- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Ein guter Junge
13:48 Uhr. Noch zwölf Minuten. Margarete lächelte. Sie konnte sich nicht erinnern, wie oft sie heute schon auf die Uhr gesehen hatte, aber es muss an die hundert Mal gewesen sein. Sie sah immer wieder hin, nur um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich noch wach war und nicht den wichtigsten Moment des Jahres verpassen würde.
Das Stricken machte sie schläfrig. Ihren alten Finger waren längst nicht mehr so flink und geschickt wie noch vor 20 Jahren und statt einer Woche brauchte sie nun mindestens drei, aber das machte nichts ... sie hatte Zeit, mehr als genug davon. Das rote Wollknäuel, das auf ihrem Schoß lag, schien nie enden zu wollen und sie war erst beim linken Ärmel des Rollkragenpullis. Seit Oliver aus dem Haus war – was ihr so vorkam, als hätte er erst gestern die Tür hinter sich zugemacht – strickte sie viel und gerne. Wenn man ein Ziel vor Augen hat, gehen einem die Dinge viel leichter von der Hand, dachte sie.
Die Pullis in Olivers Zimmer häuften sich bereits. Jedes Jahr legte sie einen weiteren Pulli auf den Stapel auf seinem Bett und wenn Oliver sie wieder besuchen kam, würde er vor Freude aus dem Häuschen sein, wusste Margarete. Sie konnte sich noch gut an den Weihnachtsabend 1970 erinnern. Bei dem Gedanken daran huschte ihr wieder ein Lächeln über das Gesicht, ohne dass sie es merkte. Es war einer jener Abende, der unauslöschlich schien. Einer jener Abende, der sich wie ein Brandzeichen im Gehirn verewigte und an den man immer wieder gerne zurückdenkt ... vielleicht auch deswegen, weil seitdem nie wieder ein Abend so schön gewesen ist. Ihr Mann Alfred lebte damals noch ... zumindest sein Körper weilte noch unter den Lebenden, auch wenn sein Verstand schon seit Jahren fort war ... fort, einfach weg. Auch die Ärzte konnten ihm nicht viel mehr helfen, als dass sie ihm alle zwei Wochen eine neue Packung Tabletten und einmal im Monat eine Spritze verabreichten. Margarete war immer der Meinung, dass man sich nur Alfred ansehen musste, wollte man etwas über den Krieg erfahren. Sie hatte oft gebetet das Gott ihn doch von seinem Leiden erlösen, ihm den Frieden schenken möge, der ihm so lange verwehrt wurde. Zwei Wochen nach dem Weihnachtsabend 1970 erhörte Gott sie und sie waren dankbar dafür. Sie und auch Oliver, obwohl sie große Angst hatte, dass er den Tod seines Vaters nie würde verkraften können. Aber er hatte ihn verkraftet, sie hatten ihn verkraftet und das Leben ging weiter.
An jenem Weihnachtsabend wurde viel gelacht, das Radio spielte Jingle Bells im Hintergrund und sogar Alfred schien kurz aus dem Land des Vergessens zurückgekehrt zu sein und saß lächelnd in seinem Schaukelstuhl während Oliver seine Geschenke auspackte. In zwei der Päckchen waren Süßigkeiten und ein Comicheft, in dem dritten Päckchen war ein blauer Strickpulli. Damals hatte sie nur eine Woche für den Pulli gebraucht und Oliver schien überglücklich, als er sein Hemd auszog und den Pulli sofort anprobierte. Er war ihm ein bisschen groß, aber das störte ihn nicht. Er würde ja nicht immer so klein bleiben, meinte er, umarmte lächelnd seine Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie konnte immer noch seinen warmen Atem - Pfefferminzbonbons und Schokolade – auf ihrer Haut spüren. Damals war Oliver elf.
Andere Kinder wären wahrscheinlich ein wenig enttäuscht gewesen, das sind sie immer, wenn statt der neuesten Spielzeugfigur nur etwas zum Anziehen in den Weihnachtspäckchen lag, aber nicht Oliver. Oliver war ein guter Junger, war er immer und war er auch heute noch.
Seit diesem Abend waren schon über 30 Jahre vergangen, aber in Margaretes Gedächtnis war er so frisch und so lebendig wie ein neugeborenes Fohlen. Wieder ließ sie kurz die Nadeln in den Schoß sinken und sah auf den kleinen Beistelltisch neben ihrem Schaukelstuhl. Die Uhr zeigte 13:56 Uhr. Noch vier Minuten.
Langsam wurde sie ein bisschen nervös und aufgeregt, fast so wie ein Teenager der auf den Langerhofften Anruf des Liebsten wartet, und ihre Hände, die ohnehin schon schmerzten, begannen leicht zu zittern. Während sie leicht vor- und zurückschaukelnd in ihrem Stuhl saß und immer noch an dem linken Ärmel strickte, schwelgte sie weiter in Erinnerungen. Der Muttertag war für sie der schönste Tag des Jahres, viel schöner als Weihnachten und auch um einiges schöner als der vierte Juli, obwohl sie zugegebenermaßen sehr gerne am Fenster stand und zusah wie ihre Nachbarn (die jedes Jahr andere Gesichter zu haben schienen) ihre Raketen in die Luft schossen.
Sie sehnte sich so sehr nach Oliver, nach seinem Lächeln, seinen Umarmungen und seiner fürsorglichen Art, dass sie schon Tage vorher so aufgeregt war, als säße ihr ein Schwarm Hummeln im Hintern. Und das, obwohl sie dieses Lächeln schon seit 27 Jahren nur noch von einem Foto kannte. Er rief jedes Jahr an, jedes Jahr. Margarete wusste, dass er sie irgendwann wieder besuchen würde, sobald er nur die Zeit dazu hätte. Er musste sie einfach besuchen, schon alleine deshalb, weil der Stapel auf seinem Bett immer höher und höher wurde. Aber sie war ihm nicht böse. Wie konnte man ihm auch böse sein? Er war jetzt erwachsen, führte sein eigenes Leben, hatte eine Frau die ihn liebte und zwei entzückende Kinder. Aus seinen jährlichen Anrufen wusste sie, dass er einen sehr anstrengenden Job hatte und seine ganze Energie für das Wohl seiner Familie aufbrachte. Wie konnte man ihm da böse sein? Er war ein guter Junge. Das er überhaupt Zeit fand, sie jeden Muttertag um genau die selbe Uhrzeit anzurufen, machte sie glücklich und stolz. Man sollte die Leute immer nur solange warten lassen, wie man auch selbst bereit wäre zu warten, hatte sie ihn immer gelehrt. Und Oliver war noch nie unpünktlich gewesen. Sie war sicher, dass er in seinem Job ebenso zuverlässig war. 13:58 Uhr. Noch zwei Minuten.
Seit 27 Jahren – seit Oliver ihr Haus verlassen hatte – saß sie jedes Jahr in diesem Stuhl, strickte einen Pullover für ihn und wartete auf seinen Anruf. Oft war sie so nervös, dass sie immer wieder den Hörer abnahm, nur um zu sehen ob das Telefon noch funktionierte. Sobald das Freizeichen ertönte, war sie beruhigt und legte schnell wieder auf. Sie musste schließlich erreichbar sein. Ohne Oliver wüsste sie keinen Grund, weshalb sie ein Telefon besitzen sollte. Ihre Freundinnen waren schon vor Jahren verstorben und auch sonst wusste sie niemanden, der eine alte Frau wie sie anrufen sollte. Einmal hatte es tatsächlich geklingelt, es war Mitte Februar vor zwei oder drei Jahren. So schnell ihre Krücken es zuließen, war sie zu dem kleinen Beistelltisch gehumpelt und hatte den Hörer von der Gabel gerissen, im Glauben es wäre Oliver, der Zeit gefunden hatte anzurufen. Aber es war nur ein Vertreter der Telefongesellschaft, der sie fragte, ob sie nicht ein Digitalfähiges Mobilteil gebrauchen könnte. Digitalfähiges Mobilteil ... Margarete hatte noch nie von so etwas gehört und machte dem Vertreter klar, dass sie mit solch neumodischen Sachen nichts zu tun haben möchte. Vielleicht war sie ein bisschen grob zu ihm gewesen, aber ihre Wut richtete sich nicht auf den Mann persönlich, es war wohl mehr die Wut auf sich selbst, dass sie geglaubt hatte, Oliver wäre am anderen Ende der Leitung. Sie war auf sich selbst sauer gewesen, schalt sich für ihren Egoismus. Schließlich hatte Oliver viel zu tun und was war schon dabei, wenn sie bis Muttertag warten musste. Oliver war ein guter Junge und er würde anrufen. Wie er schon seit 27 Jahren anrief; noch nie hatte er sie vergessen.
Sie legte das Strickzeug beiseite und drehte sich mit dem Stuhl in Richtung Telefon. So saß sie am bequemsten ohne dass ihr Rücken vor Anstrengung seufzte. Wenn sie mit Oliver telefonierte (und so ein Gespräch konnte oft zwei Stunden dauern) wollte sie das Telefon ansehen. Es kam ihr dann so vor, als sei das Telefon ein Spiegel und wenn sie hindurch sah, sah sie wieder den Jungen, den sie mehr als alles andere liebte, seine kleinen Grübchen die sein Lächeln hervorzauberte, seine strahlenden Augen die wie Diamanten im gleißenden Licht funkelten.
Die Uhr zeigte 30 Sekunden vor 14:00 Uhr, doch die 30 Sekunden könnten genauso gut 30 Jahre sein. Margarete kam es vor, als würden die Zeiger sich absichtlich so langsam bewegen, wenn sie den Anruf erwartete. All die Jahre haben sich die Zeiger so schnell wie ein Glücksrad gedreht ... doch wenn sie den Anruf erwartete, krochen sie so langsam wie eine Schildkröte mit gebrochenem Bein.
Er rief immer um genau 14:00 Uhr an. Er wusste natürlich, dass Margarete den Vormittag damit verbrachte, in der Küche zu stehen um sein Lieblingsessen zuzubereiten. Um 12:00 Uhr wurde gegessen, um 12:30 Uhr wurde der Abwasch erledigt und dann wurde bei Tee und Keksen ein bisschen gefaulenzt. So wie sie es immer gemacht haben. Oliver war pünktlich und zuverlässig und natürlich kannte er die Gewohnheiten des Hauses. So wie Margarete sein Lieblingsgericht kannte. Rindersteaks mit Kartoffelpüree und Maiskolben, dazu ein (wenn es sehr warm war auch zwei) Glas Eistee. Als Nachtisch gab es Vanilleeis mit Himbeersauce. Jedes Jahr bereitete sie dieses Essen und nichts würde sie sich mehr wünschen, als wieder einmal gemeinsam bei Tisch zu sitzen, aber es machte ihr nichts aus. Sie deckte für zwei Personen und aß für eine halbe Person. Den Rest stellte sie in den Kühlschrank und aß die beiden folgenden Tage davon. Manchmal stellte sie ein bisschen davon auch auf die Veranda; es gab einige süße Kätzchen in der Nachbarschaft.
14.00 Uhr. Wie jedes Jahr lächelte sie und das Lächeln ließ erkennen, dass auch sie einmal ein junges Mädchen gewesen sein musste. Die rechte Hand hielt sie griffbereit über dem Hörer.
Jetzt, da die Zeiger die volle Stunde schon überschritten hatten, rasten sie wieder. Zehn Sekunden vergingen, 20 Sekunden. Bisher war es erst einmal vorgekommen, dass Oliver sich verspätet hatte und zwar um genau zwei Minuten. Aber es war nicht seine Schuld. Patty, seine jüngere Tochter, hatte ihn nicht an den Apparat gelassen, weil sie erst ihr Gespräch beenden wollte. Ihre Hand, die immer noch über dem Hörer schwebte, wurde langsam schwer, deshalb ließ sie sie wieder sinken. Obwohl es ziemlich kühl war im Haus (es hatte den ganzen Vormittag geregnet), begannen ihre Handflächen zu schwitzen. Die alte Furcht die sie schon seit Jahren heimlich begleitete und immer wieder versuchte sich in ihre Gedanken zu schleichen, fing an sich zu melden. Er hatte sie mit Sicherheit nicht vergessen, das war ausgeschlossen. Oliver vergaß nie irgendetwas. Auch in der Schule war er immer der beste gewesen wenn es darum ging etwas auswendig zu lernen, ein Gedicht oder Vokabeln. Wenn er doch nur nicht so weit entfernt wohnen würde, dachte sie verzweifelt. Für eine Mutter gab es wohl nichts schlimmeres, als nicht zu wissen ob es ihrem Sohn gut ging, oder ob Gott ihn gerade einer Prüfung unterzog. Vielleicht war er krank, oder seine Frau oder die Kinder. Immer hatte er an seine alte Mutter gedacht, und dafür dankte sie dem Herrn. Aber wenn etwas passiert wäre, dann hätte er sie doch bestimmt schon vorher angerufen, hätte seine Mutter um Hilfe gebeten, da er wusste, dass sie immer an seiner Seite sein würde.
Was damals passiert war, einen Monat bevor Oliver das Haus verlassen hatte, um seinen Job anzutreten, hatte sie beide für immer zusammengeschweißt. Margarete war überzeugt davon, dass Menschen die große Schrecken zusammen erlebt haben, für immer aneinander gekettet blieben, selbst wenn sie noch so weit voneinander getrennt lebten. Das was passiert war, vor 27 Jahren, oben in Olivers Zimmer, war eine Prüfung Gottes gewesen. Margarete hatte dies gewusst, noch bevor sie das Mädchen auf dem Bett liegen sah. Olivers Blick, der einem durch Mark und Bein ging, egal ob er nun lächelte oder traurig war und der Blutfleck auf seinem Pulli sagten ihr mehr als tausend Worte. Er hatte ihr in diesem Augenblick so Leid getan, dass sie noch immer, Jahrzehnte später, den Schmerz in ihrer Brust spüren konnte. Aber Oliver war stark und auch sie war damals noch stark und gemeinsam überstanden sie diese Prüfung. Das waren auch so ziemlich dieselben Worte die sie ihm damals ins Ohr geflüstert hatte, als er stumm an ihrer Brust weinte. Er war ein guter Junge, ein lieber Junge. Gerade wenn man ein Teenager ist – Oliver war damals 17 – scheint der Tod so sinnlos wie ein Regenschirm in der Wüste Gobi zu sein, aber Oliver hatte die Kraft und Weisheit eines erwachsenen Mannes schon damals besessen.
Es hatte nun mal getan werden müssen. Oliver hatte dies eingesehen, ohne dass sie beide große Worte darüber verlieren mussten. Margarete war dabei so sanft und barmherzig vorgegangen, wie ihr nur möglich war. Dies war Olivers Wunsch gewesen und wie konnte sie ihm etwas abschlagen, wenn er sein Lächeln mit den beiden Grübchen auf jeder Seite aufblitzen ließ? Oliver wollte nicht dabei sein wenn es getan werden musste und deshalb hatte sie abgewartet bis er ins Badezimmer ging um sich zu duschen. Er duschte zweimal täglich, denn er war sehr auf sein Äußeres bedacht.
Die Stufen die in Olivers Zimmer führten waren ihr damals wie die Erklimmung eines hohen Berges erschienen und jeder Schritt war, als würde sie auf Nägeln gehen. Das Küchenmesser wiegte so schwer wie ein Sack Steine in ihrer Hand. Als sie die Zimmertür geöffnet hatte und das Mädchen auf seinem Bett sitzen sah, so jung und unschuldig, hatte auch sie nicht mehr die Tränen zurückhalten können. Das Mädchen –Meggy war ihr Name, wenn das Gedächtnis ihr keinen Streich spielte – kam nicht mal mehr dazu ihre großen braunen Augen vor Überraschung aufzureißen. Als der letzte Schrei verhallte und der Kopf der kleinen Meggy sanft auf das Bett fiel, konnte Margarete immer noch das Wasser unten im Badezimmer rauschen hören. Gott war manchmal grausam in seinen Forderungen, aber er war auch gnädig. Es war wie bei einem Fleischer: sicherlich keine schöne Arbeit, aber es musste getan werden.
Oliver war schon immer ein Junge, den jeder Mutter haben sollte. Er war zuverlässig, reinlich, pflichtbewusst und auch bei den Hausarbeiten half er ihr so gut es ging. Zusammen brauchten sie nur zwei Stunden um das Zimmer aufzuräumen. Margarete legte frisches Bettzeug auf, kümmerte sich um die hässlichen Flecken auf dem Boden (kaltes Wasser und ein wenig Seife wirkten da Wunder) und Oliver brachte Meggy zum Fluss. Gott sei ihrer Seele gnädig.
Wie sie da so saß, das Strickzeug in ihrem Schoß und den Blick auf den Telefonapparat fixiert, hatte Margarete gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeiger sich gedreht hatten. 14:12 Uhr. Er würde nicht mehr anrufen, dieses Mal nicht. Sollte dieser verdammte Tag eine weitere Prüfung Gottes sein, so würde sie ihn mit Würde ertragen. Kein Weinen, kein Schluchzen, sie würde nur noch diesen Pullover zu Ende stricken, auch wenn ihre alten Finger sich danach anfühlten als hätte man sie in Eiswasser getaucht. Danach wusste sie was getan werden musste.
Als das Telefon dann tatsächlich klingelte, war es 16:03 Uhr und sie hatte bereits mit dem rechten Ärmel des Pullis begonnen. Margarete war zunächst so desorientiert, als wäre sie aus einer Vollnarkose erwacht. Vor Schreck entglitten ihr die Stricknadeln aus den schon tauben Fingern und als sie nach dem Hörer griff, fühlte sich dieser so kalt an wie die Hände, die mit unsichtbaren Fingern nach ihrem Herz zu greifen schienen.
„Oliver?“. Noch bevor der Mann am anderen Ende zu sprechen begann wusste sie aber, dass es sich nicht um ihren Sohn handelte. Es war ein Gefühl das tief aus ihrem Bauch zu kommen schien.
„Mrs. Deaver?“. Die Stimme des Mannes war sachlich, neutral, es hätte auch wieder ein Mann der Telefongesellschaft sein können. Im Hintergrund konnte Margareta das ungeduldige Bimmeln von Telefonen hören und Stimmen redeten durcheinander, es hörte sich an wie an der Börse.
„Mrs. Deaver, hier spricht Detective Bennings, FBI”. Die eiskalten Finger kamen ihrem Herzen jetzt immer näher und ihr war klar, dass sie den Pullover für Oliver wohl nicht mehr beenden würde.
„Guten Tag, Detective“, antworte sie ebenso sachlich, sie schaffte es sogar, noch einen Hauch von Freundlichkeit in ihre Stimme einzuflechten. Schließlich musste es getan werden.
„Da Sie mich eben mit Oliver angesprochen haben, darf ich davon ausgehen, dass Oliver Deaver Ihr Sohn ist?“. Ein kurzes Rascheln von Papier, anscheinend blätterte der Mann in seinen Unterlagen.
„Das ist richtig, Detective. Er ist aber nicht hier, wissen Sie. Er ist schon lange nicht mehr hier. Ihm ist doch hoffentlich nichts passiert, oder?“. Sie versuchte unbekümmert zu wirken, obwohl sich die Finger wie Nägel in ihr Herz bohrten.
„So leid es mir tut, Mrs. Deaver, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn tot ist. Sie können mir glauben, dass ich nicht gern der Überbringer solcher Nachrichten bin, aber das ist nun mal mein Job.“ Margarete verstand vollkommen, manche Sachen mussten getan werden, auch wenn man dabei den Geschmack von bitterer Medizin im Mund hatte. Oliver machte nie Probleme wenn er seinen Hustensaft einnehmen sollte. Sie tröpfelte immer etwas davon auf ein Stück Zucker und er schluckte es ohne den Mund zu verziehen.
Der Detective sprach weiter, wollte es anscheinend schnell hinter sich bringen: „Nachbarn berichteten, dass sie heute gegen 13:00 Uhr Schreie aus dem Haus Ihres Sohnes gehört hätten. Da sie dachten, es handle sich um einen Einbrecher, verständigten sie die Polizei“. Rascheln von Papier, der Detective blätterte um. „Als die Kollegen eintrafen, fanden sie die Frau Ihres Sohns, Patricia Deaver, sowie die beiden Töchter Susan und Shannon tot vor.
Als der Detective weiter sprach, hörte er sich merklich gedämpfter und zaghafter an, so als hadere er mit sich selbst, ob er einer alten Frau derartige Dinge mitteilen oder lieber verschweigen sollte. Aber Margarete hatte ohnehin schon aufgehört dem Mann richtig zuzuhören.
„Ihr Sohn stand weinend neben den Opfern. Die Tatwaffe hielt er immer noch in der Hand. Mrs. Deaver ... Sie können mir glauben, es war die Entscheidung Ihres Sohnes. Hätte er die Waffe fallen lassen, dann wäre es den Kollegen möglich gewesen ihn ohne größere Gewalt zu überwältigen. Da er jedoch auf eine der Polizeibeamtinnen losgehen wollte, blieb den Kollegen keine andere Wahl. Es tut mir sehr leid für Sie und Ihre Familie.“ In seiner Stimme lag jetzt so etwas wie echte Anteilnahme.
„Sind Sie noch dran? Mrs Deaver?“. Die Zeiger waren wieder gerast, aber sie konnte noch ein „Ja“ hervorstoßen.
„Ich würde gerne die näheren Umstände mit Ihnen besprechen. Auch wären da noch ein, zwei Fragen die geklärt werden müssen.“ Seine Stimme klang wieder geschäftsmäßig.
„Mrs. Deaver ... Ihr Sohn hatte Tagebuch geführt, anscheinend schon seit seiner Kindheit. Darin werden mehr als 30 Morde erwähnt. Können Sie uns dazu etwas sagen? Ist Ihnen vielleicht früher schon etwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?“.
Ja, natürlich ist mir etwas aufgefallen, wollte sie in den Hörer schreien, Oliver ist der anständigste Junge den eine Mutter sich wünschen kann, aber das war sicher nicht das, was der Detective hören wollte.
„Nein Detective. Oliver ist ein Junge wie alle anderen auch.“, Gott möge ihr diese kleine Lüge verzeihen, „könnten Sie mich jetzt bitte zufrieden lassen? Ich bin nur eine alte Frau, die gerade den schlimmsten Tag ihres Lebens durchmacht. Wie lange wollen Sie mich noch quälen?“.
„Natürlich, entschuldigen Sie bitte.“ Wieder anteilnehmend. „Wenn Sie nichts dagegen haben, würden meine Kollegen Sie in den nächsten Tagen aufsuchen und Ihnen einige Fragen stellen. Außerdem brauchen wir noch ein paar Unterschriften von Ihnen“. Der Detective wusste Bescheid, natürlich tat er das. Sie hatten das Tagebuch ihres Sohns und mit Sicherheit wussten sie auch von Olivers Job. Aber sie hätten nicht verstanden, dass es getan werden musste, auch wenn Margarete es ihnen ausführlich erklären würde.
Nachdem sie ein paar Minuten trauernd dagesessen hatte, läutete wieder das Telefon. Als sie den Hörer abnahm, lag dieser wie ein Stück heißer Kohle in ihrer Hand.
„Mami?“. Die Stimme in der Leitung hörte sich an als würde sie von einer alten, zerkratzten Schallplatte kommen, dennoch wusste Margarete sofort, dass Oliver schließlich doch noch an sie gedacht hatte. Heute war immerhin Muttertag, wie hatte sie daran denken können, dass er sie vergessen habe?
„Hallo Oliver. Oh mein Junge ....... mein Junge“. Ihr Herz schien vor Glück zu zerspringen wie eine Fallengelassene Vase.
„Mami, ich brauche dich. Brauche dich hier bei mir ... bitte lass mich nicht alleine“. Olivers Stimme schien sich zu entfernen, fast so als würde er während des Sprechens in einen tiefen Brunnenschacht fallen. Und vielleicht tat er dies tatsächlich. Aber sie würde ihn auffangen.
Sie würden diese letzte Prüfung gemeinsam meistern, sie würde ihn begleiten, genauso wie sie ihn an seinem ersten Schultag begleitet hatte. Oliver war bei ihr, hatte ihr geholfen das Kissen auf Alfreds Gesicht zu drücken. Und ebenso war sie bei ihm, wenn er Ärger in der Schule hatte. Sie hatten einander immer beigestanden.
Als die Finger, die ihr Herz immer noch umklammert hielten schließlich zupackten, zudrückten, lächelte Margarete. Endlich konnte sie ihren Sohn wieder in die Arme schließen. Gott war gnädig.