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Ein bodenständiger Toilettenflieger
Ein bodenständiger Toilettenflieger
Als ich mich entschloss, mit meinen beiden Kindern die sechshundert Kilometer zu meinen Eltern mit dem Zug zurückzulegen, ahnte ich nicht, mit welch weisen Erkenntnissen wir dort ankommen würden.
Mein jüngster Sohn, ein vierjähriger Draufgänger, fuhr zum ersten Mal in einem ICE und war entsprechend aufgedreht. Er lief im rekordverdächtigen Zickzackkurs vor mir her durch die Gänge zu unserem Abteil.
Sein großer Bruder, zehnjährig – weltmännisch, saß schon auf seinem Platz und hörte per Kopfhörer Kanal 3.
Kaum hatte ich mir meine lädierten Kniekehlen (die Koffer der Mitreisenden treffen immer an die gleichen Stellen!) massiert, da verspürte das kleine Monster auch schon ein gewisses Bedürfnis und stürzte Richtung Tür. Ich konnte ihn gerade noch daran hindern, die Hose schon auf dem Gang auszuziehen..
Auf dem Örtchen angekommen, sah er sich staunend um, tat das, was er tun musste und drückte auf den beleuchteten Knopf über der Toilette. Er war gerade dabei, seine Unterhose wieder auf ihren angestammten Platz zu zerren, als es laut und vernehmlich zischte. Das erschreckte ihn dermaßen, dass ihm die Hose wieder auf die Knie zurückschlotterte. Das ganze Kind stand zitternd vor Angst da und hörte den Stakkatozischlauten der Toilettenspülung zu.
Draußen angekommen, sagte er nur: „Mensch, hat der mich abba aschreckt!“
Um ihn abzulenken lief ich mit ihm noch ein wenig den Gang, wo er am Fenster stehen blieb und staunend auf die vorbeifliegende Landschaft schaute.
Es war etwa fünf Minuten später, als er verkündete: „Jetzt muss ich abba großes AA machen!“ Auf meine Frage, warum er das nicht eben gleich miterledigt habe, gab der Lümmel keine Antwort. Also, zurück in die Folterkammer.
Dieses Mal nahm er das Gezische mit wahrem Heldenmut zu Kenntnis, auch die Hose blieb da, wo sie hingehörte. Er wusch sich sogar noch in aller Seelenruhe die Hände.
Aber dann stürzte er vor mir her in Richtung Abteil Nr. 5, Platz 15, dort wo sein Bruder völlig abwesend Märchen hörte, riss demselben eine Kopfhörermuschel zur Seite und brüllte ihm in voller Lautstärke folgendes ins Ohr: „Du, da drauß`n, da iss `ne fliegende Toilette, `ne fliegende!“, wobei er seinen rechten Zeigefinger in rascher Folge durch die Luft stieß.
Sein Bruder zuckte völlig überrascht mit dem Kopf zur Seite (ich hätte einen Herzinfarkt bekommen!) und schaute seinen kleinen Monsterbruder mit einem echt ätzenden Blick (10-jährige sind Weltmeister im ätzendblicken) an und sagte ebenso lautstark zu ihm: „Laß`mich in Ruhe, ich höre gerade `Der fliegende Koffer`!“ Worauf der Kleine mit verständnisloser Miene zurückbrüllte: „Nein, nich`n fliegender Koffer, `ne fliegende Toilette, komm`, ich zeig`s dir, komm`mit! Da wird das AA weggezischt, zzzschsch macht das, musst du auch mal?“
Das war der Moment, in dem mir ganz plötzlich einfiel, dass ich irgendeinen Knopf verloren haben könnte, letztes Jahr, in Abteil 327, rechts unten...
Ich krabbelte ein wenig herum und suchte. Den Knopf habe ich dieses Mal nicht gefunden, es ist ja auch so eng unter den Sitzen, besonders eng, wenn einem eine junge Nonne, das Jesuskreuz um den Hals baumelnd irritiert dabei zuschaut. Sie hat die ganze Fahrt über kein Wort mit mir gesprochen. Bis Fulda. Vielleicht war sie ja taub, wer weiß das schon.
Tja, unser großer Sohn hat wohl gespürt, dass sich sein kleiner Bruder verändert hat. Ein toilettenerfahrener, muterprobter und zischgeprüfter Mensch, dem er plötzlich gegenüber stand. Deshalb hat er sich entschlossen, sein eigenes „Bedürfnis“ nach diesem, wie er sagte, `Kleinkindertheater`hinten anzustellen. Vielleicht war das der Grund, warum er, kaum bei seinen Großeltern angekommen, in eine gewisse Richtung stürzte, die Tür aufriss und ich ein erleichtertes „Aahh“ hörte.
Das war die Geschichte vom Fliegenden Koffer, der lieber seine Geschäfte an Land erledigt, und die eines bodenständigen Toilettenfliegers.