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Ein Dessert am Hoellenschlund
Ein Dessert am Höllenschlund
Ein Dessert am Höllenschlund
"Bist du dir wirlich sicher?" fragte er zwischen zwei Bissen blutigen Steaks.
Auch wenn sein Vertrauen in Ezra beinahe unerschütterlich war, fiel es ihm doch schwer zu glauben, dass sich hier und heute der Höllenschlund auftun sollte. Vor allem hier. Das Gasthaus war gut besucht, viele Familien mit kleinen Kindern. Für seinen Geschmack etwas zu viele. Er befürchtete, dass jeden Augenblick einer von diesen unkontrollierten Winzlingen unter ihren Tisch und mitten in ihr Waffenarsenal stolpern würde.
Ezra stocherte ein wenig unwillig in ihrer Mousse au Chocolat herum. Sie schien seine Frage überhaupt nicht gehört zu haben. Der Blick ihrer merkwürdigen, dunklen Augen war leer.
"Was ist, Ezra?" fragte er.
Beim Klang ihres Namens schien sie von einem meilenweit entfernten Ort zurückzukehren. "Hm?"
"Stimmt etwas nicht?"
"Die Mousse hat Klümpchen." Sagte sie ein wenig quengelig. Hyde fiel es immer noch schwer sich darauf einzustellen, wie stark ihre Persönlichkeit schwankte: In einem Moment war sie die personifizierte Weisheit, von übermenschlicher innerer Ruhe, und im nächsten schien sie in eine präpubertäre Trotzphase zurückzufallen. Wenn er sie nicht so verzweifelt geliebt hätte, hätte er sie dafür wahrscheinlich abgrundtief gehasst.
"Dann lass es stehen." Erwiderte er mit erzwungener Gelassenheit. Seine Hand tastete zum hundertsten Mal die Waffen unter dem Tisch ab: Axt, Flammenwerfer, Sprengstoff, ein Gewehr, normale Munition, Silberkugeln, Holzkugeln, antikes Keltenschwert,…Sie waren für alle Eventualitäten ausgerüstet; Denn auch wenn Ezras Vorhersagen recht genau waren, was Ort und Zeit anging, ließen sie doch meist etwas zu wünschen übrig, was die Art des dämonischen Angriffs betraf. Wer schon mal versucht hatte, einen Vampir mit einer handelsüblichem Magnum niederzustrecken, mochte die Fatalität dieser kleinen Ungenauigkeit vielleicht ungefähr nachempfinden können.
"Bist du dir hiermit sicher?" fragte er noch einmal mit einer allumfassenden Geste.
Einen Moment liess Ezra ihren Blick durch den Raum schweifen, so als sähe sie die Plastiktische mit den blauen Plastikdecken, die Kinderspielecke mit dem liebevoll hingeworfenen Haufen Bauklötzchen und die mürrischen Bedienungen zum allerersten Mal. "Ja." Sagte sie knapp. Und dann, wieder etwas weinerlich: "Können wir die Mousse nicht zurückgehen lassen?"
Es gab eine leichte Erschütterung. Ein Mini-Erdbeben, das Ezras Mousse au Chocolat vom Tisch hüpfen ließ. "Das hat sich dann ja Gott sei Dank erledigt…" murmelte Hyde mehr zu sich selbst. Um sie herum brach gemäßigte Panik aus. Die meisten Leute waren von ihren Tischen aufgesprungen, nur wenige hatten die Geistesgegenwart sich darunter zu verkriechen. Ein Großteil versuchten seine Nachkommenschaft zusammenzuraffen, was in einem chaotischen Uebereinandergestolper resultierte. Eine zweite Erschütterung folgte, diesmal schon weniger zaghaft. Die meisten Kinder spürten jetzt auch, dass irgendetwas nicht stimmte - und begannen zu heulen und nach ihren Eltern zu schreien. Hyde gefiel das Szenario von Sekunde zu Sekunge weniger. Er hatte geahnt, dass die ganzen Zwerge hier Ärger bedeuten würden. Er sprang auf den Tisch - das Plastik knirschte einen kläglichen Protest, wagte aber nicht unter ihm zu versagen - und rief: "Alle raus hier - jetzt!" Seine Stimme schnitt durch das Geschrei wie ein Schlachtermesser durch Butter.
Der Effekt war erstaunlich. Für einen Moment schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Alle erstarrten in ihren Bewegungen. Unzählige Augenpaare ruhten auf Hyde. Dann war der Moment vorbei, und die Bewegung und der Lärm brachen wieder los. Doch bewegte sich jetzt ein Großteil der zwei dutzend Menschen weit weniger chaotisch auf die Türen zu. Vielleicht würde es die Mehrheit lebend raus schaffen. Vielleicht sogar alle, dachte Hyde mit einem Optimismus, der sich irgendwo in einem Luftschutzbunker seines Zynismus versteckt gehalten haben musste.
Mit einem dritten Beben riss der Boden des Gasthauses auf. Das Schreien der Gäste verwandelte sich augenblicklich in ein panisches Crescendo. Na gut, vielleicht schaffen es auch nur ein paar, verlagerte Hyde seine Vermutung in Richtung Realität. Aus dem Loch drangen unmenschliche Laute. Ein Höllenlärm im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Hyde und lächelte grimmig. Ezra erhob sich langsam aus ihrem blauen Plastikstuhl. Sie schenkte der auf dem Boden verteilten Mousse au Chocolat noch einen letzten traurigen Blick, dann sammelte sie ihre Kräfte. Gerade rechtzeitig, denn aus dem Höllenschlund tauchte soeben die erste schleimig-grüne, krallenbesetzte Klaue auf. Es hatte begonnen.