb ihr nicht, den Richtigen zu finden.
Als er ihr im Moment des Abschieds noch einmal den Schutz eines mittelalterlichen Bollwerks gab und sie in seiner Wärme versank, wusste sie, dass der passende Schlüssel für sein Gefängnis hier nicht zu finden war.
Je intensiver er sie küsste, umso distanzierter fühlte sie sich von ihm, so als ob er sie mit jedem Kuss weiter von sich wegschieben wollte. Da saß sie nun in einem Kahn, den er vom Steg losgemacht hatte, sie zum Abschied ein letztes Mal küsste und das Boot dann vom Ufer abstieß.
Du bist im falschen Märchen gelandet, Prinzessin. Du musst den Schlüssel nicht suchen, kannst es auch gar nicht, denn der Prinz möchte von seinem Ungeheuer nicht befreit werden. Das Tor zum Ungetüm verschließt ein Schlüssel, den er selbst in sich trägt und nicht bereit ist, Dich finden zu lassen. Mache Dich auf in Deinem Schiff, befahre weiter den Strom Deines Lebens und finde das richtige Märchen.