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Ein eigner Gast
Plötzlich stand hinter dem Mittagshorn, der Plattenflüh und dem Hoch Ducan eine Gewitterwand. Gleichzeitig wurden im ganzen Tal die Hunde toll. Schlagartig bellten und jaulten sie allesamt los wie sonst nur, wenn sie Wölfe heulen hörten. Dass solche aber mitten im Sommer aus dem Gebirge gekommen waren, hatte niemand gesehen.
Mit dieser Tollheit der Hunde begann Bettinas Erlebnis.
Bettina half damals bei ihrem Bruder aus, dessen Frau im Kindbett lag. Es war Juli, ein Monat mit langen Tagen und viel Arbeit. Ihr Bruder setzte sich jeden Morgen auf den Heulader und fuhr auf die Wiesen. Am Vormittag mähte er das Gras, am Nachmittag lud er auf und holte das Heu ein. Auf den Hof kam er, wenn er ein Fuder geladen hatte. Hatte er abgeladen, fuhr er wieder fort. So holte er Fuhre um Fuhre ein. Ins Haus kehrte er frühestens zurück, wenn es abends dunkelte; meistens also nur, um ins Bett zu fallen. Seine Frau hingegen war von der Geburt noch geschwächt. Die Hebamme hatte sie zur Bettruhe verknurrt und die Wochenbettschwäche sorgte dafür, dass sie deren Gebot auch tatsächlich einhielt. Bettina verrichtete indessen den Haushalt.
Bettinas Bruder hielt einen Hofhund. Es war ein grosser, schwarzer Rüde. Er stand vor dem Haus und bellte.
«Willst du wohl ruhig sein!» Bettina war in die Tür getreten und rief das Tier zur Ruhe. «He da, was ist?», rief sie. «Sei still! Baldiron, du. Still jetzt!»
Der Rüde aber, rasend wie er war, belferte weiter.
«Sieht nicht so aus, als wolle er folgen», hörte Bettina plötzlich jemanden sagen. Sie stutzte. Ein alter und kleiner Mann war vor das Haus getreten. Trotz der Hitze war er gekleidet mit Hut und Joppe. An seinem Hosenbund baumelte eine Uhrenkette und auf dem Rücken trug er einen ledernen, abgenutzten, an mehreren Stellen geflickten und ausgebesserten Rucksack.
«Ja, sieht so aus», antwortete Bettina. «Ruhe gibt er keine. Aber wieso?»
«Es ist das Wetter. Glauben Sie mir, Fräulein, es schlägt um.»
«Das Wetter?»
«Ja, ein Gewitter. Er spürt, dass es wettern kommt.»
Bettina wunderte sich. Etwas an dem Mann verwirrte sie. Vielleicht erinnerte er sie an jemanden. Dass sie verunsichert war, wollte sie sich aber nicht anmerken lassen. Sie rang sich ein Lächeln ab und weil sie die Gewitterwand nicht bemerkt hatte, meinte sie: «Es scheint aber die Sonne.»
Der kleine Mann lächelte nun selbst. Dann sagte er: «Ja, noch scheint sie. Aber nicht mehr lange. Wissen Sie, die Hunde und meine alten Knochen spüren es. Ist vielleicht besser, das Fräulein holt die Wäsche ein.» Er schaute zu der Stelle, wo vor dem Haus ein Gemüsegarten lag. Neben dem Garten hingen an einer Wäscheleine Bettlaken. «Wäre doch schade, wenn’s die sauberen und trockenen Laken verregnen täte, nicht wahr?» Einen Augenblick wartete er ab. Weil sie aber nur verwundert schaute, redete er bald weiter. Er fragte: «Darf ich, bis das Gewitter vorbei ist, hier unterstehen?» Er zeigte auf den rückwärtigen Hausteil, an den ein Holzschuppen mit Vordach angebaut war. Bettina hatte die Gewitterwand noch immer nicht bemerkt. Der Rüde stand mit schäumenden Lefzen vor dem Stall und bellte unentwegt zu dem kleinen Mann und zu Bettina herüber. Sein Gebell wurde ihr lästig. Und weil der kleine Mann unter dem Vordach stehen konnte, ohne dass er störte, sagte sie: «Wenn Sie wollen, bitte schön.» Noch einmal schaute sie nach dem Rüden, ärgerte sich über dessen Raserei, sah die Gewitterwand noch immer nicht, wünschte dem Alten einen schönen Tag, kehrte um und trat in das Vorhaus zurück. Als sie die Tür hinter sich schloss, drang das Gebelfer des Hofhundes nur noch gedämpft zu ihr herein. Bettina atmete durch und wunderte sich noch immer: Irgendwie hatte sie der eigentlich freundliche Mann befremdet.
Schaute Bettina in der Stube aus dem Fenster, konnte sie nur sehen, was sie seit Tagen schon immer sah: eine gemähte Wiese, auf der Wiese eine einsame Lärche, weiter weg ein Landwasser, das zu einem Rinnsal verkümmert war, und greller Sonnenschein überall. Tagelange Flimmerhitze hatte nicht nur den Hauptbach des Tales schier ausgetrocknet, auch unter dem Fenster der Garten hatte gelitten. Bettina hatte sich gefreut. Noch nie hatte sie einen Flecken Erde gehabt, auf dem sie hatte Blumen und Gemüse anpflanzen können. Doch ihre Lieblingsblumen, die Pfingstrosen, waren inzwischen eingegangen, die Salatköpfe vertrocknet und auch alles andere Gemüse versengt. Überhaupt lag vieles halb verdorrt und verdurstet, so staubig, grau, braun und schwarz, so lahm und dürr und tot am Boden, als hätten monatelang vier oder fünf Sonnen zugleich am Himmel geglüht. Wozu also die Wäsche einholen oder gar, wie der Fremde vorhin gewollt hatte, unter ein Dach stehen? Bettina schaute durch das Fenster und wiegte den Kopf. Sie spürte, wie ein Luftzug ihren Nacken streifte. Es schauderte sie. Einen Augenblick glaubte sie, die Gegenwart des Fremden in der Stube zu spüren. Doch so schnell wie der Spuk über sie gekommen war, war er auch wieder vorbei.
Wenig später kam die Schwägerin in die Stube. «Ich geh noch kurz zu Inauens», sagte sie.
«Was macht die Kleine?», fragte Betina.
«Sie schläft. Warum fragst du?»
«Nur so, hättest sie vielleicht mitnehmen können.»
«Ja, aber sie schläft.»
«Ja, sie schläft,» wiederholte Bettina und fragte sich insgeheim, ob ihr vielleicht irgendwann einmal das letzte Wort gegönnt wird. Da blaffte jene sie an: «Ja, sage ich doch: Sie schläft.»
Bettina nickte und überlegte, ob sie von dem Fremden erzählen sollte. Sie entschied sich dagegen. Die Schwägerin würde ihn sehen. Wenn es ihr nicht passte, dass er unter dem Vordach des Holzschuppens stand, dann konnte sie selber mit ihm reden. Was sie dafür brauchte, nämlich ein geschliffenes Maulwerk, das hatte sie ja.
Als ihre Anverwandte das Haus verliess, ging Bettina an die Haustür. Sie horchte. Sehen konnte sie zwar nicht, was draussen vor sich ging, hören wollte sie aber doch, was die Schwägerin sagen würde. Dass sie den Alten ansprach, oder in ihrer Art, anfauchte und verjagte, war jedenfalls wahrscheinlich. Argwöhnisch gegen Fremde konnte die Schwägerin unmöglich an einem Fremden vorbeigehen, der unter dem Vordach des Holzschuppens stand. Wie erstaunt war Bettina aber, als es vor der Tür still blieb. Dann ist er also gegangen, dachte sie. Verwundert kehrte sie um und ging zurück in die Stube. Aber ja, wozu hätte der kleine Mann denn draussen unterstehen sollen? Wahrscheinlich hatte er seine Frage nicht ernst gemeint. Bettina trat erneut an das Stubenfenster. Doch kaum, dass sie dort ankam, sah sie etwas Sonderbares.
Beim Gartenzaun hingen an der Leine die Bettlaken. Daneben stand im Gras ein Wäschekorb. Bettina griff nach einem Laken und schaute auf die andere Talseite. Beidseits des Sandtobels wuchsen Legföhren. Ihr Blick schweifte den Berg hoch. Je höher sie schaute, desto lichter standen die Föhren. An einigen Stellen trat Schiefer hervor. Auf dessen Flächen war ein Schimmer wie von Blei zu sehen. Im Sommer konnte das nur eines bedeuten. Hatte der kleine Mann es also doch ernst gemeint. Aber wie hatte er ahnen können, dass es bald regnen würde? Bettina zog das Laken von der Leine und warf es in den Wäschekorb. Da erst schaute sie talein und sah die Gewitterwand. An den Rändern rötlich verfärbt und Regenstürze als schiefe Schlieren vor sich herschiebend näherte sie sich dem Weiler.
Rasch war die Wäsche von der Leine gezogen und der Korb gefüllt. Bettina stellte ihn im Vorhaus ab. Danach eilte sie über den Vorhof und hinter den Stall. Das Tor zur Tenne stand noch offen. Sie schloss es. Als sie den Stall wieder verliess, begann die Lärche auf der Wiese zu schwanken. Eine Böe rauschte durch ihr Geäst. Doch gleich hingen ihre Reiser wieder träg und still herab. Einzig hinten im Tal donnerte es inzwischen. Noch zweimal rauschten Böen über die Wiese und das Gehöft. Bettina kehrte zurück in das Haus.
Inzwischen war der grelle Sonnenschein einem fahlen Zwielicht gewichen. So schnell war das alles geschehen, dass es Bettina ängstigte. Bereits flackerten im Gewölk zwischen Hoch Ducan und Plattenflüh die ersten Blitze. Noch fiel kein Regen und zwischen dem fernen Zucken der Blitze und dem Heranrollen des Donners verstrichen mehrere Sekunden. Doch lange würde das Unwetter nicht auf sich warten lassen. Alle Vögel waren verstummt und auch die Hunde waren inzwischen still geworden. Gespenstig still war es plötzlich auf dem Hof geworden.
Das Flackern über dem Grat wurde schärfer. Das dumpfe Grollen aus der Ferne wich heftigen Donnerschlägen. Doch regnen wollte es noch immer nicht.
Endlich fielen die ersten Tropfen. Sie schlugen schwer und vereinzelt gegen das Fensterglas. Kurz darauf setzten erneut Windstösse ein, trieben die Regentropfen zahlreicher gegen die Scheiben und dann begann es schwallartig zu regnen. In Stössen prasselten die Regentropfen aus dem Himmel herab und auf das Fensterbrett. Bettina dachte an den Bruder und an die Schwägerin. Hoffentlich hatten sie einen schützenden Ort aufgesucht. Ihr fiel auch der kleine Mann ein. Sie fragte sich, ob er nun auf der Strasse ging und nass wurde. Oder stand er vielleicht doch unter dem Vordach des Holzschuppens? Sie beugte sich näher an das Fenster, damit sie schräg durch das Glas den Schuppen sehen konnte und sah den Alten wirklich. Er stand mit dem Rücken an der Hauswand. Doch das Vordach war schmal und Böen trieb den Regen schief gegen das Haus. Zudem spritzte von dem Boden und den schweren Regengüssen eine Gischt auf, die durch den Wind unter das Vordach gedrückt wurde. Der alte Mann presste sich gegen die Hausmauer und hielt den Rucksack schützend vor sich hin, vergebens.
Oje, dachte Betina. Das Vordach ist klein. Er wird nass werden und dann wird ihm kühl werden. Wer weiss, ob er sich erkälten oder sonst ein Leiden zuziehen wird. Das muss nicht sein. Vielleicht sollte ich ihn ins Haus rufen. Doch nein, das darf ich nicht, fiel Bettina ein. Würde die Schwägerin bei ihrer Rückkehr einen Fremden im Haus vorfinden, dann würde ein Hagelsturm aus Vorwürfen über Bettina hereinbrechen. Aber ihm einen Schirm bringen, musste doch wenigstens möglich sein. Bettina ging in das Vorhaus. In einer Ecke standen Gummistiefel, ein Stecken und drei Schirme. Sie nahm einen Schirm zur Hand und öffnete die Haustür. Sofort spürte sie die Kraft eines Windstosses, der gegen die Tür drückte. Er wehte kühle Luft und Regengischt herein. Bettina erkannte, wie unpraktisch der Schirm in dem Wind sein wird. Sie rief nach dem Alten und winkte ihn herein.
Kaum dass er hereingekommen war, fühlte sich Bettina wieder verunsichert. Trotzdem bot sie ihm an, in die Stube zu gehen. Er schüttelte einige Regentropfen von den Joppenärmeln, bedankte sich und meinte: «Die Stube? Das ist nicht nötig.» Er wolle keine Umstände machen. Er könne auch im Vorhaus das Abflauen des Unwetters abwarten. Nein, er wolle ganz sicher keine Umstände machen.
«Ach was, Umstände? Das sind keine Umstände,» sagte Bettina wie jemand, der genau weiss, was er tut. «Lange wird dieses Gewitter so oder so nicht dauern.» Der Alte nickte und folgte ihr in die Stube. Doch auf einen Stuhl am Tisch wollte er sich nicht setzen. So entschieden lehnte er ab, dass Bettina ihn kein zweites Mal dazu aufforderte.
Das Prasseln der Regentropfen war inzwischen zu einem dröhnenden Rauschen verschmolzen. Dermassen gewaltig strömten die Wassermassen auf das Hausdach herab, dass das Dachgebälk zu ächzen begann. Der Zaun des Gartens und hinter dem Zaun die Lärche waren nur noch als graue Umrisse zu erkennen. Bettina wurde es mehr und mehr mulmig zu Mute. Nun war der Fremde doch im Haus und eine bis auf die Haut nasse und übel gelaunte Schwägerin konnte jeden Augenblick zur Tür hereinkommen. Doch gegenüber dem alten und kleinen Mann wollte sich ihre Zweifel nicht anmerken lassen. Wieder rang sie sich ein Lächeln ab und sagte: «Wie das jetzt regnet. Wer hätte das gedacht? Im Radio haben sie Hitze und Sonne vorausgesagt. Kein Wort davon und nun so etwas, nicht wahr?» Sie schaute den alten Mann an und sah, dass er um den Tisch ging. Als er ihn umrundet hatte, blieb er nicht stehen, sondern ging weiter um den Tisch. Irgendetwas an dem Alten ist eigen, dachte Bettina. Unfreundlich wirkt er nicht. Aber müde, unendlich müde scheint er zu sein. Er ging weiter um den Tisch und hielt erst an, als er bemerkte, dass er beobachtete wurde. Sein Gesicht war voller Furchen, die Wangen waren eingefallen und um die Augen lagen dunkle Schatten. Es sahen aus, als hätte er wenig getrunken oder lange nicht mehr geschlafen.
Und dann ebbte das Rauschen des Regens plötzlich ab. Bettina wandte sich von dem ruhelosen Gast ab und schaute nach draussen. Noch immer gingen Blitze wie grelle Schnüre nieder. Noch immer hörte man Donnergrollen. Doch blitzte es nicht mehr über dem Gehöft, sondern in der Ferne.
«Hören Sie», sagte der kleine Mann und ging weiter um den Tisch, «jetzt sind wir im Auge des Unwetters. Gleich zieht es über uns hinweg und dann wird der Wind und der Regen wieder einsetzen. Aber die Front ist vorbei. Das Schlimmste haben wir überstanden. Lange wird es nicht mehr dauern.»
Bettina nickte. Erneut setzte Regen ein. Doch die Hauptmacht des Unwetters war gebrochen und alles ging gezügelter fort. Nach und nach flaute der Wind und der Regen ab. Was vorher noch wilde Böen waren, wurde nun zu einem steten Wehen, der Regen wurde schwächer, die Blitze leuchteten blasser und der Donner rollte matter, gleichsam talauswärts gehend hinfort.
Als endlich das Regnen nur noch ein Auströpfeln war und das Blitzen ein Nachleuchten, unterbrach der Alte seine Wanderung, die ihn viele Male um den Tisch geführt hatte, und trat zu Bettina an das Fenster. Er sagte: «Es ist vorüber. Ich bedanke mich und hoffe, dass ich keine Umstände gemacht habe. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Sie waren sehr freundlich. Das ist nicht selbstverständlich.» Er ging ins Vorhaus zurück, wo er den Rucksack abgestellt hatte. Er hob ihn auf und bedankte sich noch einmal, bevor er nach draußen trat. Bettina folgte ihm. In der Haustür blieb sie stehen und schaute ihm nach, als von der Lärche her ein Zeisig geflogen kam und sich auf den Gartenzaun setzte. Das Federkleid nass und zerzaust schaute er nach links und nach rechts. Bettina atmete tief ein. Ihr war, als würde sie aus einem schweren Traum erwachen. Der Zeisig machte einen Hüpfer auf der Zaunlatte und beendete die Stille nach dem Gewitter mit einem ersten Zirpen und Trällern.
Einige Tage später ging Bettina in einem anderen Dorf eine Tante besuchen. Bettina mochte sie und besuchte sie gerne, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Wie üblich setzten sie sich in die Küche und plauderten über dieses und jenes, das sich zugetragen hatte. Bettina erzählte von dem Gewitter und dem alten, so sonderbar ruhelosen und eigensinnigen Mann. Sie erzählte, wie unsicher und besorgt sie sich gefühlt hatte, als sie ihn ins Haus geholt hatte.
«Du weisst schon, wer das war, oder?», fragte Bettinas Tante. Bettina verneinte.
«Du weisst es nicht?»
«Nein, ich weiss es wirklich nicht», antwortete Bettina wieder und fragte zurück: «Weisst du es denn?» Bettinas Tante stand vom Tisch auf und ging an den Herd. «Das war der alte Cartaphilos», sagte sie und zog die Pfanne mit dem kochenden Wasser von der Herdplatte. Sie goss zwei Tassen Tee auf und kehrte damit an den Tisch zurück. Bettina schaute die alte Frau an und meinte: «Cartaphilos?»
«Ja, Cartaphilos.»
«Das ist aber ein seltsamer Name.»
«Ja, ist es. Es ist ein alter Name.»
«Du kennst ihn? Wer war er?»
«Nicht, dass ich ihn persönlich kenne», sagte Bettinas Tante. «Begegnet bin ich ihm jedenfalls noch nie. Aber als ich noch ein Kind war, kannten alle seine Geschichte. - Zucker?» Bettina nahm dankend an, rührte einen halben Löffel Zucker in den Tee und fragte dann nach der Geschichte des Mannes mit dem fremden Namen und sonderbaren Verhalten.
Bettinas Tante begann zu erzählen: «Seine Geschichte fängt vor über zweitausend Jahren an. Damals, als der Heiland das Kreuz auf sich nahm und den Hügel Golgatha hochtrug, kam er, unser aller Erlöser, an einem Haus vorbei, in dem ein Mann namens Cartaphilos wohnte. Und weil das Kreuz schwer und der Weg steil war, wollte Jesus dort stehen bleiben und ausruhen. Da trat Cartaphilos aus dem Haus, ging zu Jesus und sagte: «Geh weiter. Du sollst hier nicht ruhen.» Und der Heiland antwortete: «Ich will stehen und ruhen. Du aber sollst gehen, sollst immer weiter gehen, sollst gehen bis in alle Ewigkeit.
Von da an war Cartaphilos verflucht. Rastlos war sein Leben. Nirgends kam er zur Ruhe und auch die letzte Ruhe blieb ihm versagt. Also wandert er seit Jahrhunderten durch die Welt und wird der ewige Wanderer genannt. Es heisst: Wer ihm schlechtes tut, dem widerfährt bald selber böses. - Das jedenfalls wird erzählt.»
Bettina schlürfte vorsichtig ein wenig von dem heissen Tee. Er war schon sehr eigen, dachte sie. Es war wirklich so, dass er immerzu um den Tisch gewandert ist. Er hätte doch absitzen können. Aber vielleicht erzählt meine liebe Tante wieder einmal eine ihrer Geschichten. Davon kennt sie viele. Die Gewitterwand freilich, die so unerwartet kam, und die Hunde, die plötzlich alle, ganz ohne Ausnahme, alle zu bellen anfingen. Bettina überlegte. Das war alles schon sehr eigen, dachte sie. Wer weiss, was noch hätte geschehen können? Wer weiss, was geschehen wäre, wenn er meine Schwägerin statt mir angetroffen hätte, ja?