Ein Geist aus der Vergangenheit
"Hier ist Helena."
"Helena?"
"Stör ich?"
Ich hatte meinen Kleinen auf dem Schoß, der quietschend versuchte, nach dem Hörer zu greifen.
"Naja."
"Dein Kind?"
"Ja."
"Wie alt ist es?"
"Weshalb rufst du mich einfach so an?"
"Wie alt ist es?"
"20 Monate."
"Ich rufe an, weil ich dich gerne sehen würde."
"Du willst mich sehen?"
"Ja."
"Was soll der Blödsinn?"
"..."
"Einfach so? Du hast dir gesagt: Achja, ich hätte Lust ihn wiederzusehen?"
"So ähnlich."
"Weshalb jetzt? Warum nach all den Jahren?"
"Hör zu, ich hatte nicht gedacht, dass du so darauf reagieren würdest. Ich lege jetzt wohl besser auf."
Ich habe meinen Sohn auf den Boden gestellt und er ist abgedüst ins Zimmer seiner Schwestern.
"Warte, leg nicht auf. Du willst also, dass wir uns wiedersehen?"
"Ja. Nur auf ein Glas oder einen kleinen Spaziergang."
"Warum? Wozu soll das gut sein?"
"Ich hab einfach nur Lust dich wiederzusehen, ein bißchen mit dir zu reden."
"Helena?"
"Ja."
"Warum tust du das?"
"Warum?"
"Ja, warum rufst du mich an, warum erst jetzt? Hast du dir denn gar nicht überlegt, dass du mein Leben durcheinanderbringen könntest?
Du wählst einfach meine Nummer und..."
"Hör zu, ich werde sterben."
"..."
"Ich ruf dich an, weil ich sterben werde. Ich weiß auch nicht genau wann, aber es ist nicht mehr lange hin."
Ich löste den Hörer ein wenig vom Ohr, als wollte ich Atem schöpfen, und versuchte aufzustehen, erfolglos.
"Das ist nicht wahr, oder?"
"Doch, ist es."
"Du willst mich also ein letztes Mal sehen?"
"Ja. So kann man es sagen."
"Wann?"
"Egal, wann immer es dir passt."
"Wo wohnst du?"
"Immer noch am gleichen Ort, du weißt schon dieses kleine Kaff, etwa 100 Kilometer von dir entfernt."
"Helena?"
"Ja?"
"Ach, nichts."
"Nichts, genauso so ist es. Ich rufe dich nicht wegen dem an, was damals war, sondern weil ich dein Gesicht wiedersehen will.
Das ist alles, Wie diese Leute, die in das Dorf ihrer Kindheit zurückkehren oder in das Haus ihrer Eltern oder an einen anderen Ort, der ihr Leben geprägt hat."
"Eine Art Wallfahrt, wie?"
Ich merkte, wie sich meine Stimme verändert hatte.
"Ja, genau, eine Art Wallfahrt, so als ob dein Gesicht ein Ort wäre, der mein Leben geprägt hat."
"Wallfahrten haben immer etwas trauriges an sich..."
Ich hörte, wie sich die Kleinen zankten, und ich hatte eh keine Lust mehr zu reden. Mir war eher nach auflegen.
"Wann?"
"Sag du."
"Morgen?"
"Wenn du willst."
"Wo?"
"Auf halber Strecke zwischen dir und mir."
"Gut, also bis morgen dann."