Ein Kinderspiel.
"Wir spielen heute ein Spiel. Die Regeln sind ganz einfach, du hast es sicher auch schon gespielt. Verstecken im Dunkeln", sagte er mit seiner gewohnt gemessenen Stimme, die zumindest mir selten Anlass zum Widersprechen gibt.
"Das ist doch albern..." Mitten im Satz verliere ich schon wieder den Mumm, zu begründen, warum ich das albern finde, da er meine Bedenken mit einer kurzen, gebieterischen Geste der Hand wegwischt.
"ich war noch nicht fertig“, sagt er fast heiter, "um das Kinderspiel ein bisschen erwachsener zu gestalten, wirst du dich jetzt ausziehen. Schau nicht so erschreckt, ja, ganz nackt." Schon sehe ich den Sadismus in seinen Augen blitzen. Er weiß genau, dass ich bei aller Perversität albern schamhaft bin, wenn es darum geht, mich zu entblößen.
"Ich ... jetzt? Hier? Ich will nicht, können wir nicht ein bisschen später, ich bin noch gar nicht richtig angekommen, mir ist kalt, ich hab Hunger, ich muss aufs Klo“, versuche ich mich in Ausflüchten.
"Halt jetzt den Mund, oder muss ich Dich knebeln? Runter mit den Kleidern." Bei aller Freude an meinem inneren Kampf wird er doch langsam ärgerlich, das kann ich in seiner Stimme mitschwingen hören.
Deshalb beginne ich, mich langsam auszuziehen, und pfeffere all die sorgsam gewählten Kleider und später die hübsche neue Unterwäsche ein bisschen enttäuscht und eine Spur trotzig auf das Sofa. Ich habe ganz andere Vorstellungen, wie der Abend hätte laufen sollen.
"Na also. Lass mal fühlen, wie schlimm das für Dich war." Während er diese Worte sagt, baut er sich vor mir auf.
Ich weiß, was der Satz zu bedeuten hat und verfluche schon im Stillen die Verräterin zwischen meinen Beinen und presse meine Schenkel zusammen. Routiniert dreht er mir einen Arm hinter den Rücken und so weit nach oben, bis ich einen kleinen Schrei ausstoße und die Beine resigniert öffne.
"Oh ja, ganz, ganz schlimm" er schaut seine glitzernd feuchten Finger an und wischt sie mir über den Mund. Ich schäme mich, aber die Scham erregt mich noch mehr.
"Nun denn, bevor wir uns an der Stelle verzetteln, werde ich jetzt die Lichter ausmachen. Ich zähle bis hundert. Dann komme ich Dich holen. Du hast das ganze Haus zur Verfügung." Sprach es und ging durch das untere Stockwerk, alle Lichter erloschen.
"Und nun lauf." Klatscht mir noch auf den Po und schiebt mich in den Gang hinaus.
1,2,3...
Ich hätte nicht gedacht, dass es so dunkel in einem Haus sein kann, ohne Licht. Kein Wunder, ich lebe ja in der Stadt, da gibt es immer welches von den Straßenlaternen. Hier draußen, mitten in der Pampa, nicht. Ich sehe gar nichts.
Das mittlere Stockwerk, in dem ich mich befinde, kenne ich ganz gut. Die Arme weit nach vorne gestreckt setze ich Schritt vor Schritt. Mich auf meine innere Landkarte verlassend umrunde ich noch bewusst die Garderobe. Und schon stoße ich mir den Zeh an irgendetwas.
Ein ziehender, schneidender Schmerz durchzuckt meinen Körper wie ein elektrischer Schlag.
Ich jaule kurz auf, das Ereignis macht das Spiel plötzlich ernst. Alte Gefühle der Hetze branden durch meinen Körper.
"19, 20, 21..."
Schnell, schnell, wohin soll ich? Ich taste mich zur Eingangstür, die ich durch das wellige Glas fühlend erkenne, hinaus in das Treppenhaus.
Es ist kalt. Ein Schaudern fliegt mich an, die Kühle streift über meine Haut. Meine Füße frieren auf dem Steinboden. Ich taste mich zur Treppe. Nach oben oder unten? Nach oben. Am Geländer angekommen wird es etwas leichter, denn nun gibt mir der Handlauf Sicherheit.
Ich schleiche ganz nach oben, leise, leise.
Hier war ich noch nie, ich mutmaße, dass sich in diesem alten Haus ein klassischer Dachboden befinden müsste. Ich betaste die Wand, bis ich die Türe, dann die Türklinke finde. Es ist eine alte, dünne metallene Klinke.
Ich drücke sie nach unten ... nichts.
Panik. Angstschweiß. Ich habe keine Zeit mehr, in ein anderes Stockwerk zu gelangen. Ich fühle mich wie eine Fliege im Spinnennetz.
"72,73,74.." höre ich es ganz entfernt von unten.
Plötzlich bin ich wieder das Kind. Kinder empfinden verstecken viel intensiver. Nein, Kinder haben noch ungefilterte, echte Gefühle. Ihnen hilft nie die Ratio.
Gedankenfetzen etlicher Versteckspiele, an den Waldboden gekauert, im hintersten Wandschrank versteckt, pure Angst empfindend, als wäre nicht ein anderes Kind, sondern der Teufel persönlich hinter einem her. Einmal habe ich mir sogar in die Hose gemacht, als die Spannung ihren Höhepunkt erreicht hat und ich plötzlich gefasst, angefasst worden bin. Den Puls im Hals spürend ertaste ich mit tauben Fingern wieder die Klinke, und das Areal darunter. Ein Schlüssel. Halb erleichtert, hab angespannt drehe ich ihn im Schloss. Die Tür klemmt immer noch. Vorsichtig und betend, dass sie nicht zu laut quietscht, drücke ich die Klinke nach oben und meinen Körper an die raue Türe und drehe den Schlüssel erneut. Endlich gibt sie nach.
Einen Moment erleichtert betrete ich den noch kälteren, nach Mottenkugeln und früheren Epochen riechenden Raum. Langsam taste ich mich mit den Füßen über die groben Balken des Bodens. Plötzlich falle ich mit einem lauten Gepolter über irgendetwas. Ich lande auf meiner Schulter, der Schmerz lässt hektische Muster an meinem Blickfeld vorbeiziehen. Das ist der Moment, der mich vollkommen zum Opfer macht. Dass der Suchende mein Liebster ist, hab ich jetzt vergessen, nein, hier geht es plötzlich um Leben und Tod.
Um nicht noch mal zu fallen, gehe ich auf die Knie und fühle mich bodennah voran. Das Wissen, nackt zu sein, lässt mich noch hilfloser, ausgelieferter fühlen. Im Krabbeln sind mein Po, mein Geschlecht so schrecklich ungeschützt.
"...99, ich KOOOOOOMMEEEEEEE!"
Ich hätte nicht gedacht, dass sich das Gefühl der Angst noch steigern ließe. Ist aber so, nun werde ich vollkommen kopflos und beginne zu weinen. Wie ein dummer Brummkreisel drehe ich mich am Boden im Kreis, ohne einen Plan zu haben, was ich nun tun soll.
Verstecken, ich muss mich verstecken. Halb gelähmt setze ich mich wieder in Bewegung. Leider verkeile ich mich in irgendeiner Ecke, Spinnweben umschließen ekelerregend mein verschwitztes Gesicht, streifen über Rücken und Po. Ich ertaste so etwas wie ein Regal, schiebe sachte Kisten zur Seite und zwänge mich in den entstandenen Hohlraum.
Die Lücke ist sehr klein, ich muss mich zusammenkauern wie ein Embryo im letzten Trimenon. Ich befühle meine direkte Umgebung und finde etwas, das sich wie Stoff anfühlt. Er ist rau und kratzt. Vielleicht ein alter Mantel? Damit bedecke ich notdürftig meine Blöße. Der Aktionismus ist vorbei, nun bin ich zum Ausharren gezwungen. Laut höre ich mein hysterisches Herz das Blut durch meinen Körper pumpen.
Und bald etwas anderes. Schritte. Türen öffnen und schließen.
Das Poltern der schweren Tritte durch die Stockwerke lässt Bilder des bösen, plündernden, vergewaltigenden Soldaten, Jack the Ripper, Fritz Haarmann, nein, das Böse in Person, in meinem adrenalinverseuchten Hirn entstehen.
Schon höre ich die Schritte die Treppe hoch donnern.
Ich versuche mein lautes Atmen zu kontrollieren. Und spüre ein neues Gefühl in mir aufkeimen.
Kampfgeist.
Ich werde mich nicht kampflos in mein Schicksal fügen.
Erneut suche ich meine Umgebung ab. Das neue Gefühl macht mich stärker. Meine Hand ertastet kaltes Metall.
Erleichtert umfasse ich den Gegenstand. Flackernde Lichtkreise ziehen sich über den Boden, über die Wände, immer näher auf mich zu.
Licht blendet mich.
Schon spüre ich, wie der Mantel von mir gezogen wird, eine Hand, die mein Haar ergreift und mich brutal aus meinem Versteck zieht.
Ich schlage geblendet, aber todesmutig, mit dem metallenen Gegenstand mehrfach auf den Widersacher ein.
Der böse Soldat, Jack oder Fritz schreit schmerzerfüllt los: "Sag mal, bist du verrückt geworden!?"