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Ein Looser

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10.08.2004
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Ein Looser

Die eiserne Lady hat mal gesagt, wenn man das dreißigste Lebensjahr erreicht hat und noch immer öffentliche Verkehrsmittel benutzt, hat man schon verloren. Man ist dann ein offizieller Looser, mit zwei „o“.

Ich hätte an der Stelle gern ausprobiert, ob sie tatsächlich eine Lady aus Eisen ist, oder nur ein Mensch, der nicht nachgedacht hat. Eine geballte Faust, beschleunigt von einer trägen Masse von achtzig Kilogramm, mitten rein. Dazu ein nachgezogenes Knie ins Gesicht, ausgeführt von einem Looser, hätten sie ihre Meinung vielleicht überdenken lassen.

Jedoch war der Verlierer beim Interview nicht anwesend und ist auch sonst ein absolut friedlicher Mensch. Jeden Tag sitzt er in der Bahn, läßt sich zum Arbeitsplatz befördern und wieder zurück. Es sind täglich zwei Stunden, in denen die Welt seinen Status als Verlierer der Gesellschaft zur Kenntnis nimmt. Nicht begrüßend, aber akzeptierend.

So schlimm, wie der Ausspruch der Lady suggeriert, ist der Nahverkehr garnicht. Ok, es gibt ein paar schwarze Schafe, die ihn benutzen. Sie unterhalten sich frühmorgens oder spät am Abend lauthals mit unsichbaren Kollegen per Handy über Forecasts, Umsatzzahlen oder andere uninteressante Themen. Oft lachen sie dazu noch gekünstelt, so, als ob Lachen ein Zwang wäre und ihre Gesprächspartner die letzten Deppen. Sie stören mit ihrem Verhalten die anderen Mitreisenden, was sie aber nicht weiter stört. Das sind die wahren Verlierer, die so erfolgreich sind, daß sie zwischen Arbeit und Freizeit nicht mehr unterschieden können. Sehr viel interessierter wäre ich, wenn sie die letzte Nummer mit ihrer Sekretärin oder der Praktikantin am Telefon schildern würden. Dann hätten sie ganz sicher auch die ungeteilte Aufmerksamkeit des gesamten Abteils. Aber wen, außer Industriespione, interessieren schon nackte Zahlen?

Im Nahverkehr ist man unter seinesgleichen. Normale Angestellte, Bauarbeiter und Handlanger. Viele lesen Zeitungen oder Bücher, unterhalten sich oder lernen Vokabeln von kleinen Pappkärtchen. Ich finde die Vorstellung interessant, daß sich hier die Essenz der Bevölkerung trifft, bevor sie in ihre vorgefertigten Rollen im Job schlüpft oder sie gerade verlassen hat. Hier kreuzt man den Weg von ruhigen Menschen, bis hin zu jähzornigen und verstörten Lebewesen. Morgens sieht man oft Leute mit einem Boulevardblatt sitzen und drei oder vier Leute, die versuchen mitzulesen und die neuesten Informationen zu erhaschen. Oftmals lesen Anzüge mit, die wohl gerade den letzten Heller für ihre Bürouniform ausgegeben haben oder es als unter ihrer Würde empfinden, eine Bildzeitung zu kaufen.

So richtig interessant finde ich die Leute, meist Männer, die sich unbeobachtet fühlen und den Frauen in den Ausschnitt oder auf den Hintern starren. Die wenigsten von ihnen tragen keinen Ehering. Frauen gehen da oft subtiler vor. Als erstes erkunden sie, ob sie selbst unter Beobachtung stehen.Wenn nicht, mustern auch sie ihre Umgebung sehr genau. Einige wenige studieren ihre Umwelt mit Hilfe der Relexionen auf Scheiben oder anderen glatten Oberflächen. Ich, als Mann, kann die Männer natürlich verstehen. Sehr oft sind Schönheiten unterwegs. Doch viele Frauen schminken sich so stark, als ob sie Angst vor ihrem eigenen Gesicht haben und es verstecken wollen. Verstehe einer die Frauen.

Das größte Rätsel im Nahverkehr hat mir die U-Bahn aufgegeben. Ab und zu schlafen Leute in der Bahn ein. Wenn an der Endhaltestelle die Aufforderung zum Verlassen der Bahn ertönt, ruht der Kopf der zusammengesunkenen Gestalt immernoch sanft auf der Brust, die Arme sind überkreuzt. Alle anderen haben den Wagen schon verlassen. Dann schließen sich die Türen und die U-Bahn setzt sich langsam in Bewegung. Ein paar Schläfer schrecken beim Zurollen der Türen hoch, mit Entsetzen in den Augen. Ein paar sehen nur müde auf oder schlafen einfach weiter.

Das wirklich Merkwürdige ist jedoch, daß die Wagen immer leer sind, wenn der Zug dann wieder für die Rücktour in die Station einläuft. Wo sind die Menschen geblieben? Außerhalb der Bahnsteige werden die Türen nicht geöffnet, zur Sicherheit der Passagiere. Sie können also nicht ausgestiegen sein. Ich habe auch noch nie einen Bediensteten der Transportgesellschaft gesehen, der verwirrte Personen zum Bahnsteig begleitet hat.

Wo bleiben sie nur? Treibt sich dort in der Dunkelheit ein Raubtier herum, das sich an die, aus der Bahn ausgebrochenen Verirrten heranschleicht und sie im Schutz der Dunkelheit verschlingt? Oder kann es sein, daß die armen, verschlafenen Menschen tagelang durch die absolut schwarzen Röhren der U-Bahn irren, um dann durch einen Lichtschacht halb verdurstet und am Ende ihrer Kräfte an die Oberfläche zu kriechen, nur um zu sehen, daß die Nacht hereingebrochen ist? Am schönsten finde ich die Vorstellung, daß von irgendwoher aus dem Hintergrund eine Stimme ertönt, während man durch den Wagen stolpert. „Beam ihn hoch“, blaue Lichter erscheinen und man wacht an einem völlig anderen Ort auf.

Der Augenblick wird kommen, an dem ich meine Neugier stillen werde. Vielleicht mache ich dann eine sensationelle Entdeckung. Eine Entdeckung, die mich von der Masse abhebt, meinen Status als Verlierer beendet.

Bis dahin bleibe ich ein Looser, ein Verlierer der Gesellschaft, einer von Millionen.

 

Hallo Scout SD!

Ich habe Deine Geschichte zu lesen begonnen, fand den Ansatz, wenn er auch nicht sehr nach Geschichte klang, ganz interessant, aber bei ...

Eine geballte Faust, beschleunigt von einer trägen Masse von achtzig Kilogramm, mitten rein. Dazu ein nachgezogenes Knie ins Gesicht, ausgeführt von einem Looser, hätten sie ihre Meinung vielleicht überdenken lassen.

...hab ich dann gleich wieder aufgehört. Das macht so ein komisches Gefühl im Magen, das ich nicht mag. Glaubst Du, hat schon jemals jemand durch Gewalt zu denken begonnen? Oder ist die Reaktion auf Gewalt nicht eher ein Sich-Fügen?

War aber natürlich neugierig genug, um den Rest kurz zu überfliegen - der restliche Inhalt scheint meiner Meinung nicht so zu wiedersprechen, trotzdem will ich mir einen Text, in dem der Autor es für nötig hält, einen unnötigen, unbegründeten gewaltsamen Einstieg zu wählen, nicht antun.
Und Geschichte hab ich dabei leider auch keine erkannt, das kann allerdings aufgrund des Überfliegens an mir vorbeigegangen sein. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

@Scout:

Die eiserne Lady hat mal gesagt, wenn man das dreißigste Lebensjahr erreicht hat und noch immer öffentliche Verkehrsmittel benutzt, hat man schon verloren. Man ist dann ein offizieller Looser, mit zwei „o“.
Also, das Wort "looser", mit zwei o, gibt es nicht. Zumindest nicht im Englischen. Oder halt... das gibt es doch. Es ist die steigerungsform von "loose" (locker).
Ich weiß, dass "loser" im Deutschen oft mit zwei o falsch geschrieben wird, weiß der Geier, warum.
Mich wunderte hier die besondere Betonung der zwei o. Ein absichtlicher Gag? Wenn ja, dann kommt es aber nicht so rüber.

Naja, bis denn.

I'm a loser baby, so why don't you kill me...

 

@ Häferl, Solveig
Den Absatz mit der Gewalt wollte ich drin haben, weil das die erste Empfindung war, die ich auf diese Aussage hatte. Die Beteuerung der Harmlosigkeit vorangestellt, würde den Absatz verbessern, stimmt.

Hm... Ja, stimmig ist die Geschichte nicht.

@ Ben
Der Looser mit zwei "o" ist kein eingebauter Witz und auch nicht direkt an das englische lose oder loose angelehnt.

Ein Looser, bei dem man das "o" besonders betont, entspricht für mich einen Verliiiieeerer, dem allerletzten in einer Masse.

Wie könnte man es anders in geschriebenen Texten rüberbringen? Hast Du eine gute Idee?

 

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