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Ein Lebensweg- eine Erzählung

jbk

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17.06.2003
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Ein Lebensweg- eine Erzählung

In einer dunklen Zeit

Vielen Menschen ist ihr Leben vorgeschrieben: sie stümpern durch die Pubertät, versuchen einen guten Schulabschluss zu machen, um dann ins Berufsleben einzusteigen. Irgendeine Beamtenlaufbahn oder Handwerkslehre wollen sie machen, Geld verdienen wollen sie. Später dann vielleicht ein eigenes Haus haben, eine Familie, Kinder. Zusammen alt werden und irgendwann im hohen Alter dann von den längst vergangenen Zeiten sentimental beim Kaffeklatsch zu schwärmen. Ich kenne diese Art von Menschen. Sie sind mir suspekt. Im Rahmen von Gesellschaft und Konvention leben sie, fühlen sich sicher innerhalb der Grenzen, mögen das Normale und verabscheuen das Neue. Konservative Kleingeister sind solche Menschen, die mir jeden Tag mit Schlips entgegenkommen. In ihrem Gesicht ist die Langeweile des Normalseins geschrieben, ihre Augen schauen fahl und gewöhnt in die Welt. Sie sind langweilig, nichts Besonderes eben. Morgens stehen sie auf, machen sich fertig zur Arbeit. Mittags essen sie in Kantinen Massenfutter. Abends, wenn sie dann nach der Heimfahrt zuhause ankommen, wollen sie ruhen. Sie setzen sich vor den Fernseher, ein Bier oder Glas Wein dabei und glotzen in die Röhre. Ihre Gehirne brauchen diesen fest eingefahrenen Rhythmus. Es würde sie überlasten, eine Woche lang ein ganz anderes Leben zu führen: ein Leben so, wie ich es lebe…

Seit meinem neunten Lebensjahr stehe ich auf mich gestellt. Damals, als der Missbrauch meiner Mutter immer schlimmer wurde, entschloss ich für mich, dem Leben Lebenswertes abzutrotzen. Ich bekam Schläge, jeden Tag und jeden Abend aufs Neue. Wenn ich heulte, wurden sie noch fester. Ich gewöhnte es mir ab, Schwäche zu zeigen. Mein Inneres härtete ab gegen die Hand, gegen Faust und Lederriemen. Der Grund, warum ich Prügel bekam, war unbedeutend. Ob ich nun zu spät nach Hause kam, etwas Falsches sagte oder eben von den Prügeln heulte: es setzte fast jeden Tag etwas.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, geschlagen und gestoßen zu werden. Während der Schläge war mein Körper zwar da, mein Geist jedoch löste sich für die Zeit vom Körper. Ich war weit weg während der Tortour, bei meinen Freunden, meiner eigentlichen Familie.
Meine Mutter hatte immer mal wieder kurze Beziehungen. Sie war blond und attraktiv und hatte eine gute Figur. Sie war Bodybuilderin. Wenn sie Typen mit nach Hause schleppte, waren es solche, die rau und stark waren. Oft wurde sie von ihnen geschlagen, aus welchen Gründen auch immer. Dann blieb sie noch einige Zeit mit ihnen zusammen, bis sie sie dann auch vor die Tür setzte. Doch es dauerte nie lange, bis ein neuer, alter Typ wieder an ihrer Seite war.
Ich hasste sie. Die Typen. Meine Mutter. Das, was sie mir antat. Immer war ich froh, wenn ich morgens aus dem Haus war, wenn ich mittags zu meinen Freunden ging und wenn der Abend nicht allzu bald kam. Mit meinen Freunden fühlte ich mich geborgen, aufgehoben, am richtigen Platz. Hier, in meiner Clique, waren wir alle gleich. Jeder von uns kannte schlimme Erfahrungen von zuhause, jeder von uns sehnte sich innerlich nach Liebe, Wärme und Geborgenheit. Nach Anerkennung und Freundschaft. Hier, in unserer Clique, bei unseren täglichen Treffen, konnte ich sein, wer ich war. Ein Mädchen, das ihre Energie mit Spaß und Trotz gegen die Gesellschaft schleuderte.
Mein bester Freund hieß Ali. Ali war Türke. Nicht so einer, wie man ihn aus Klischees kennt, so a la „Isch hohle meine Brüder“ Type. Nein, Ali brauchte keine Brüder, um seinen Willen durchzusetzen. Er kam gut für sich alleine klar, auch schon mit damals elf Jahren. Er lebte mit seiner Familie in einem dieser Asylantenheime, wo viele Familien auf engen Raum leben, wo die Trennwende so dünn wie Pappe sind, wo man die Nachbarn schnarchen hört. Sie lebten klein, kleiner noch als wir zuhause. Doch sie hielten zusammen, es herrschte immer etwas Familiäres bei Ali zuhause. Später dann sollte ich für gut zwei Jahre bei ihm wohnen, als ich von zuhause ausgerissen bin. Momentan jedoch waren wir beste Freunde.
Mit Ali zusammen rauchte ich meine erste Tüte.
Es war ein sonniger Tag im Frühling. Wir waren im Wald, in dem wir schon seit Jahren Baumhütten bauten und Räuber und Gendarm spielten. Hier verbrachten wir unsere Kindheit, bauten uns unsere kleine Welt, unsere Fantasiewelt auf. Hier spielten wir einst unsere unschuldigen Spiele. Nun spielten wir mit der Neugier.
Ali hatte von Freunden gehört, das Cannabis eine coole Sache sei. Einige Zeit später dann hat er von ihnen eine Tüte bekommen, die sie zusammen geraucht hatten. Es war ein komisches Gefühl, sagte er, so anders als jedes Gefühl, das er bisher gekannt hatte. Er hat über alles und jeden lachen müssen, hatte ein Grinsen über beide Backen und fühlte sich so zufrieden mit sich selbst. Und Hunger hat er bekommen, riesengroß. Drei Tafeln Schokolade, eine Tüte Chips und ein Paket Kuchen habe er danach aus dem Supermarkt geholt und verdrückt. Bezahlt hatte er natürlich nicht.
Das hat er uns also erzählt und mit der Begeisterung, wie er uns das erzählt hatte, wuchs auch die Neugier, selbst mal dieses Gefühl zu haben. So über alles und jeden lachen zu können. Lachen zu können an sich. Wow. Das war verlockend. Und so war es auch nicht verwunderlich, dass ich es ausprobierte, als Ali dann am besagten Frühlingstag mit einer Tüte Cannabis ankam. Wir saßen in unserer Baumhütte, als er den Joint baute und anzündete. Ein süßlicher Geruch stieg mir in die Nase. Ich beobachtete Ali. Er zog drei, viermal tief an der Tüte, hielt die Luft für einen Augenblick lang an, bis er den Qualm ausströmen lies. Das wiederholte er, bevor er sie mir in die Hand gab mit den Worten: „Jetzt bist du dran.“
Gespannt, etwas aufgeregt nahm ich sie zwischen die Finger und tat es Ali gleich.
Ich musste ziemlich husten beim ersten Zug. Es kratzte ganz schön im Hals. Doch Ali ermunterte mich, es noch einmal zu versuchen, was ich dann auch tat. Beim zweiten Mal funktionierte es schon besser. Es schmeckte gut. Und es tat gut. Ich merkte, wie sich ein merkwürdiges Gefühl in meinem Kopf ausbreitete, das leicht an Watte erinnerte. Ich fühlte mich entspannt, genoss die Umgebung und das Zwitschern der Vögel. Wir rauchten die Tüte gemeinsam aus und legten uns danach auf die Bretter, den Blick ins Himmelsblau gerichtet. Es war ein wunderschöner Tag und ich erinnere mich an ihn so gut, weil ich da oben, zusammen mit Ali unter dem blauen Himmel, mit Cannabis im Blut das erste Mal völlig von meinen Problemen, von den Schmerzen abschalten konnte. Es kam mir wie eine Erlösung von der Realität vor…

Gut zwölf Jahre sind vergangen, seitdem ich mit Ali meine erste Tüte geraucht habe. Heute, mit 22, erinnere ich mich an den Frühlingstag, als wäre er gestern gewesen. Ziemlich viel ist in der Zeit passiert, die zwischen dem heute und dem anscheinenden Gestern liegt. Wenn es wirklich gestern gewesen wäre, mein erster Kontakt mit berauschenden Substanzen: ich hätte einen Tag erlebt wie es einen zweiten nicht gäbe.
Ich habe mich mit der Zeit verändert. Natürlich, werden manche jetzt sagen, das tut doch jeder. Das Leben verändert einen Tag für Tag. Doch mich hat es anders verändert, tiefer drinnen. Heute sitze ich in psychiatrischer Behandlung, frage mich, was mein Leben wert ist, in dem ich schon so viel erlebt habe, wie manch anderer von den Normalen sein Leben lang nicht erlebt. Manch einer kennt das, was ich hier versuche zusammenzufassen, nicht einmal vom Hörensagen. Es sind die Menschen, die in ihrer kleinen, heilen Welt leben, die sich vor der harten Realität des Lebens abschotten, sie ausblenden durch ihren Alltagstrott. Sie wollen es oft nicht hören: die Nachrichten von Drogenmissbrauch, von Vandalismus, Diebstahl und Überfällen. Von Missbrauch und sexueller Vergewaltigung. Vom Rotlichtmilieu, vom Gefängnis. Die Aufschreie von geschundenen Seelen, die rebellieren gegen das, was ihnen angetan wurde. Liebe, kleine, rosafarbene Welt, denken sie; bleib mir erhalten.
Mich kotzen diese Ignoranten an: sie sind das Beispiel von Unwissenheit, von Ausblendung und Verdrängung des Lebens auf deutschen Straßen, das ich zwölf Jahre lang gelebt habe.
Ich bin stolz, es überlebt zu haben, mich gerettet zu haben aus welcher Situation auch immer. Dem Leben das Leben abgetrotzt zu haben. Es selbst geschafft zu haben, bis- ja bis mich meine Vergangenheit eingeholt hat.
Ich sitze jetzt hier, habe dran zu knacken, was ich erlebt habe. Worauf ich immer stolz gewesen bin, soll nun schlecht für mich gewesen sein.
Ehrlich, ich sehne mich nach diesem Leben zurück, das von Aktion, Rausch und freiem Handeln geprägt gewesen war. Doch auf der anderen Seite sehe ich ein, dass es so nicht mehr weiter gehen konnte, dass das wilde, bunte wie auch brutale Leben nun seinen Tribut haben will. Der Gedanke, bald so zu sein wie ihr, die Normalen da draußen, macht mir Angst. Es ist nicht nur euer Leben, das mich ängstigt. Es ist euer Verhalten, euer Drang zum Alltag, zum Gewohnten. Ich bin ein Mensch, der den Kick des Neuen liebt, der für den Kick lebte. Und nun sitze ich hier und schreibe auf, was ich erlebt habe, um mir so wenigstens die Erinnerung an all das Schöne, Schreckliche und Wahre meines Lebens aufrecht zu erhalten. Lest mit mir und versucht zu verstehen, warum ich nicht Normal werden kann!

Wie gut erinnere ich mich noch an die Zeit mit Ali. Wir haben uns als Kinder schon kennen gelernt, sind durch die Straßen der öden Stadt Dülmen gezogen, haben uns den Tag und die Nacht um die Ohren geschlagen. Mit ihm rauchte ich meine erste, und bei weitem nicht meine letzte Tüte. In dem Wald unserer Jugendspiele zogen wir uns zurück, bauten Hütten und machten Scheiße. Zündeten ein Stück vom Wald an. Es wurde ein Großfeuer. Die Feuerwehr war weit über Dülmen hinaus zu hören. Der Qualm zu sehen wie ein Rauchzeichen. Die Zeitungen schrieben Schlagzeilen. Wir wussten, wer es war. Warum wir es taten: aus Langeweile. Die Langeweile ist wie ein zähes Kaugummi, das sich lang, zäh und fade durch den Tag zieht. Man versucht es auszuspuken und wegzuschmeißen, doch irgendwann klebt es wieder unter dem Schuh. Zäh und fade.
Der Brand im Wald war ein toller Kick. Zuerst sammelten wir Äste und alte Zeitungen, stapelten beides auf einen Haufen und zündeten ihn an. Die Flammen leckten erst am Haufen, dann über das trockene Geäst des Sommers, bis dicker, dunkler Rauch durch den Wald quoll. Wir waren es, die gezündelt hatten. Wir waren es, die sich freuten über das Interesse an diesem Fall. Endlich einmal bekam etwas Beachtung, was wir machten. Und wir keine Schläge, weil es unbekannt blieb, wer dafür verantwortlich war. Zwar munkelte man in unsere Richtung, doch beweisen konnte es uns keiner.
Die anderen Kinder waren natürlich im Bilde. Sie wussten von unserer Aktion, weil wir unter ihnen auch kein Blatt vor den Mund nahmen. So galten wir als Etwas. Ein gutes Gefühl.
Nach dem Brand rauchten wir Cannabis und ließen den Tag entspannt ausklingen.

Als ich zuhause war, bekam ich meine tägliche Tracht Prügel. Meine Mutter hatte sich vor kurzem erst wieder von ihrem Freund getrennt. Ein halbes Jahr waren sie zusammen und sie war schwanger von ihm. Er kam aus Marokko und hatte mit dem Dortmunder Rotlichtmilieu zu tun. Aus Frust über die Trennung, zur Verarbeitung der Prügel, die sie während der Beziehung hat einstecken müssen, schlug sie auf mich ein. Stellt euch eine stabile Frau vor, die wegen ihres Trainings zu 90% aus Muskeln besteht. Die Schläge ließen mich die Sterne sehen. Doch sie sah keine Träne.
Abends dann lag ich im Bett. Das Zimmer war dunkel, ich allein mit meinen Gedanken. Die schlimmen Gedanken, die mit Schlägen zu tun hatten, wichen, als ich das Feuer lodern sah. Es war eine Genugtuung. Mit einem Lächeln schlief ich ein. In dieser Nacht hatte ich einen Traum. Eine Frau lief durch einen Wald, der in Flammen stand. Orientierungslos rannte sie umher, eingekesselt von beißendem Rauch. Der Ring schloss sich immer enger, die Schreie des Schmerzes wurden immer lauter, eindringlicher. Ich wachte auf, trank Mineralwasser und schlief wieder ein, nun traumlos in einem tiefen Schlaf.


Es passierte diesen Sommer immer öfter, dass ich erst weit nach Mitternacht nach Hause kam. Meine Mutter machte sich immer Sorgen, sagte sie, und aus Sorge um mich schlug sie mich windelweich. Ich solle sie doch verstehen, sie liebe mich über alles und ich tue ihr solch schlimme Schmerzen an. Sie verstand es, mich zu schlagen, mir ein schlechtes Gewissen einzureden und mich somit schuldig fühlen zu lassen. Denn obgleich was sie mir antat, noch fühlte ich eine Bindung zwischen uns, ein Band des Schmerzes. Doch schon bald sollte sich das ändern.
Inzwischen waren nicht mehr nur Ali und ich täglich zusammen, sondern auch noch ein paar andere Leute aus Dülmen, die wie wir der Langeweile der Kleinstadt satt hatten. Auch sie kamen aus schlechten Familienverhältnissen, auch sie hatten Erfahrungen mit Cannabis und Alkohol gemacht. Wir passten zusammen, weil wir die gleichen Erfahrungen machten.
Es war die Zeit, als wir anfingen, Hardcore- Musik zu hören. Wummende Bässe und tiefgreifende Melodien bestimmten unser Gehör. Es war der Ausdruck unseres Lebens, unseres Leidens, welcher sich in der Musik wieder spiegelte. Der Bass war wie ein kraftvoller Schlag, den wir durchs Tanzen in den Boden leiteten. Damals schon durchfloss uns die Musik mit Leib und Seele. Und je schneller der Bass, je wilder unser Tanz, desto besser fühlten wir uns. Klar, dass wir nicht nur Musik aus dem Ghettoblaster hörten, sondern auch in Diskos tanzen gingen. Wir hatten einen guten Draht zum Türsteher der Dülmener Disko Fantasy, als wir mit etwa zwölf Jahren begannen, die Wochenenden in der Diskothek zu verbringen. Hier, in dem dunkeln Raum, der von Stroboskoplicht erhellt und Bässen erfüllt wurde, fühlten wir uns aufgehoben und richtig am Platz. Das war genial: endlich glaubten wir, das Richtige gefunden zu haben, das, was das Leben lebenswert macht.
Mit der Musik kamen die Drogen. Wir schmissen und zogen uns alles rein, was angeboten wurde. Exstasy, um gut drauf zu sein. Speed, um vom XTC- Rausch wieder klar zu werden. Downer, um den Speedkick zu killen. Canabis, um die Sache abzurunden. Zwischendurch ein paar Biere, die wir anderen abschnorrten. Und Tanzen! Tanzen, solange wie wir getrieben wurden. Bis in die Morgenstunden. Dann zur Afterparty. Wieder ein paar Pillen, dann ging der Tag klar. Dann zu jemanden in die Bude. Eine Höhle, unordentlich und gemütlich. Hier fühlten wir uns sicher, hier lebten wir. Was uns unsere Eltern nahmen, holten wir uns hier wieder. Das ging einige Monate so. Merkwürdig, obwohl ich es nie richtig gemerkt habe, war auch dieses Leben an einen Rhythmus gebunden. Den Rhythmus des Rausches, der der Bässe und der Nacht.
Meine Mutter sah ich immer seltener. Ich vermisste nichts. Ich hatte etwas gefunden, was mir Halt gab. Ich wohnte bei Ali. Seine Familie wurde meine Familie. Seine Mutter wurde wie eine Mutter für mich. Sie kochte immer, schimpfte nie, wenn wir verpeilt nach Hause kamen. Sie hatte Verständnis. Und wir hatten Verständnis für sie. Wenn sie von sich redete, saßen wir und hörten wir zu. Wir gaben uns gegenseitig Halt. Halt in einer Gesellschaft, in der wir Außenseiter waren. Die uns hier wie da misstraute, auch hasste. Lange Zeit lebte ich bei Ali. Meine Mutter wusste es, aber sie unternahm nichts. Mittlerweile hatte sie ihr Kind geboren. Einen Bruder hatte ich bekommen. Jetzt war ich wieder öfters zu Hause. Anfangs freute sich meine Mutter, drückte mich stürmisch, was mich zurückzucken ließ. Zu präsent war noch die andere Art, mir ihre Liebe zu zeigen.

Doch alles änderte sich an einem Tag im Oktober. Ali wurde festgenommen. Er soll bei einem Deal jemanden gefährlich verletzt haben. Außerdem wurde ihm vorgeworfen, 2000 Pillen in Umlauf gebracht zu haben. Es waren weit mehr, doch das wussten sie nicht.
Er wurde für schuldig befunden und musste fünf Jahre in Jugendhaft.
Ich hatte die Wahl. Nach Hause gehen oder- weglaufen.
Damals dachte ich an ein großes Abenteuer. Der ultimative Kick. Also rannte ich. Zum Bahnhof. In den Zug. Nach Dortmund.
Die ersten Nächte waren hart. Am Bahnhof zu schlafen war gefährlich. Überall wimmelte es von Polizei. Also zog ich mich in den Norden zurück. Dort lernte ich Mustafa kennen, der mich bei ihm schlafen ließ. Natürlich in seinem Bett.
Ich ließ es über mich ergehen. Schließlich gab er mir Essen, ein Dach über dem Kopf- und Speed. Er hatte gute Verbindungen zu diversen Menschen, die ihm das Zeug beschafften. Menschen, die integriert in der Gesellschaft leben. Menschen wie sie dein Onkel sein könnten. Unscheinbar. Aber OHO. Ich lernte schnell, wie es ablief. Diese Menschen hatten Verbindungen zu anderen Menschen, die wiederum zu der Schattenseite der Gesellschaft zählten, zu meinesgleichen. Es ist ein Wechselspiel aus Licht und Schatten, zwei Seiten einer Euromünze. Zweckgemeinschaften. Wie die zwischen Mustafa und mir. Letztlich läuft es immer darauf hinaus. Diejenigen, die du hasst, die dich ebenfalls hassen, brauchst du. Und sie brauchen dich. Es ist leichter, eine geliebte Person zu verlassen, als von einer gehassten, aber notwendigen Person loszukommen.
Mustafa zeigte mir, wie Kokain wirkt. Er hatte es in ein Getränk gemixt, kurz bevor wir zu Bett gingen. Es war der Ersatz unseres Eheringes. Doch mindestens genauso bindend. Bald hatte er mich soweit, dass ich um den Stoff betteln musste.
Da aber ließ er mich fallen. Er sagte, ich müsse etwas tun. Müsste mein Haar offen tragen, enge Tops und Hotpans anziehen. Auf die Straße gehen. Abends, wenn es dunkel wird, wenn die Schatten der Gesellschaft zum Leben erweckt werden.
Mir blieb keine Wahl. Ich rannte wieder. Weit weg.
Zerfressen vom Verlangen, zittrige Hände, Schweiß am ganzen Körper. Kalter Schweiß, der nicht weggeht. Der wiederkommt, wenn man ihn abwischt. Bizarre Nächte verbrachte ich im Freien.
Nach einer Woche verließ mich dieses Gefühl. Ich dachte oft an Ali, an die Zeit, die wir zusammen verbrachten. Sehnsucht nennt man es, glaube ich. Doch ich kämpfte sie nieder. Man muss härter sein als die harte Realität. Ich versuchte, zu vergessen. Ich schaffte es auch. Ich verdrängte. Schloss eine Schatulle tief in mir und warf den Schlüssel in den Wind.
Ich suchte mir einen Job und fand ihn in einem Tanzclub. Viermal pro Nacht, dreimal pro Woche GoGo. Es war ein kleiner Club, tief im Inneren Dortmunds. Das Tanzen tat mir gut. Ich vergaß die schmierigen Blicke, die grabbelnden Finger. Ein Gefühl vergangener Tage umhüllte mich zu dieser Zeit.
Die Kohle stimmte. Ich gefiel den Männern, den Ehemännern, den Vätern kleiner Kinder. Mit meinen 16 Jahren sah ich schon aus wie 19. Einen gefälschten Ausweis hatte Mustafa mir besorgt. Das ist das einzige, wofür ich ihm heute noch dankbar bin. Mit diesem Dokument stand mir die Tür zum Club offen.
Ich lernte Sabrina kennen. Mit ihr tanzte ich zusammen. Bald darauf zogen wir zusammen in eine WG. Es war eine kleine, schäbige. Aber es war unsere. Hier zogen wir uns nach der Arbeit das verdiente Geld durch die Nase. Es war ein Stück Vergangenheit, eine Erinnerung an das, wofür ich lebe: den Kick. Das Zeug war gut. Sehr gut sogar. Wir bekamen es von unserem Chef. Einem kleinen, dicken Zwerg mit Hakennase, die so aussah, als hätte sie auch schon Berge von Koks gerochen.
Es schien sich alles zu normalisieren. Wir waren nicht glücklich, nicht traurig, nicht reich, nicht arm. Es lief halt alles gut, bis zu der Nacht, an dem Sabrina an einer Überdosis starb. Sie war abends nicht im Club aufgetaucht. Ans Handy ging sie auch nicht. Als ich früh morgens nach Hause kam, lag sie auf der Couch. Weißer Schaum lief aus der Nase, die Augen verdreht, die Hände: steif.
Ich rannte, schrie nicht, rannte nur. Ließ alles zurück. Nahm nichts mit. Irrte durch die Stadt. Orientierungslos. Brach zusammen. In einer Seitengasse. Wachte auf. Hatte nichts mehr am Leib. Der Slip lag in einer schlammigen Pfütze. Der Rest in der Gasse verstreut.
Warum ich’s tat, weiß ich nicht. Es zog mich nach Hause. Zurück nach Dülmen. Irgendwie kam ich dort an. Ich weiß nicht mehr wie. Die Erinnerung hüllt sich im Nebel des Vergessens.
Meine Mutter nahm mich in den Arm. Wie in Zeitlupe, als wolle sie, dass der Moment ewig werde…

Nun, jetzt sitze ich hier. In der psychiatrischen Anstalt. Nehme Antidepressiva. Habe täglich Gesprächstherapie. Meine Therapeutin brauchte eine Woche, um mich zum Reden zu bringen. Mir kam es wie ein Jahr vor. Sie meinte, manchmal würde Schreiben helfen.
Nun, vielleicht hilft es ja… irgendwann.

 

Salut Jbk,

Lange Geschichte war das, aber für mich hat es sich gelohnt sie zu Lesen.
Das Thema war interessant und die Stellen, an denen du die Gesellschaft kritisiert hast, haben mir gefallen - vielleicht auch, weil sie so viel wahres sprechen.

Was mir nicht gefallen hat war, dass du recht viele Klischees eingebaut hast:

Sie war blond und attraktiv und hatte eine gute Figur. Sie war Bodybuilderin. Wenn sie Typen mit nach Hause schleppte, waren es solche, die rau und stark waren. Oft wurde sie von ihnen geschlagen, aus welchen Gründen auch immer.[...] Doch es dauerte nie lange, bis ein neuer, alter Typ wieder an ihrer Seite war.

Ich fand die Beschreibung zu.. hmm..gewöhnlich für Geschichten dieser Art.Warum ist sie nicht eine mausbraunhaarige Frau mit Brille, die in einem Büro arbeitet? ;)Meiner Meinung nach erwartet man bei solchen Menschen zwar nicht, das sie solche Probleme haben, wie die Mutter des Prots sie in deiner Erzählung hat, aber das bedeutet nicht, das diese Probleme nicht da sind! Und wir wollen doch auch nicht etwas alles durch eine rosa Brille sehen? ;)

Aber weiter:

Jeder von uns kannte schlimme Erfahrungen von Zuhause

Die anderen Kinder waren natürlich im Bilde. Sie wussten von unserer Aktion, weil wir unter ihnen auch kein Blatt vor den Mund nahmen.
Ganz ehrlich, wenn ich einen Waldbrand auslösen würde, würde ich es nicht anderen Kindern erzählen, besonders da ich nicht glaube, das diese immer Stillschweigen bewahren.
Den Rhythmus des Rausches, der der Bässe und der Nacht.
Das doppelte "Der" stört mich ein wenig, es klingt etwas seltsam beim Lesen. Vielleicht könnte man versuchen es anders zu formulieren?

Dann ist mir noch etwas inhaltlich aufgefallen, hat niemand nach deinem Prot gesucht, nachdem sie mehrmals, dauerhaft verschwunden ist? Sicher, die Familienverhältnisse waren sehr schwierig, aber es wirkte auf mich so, als würde ihre Mutter sie dennoch lieben.

Meine Mutter nahm mich in den Arm. Wie in Zeitlupe, als wolle sie, dass der Moment ewig werde…
Schöön..! *lächel*

Zum Schluss hätte ich als Leser gern erfahren, was mit Ali geschehen ist. Haben er und dein Prot sich wiedergesehen oder gab es auch für ihn keine Hilfe mehr?

Weiterhin finde ich, dass man das Erlebnis von Silvys versterben besser hätte vermitteln können. Mir wirft sich da nämlich zwangsweise die Frage auf, weshalb sie eine Überdosis genommen hat. Vielleicht könnte man ein wenig mehr Hintergrund zu ihr erfahren?

Liebe Grüße,
Thorn :)

 

Hallo Thorn,

du scheinst die "Geschichte"- ist es eine? Ist es keine?- ziemlich genau durchgelesen zu haben. Auf Deine Stellen gehe ich natürlich genauer ein, möchte aber nochmals auf den Titel verweisen: "...-Eine Erzählung" Vielleicht klärt sich dadurch schon deine Kritik wegen der Klishees. Das Leben schreibt seine eigenen Geschichten...

Ganz ehrlich, wenn ich einen Waldbrand auslösen würde, würde ich es nicht anderen Kindern erzählen, besonders da ich nicht glaube, das diese immer Stillschweigen bewahren.
Bitte bedenke, dass es sich bei der Protagonistin und ihrem Freund Ali um Kinder handelt, die Anerkennung nur in Form von Schlägen kennen. Dass sie diese Gewalt zu verarbeiten suchen, etwa durch Gegengewalt, ist durchaus nicht selten. Genauso, dass sie stolz darauf sind, auch einmal etwas Besonderes "geleistet" zu haben. Deshalb, und weil Ali als ein Junge bekannt ist, der Gewalt auch in anderer Form, siehe Messerstecherei, anwendet, schweigen die Kinder. Und auch wenn ein einzelnes etwas verraten hat- wohl der Grund, warum man den Verdacht in ihre Richtung hegte- beweisen ließe es sich nicht.

Das doppelte "Der" stört mich ein wenig, es klingt etwas seltsam beim Lesen. Vielleicht könnte man versuchen es anders zu formulieren?
Man könnte. Doch sprachrhythmisch und phonetisch schwingt dadurch der monotone Bass der Hardcore- Musik mit, um den es ja inhaltlich vergleichend geht. Hier, meine ich, gehen Inhalt und Form Hand in Hand.

Dann ist mir noch etwas inhaltlich aufgefallen, hat niemand nach deinem Prot gesucht, nachdem sie mehrmals, dauerhaft verschwunden ist? Sicher, die Familienverhältnisse waren sehr schwierig, aber es wirkte auf mich so, als würde ihre Mutter sie dennoch lieben.
Nunja, hast Recht. Werde die Erzählung in dieser Richtung noch etwas ausbauen.

Zum Schluss hätte ich als Leser gern erfahren, was mit Ali geschehen ist. Haben er und dein Prot sich wiedergesehen oder gab es auch für ihn keine Hilfe mehr?
Auch hier könnte ich noch schreiben, was weiter geschah. Das Leben der Prot. endete auch nicht in der psychiatrischen Klinik. Aber, wie du anfangs schon angedeutet hast- ist es schon eine relativ lange Erzählung. Die Gefahr liegt einfach darin, dass sie zu lang wird und weniger die Zeit aufbringen (eigentlich schade...), längere Texte zu lesen.

Weiterhin finde ich, dass man das Erlebnis von Silvys versterben besser hätte vermitteln können. Mir wirft sich da nämlich zwangsweise die Frage auf, weshalb sie eine Überdosis genommen hat. Vielleicht könnte man ein wenig mehr Hintergrund zu ihr erfahren?
Ist gebongt! :)

Um nochmals zum Anfang zurück zu kommen. Es ist eine Erzählung mit wenig Fiktion...

Tschau
Jan

 

Hallo Jan,

du beschreibst hier das Elend so ergreifend, daß ich mich beim Lesen schon gefragt habe, ob der "Lebensweg" nicht authentisch sein könnte - dein vorheriges Posting hat es bestätigt.

Thorn sieht in der Geschichte eine Gesellschaftskritik, und ich schließe mich der Meinung an. Ergänzend wäre auch eine Kritik an der Erziehungspolitik zu nennen: Labile Familienverhältnisse, fehlendes Vertrauen, Neurosen bei Mutter und Tochter. Und es kommen noch viele Umgebungsfaktoren hinzu, die eine individuelle Wirkung ausüben. Manchmal kann freilich daraus ein gegenteiliger Effekt entstehen: Miserable Verhältnisse können andere beflügeln, etwas Positives aus sich zu machen, doch in diesem Fall ist wohl etliches schief gegangen.

Erschreckende Geschichte, die gut formuliert ist.
Schöne Grüße,
Emil

 

Hi ababwa,

hast wohl im Archiv gestöbert, wie? :D
Dein Posting hat mich gefreut, auch weil du die Geschichte in Richtung Familienkritik hin interpretiert hast. Ist mir beim Schreiben gar nicht bewusst gewesen, denn es ist in der Tat eine Erzählung, die so das Leben geschrieben hat.

Gruß
Jan

 

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