Ein Opfer seiner selbst
Es ist gut zu wissen, dass das Leben auch schön sein kann. Jeder weiß das, weil wohl jeder schon mal schöne Erlebnisse hatte. Sogar ich weiß das. Weil selbst ich einige schöne Momente in meinem Leben verzeichnen kann. Und der Kalender bestätigt mir oftmals mein Gefühl, dass ich nicht weit zurückblicken muss, um glücklich zu sein. Doch es gibt da diese Augenblicke, mal länger, mal kurz, in denen alles so blaß, so monoton und, ja, sehr weit entfernt scheint. Gestern ist letzte Woche, vorgestern war im vergangenen Jahr. Oder hat nie stattgefunden. Sie zieht sich, die Zeit, sie vergeht nicht, obwohl meiner vorhergehende Feststellung das Gegenteil zugrunde liegt. Es ist schwer, sich auf eine vielversprechende Zukunft zu besinnen, wenn man die entsprechende Perspektive verloren hat. Schwer - oder ungewohnt leicht.
Ich zittere, weil ich Hunger habe. Es ist nach fünf Uhr nachts. Das Ticken der Uhr befiehlt meinem Herz, wann und wie oft es zu schlagen hat. Hoffentlich hält die Batterie noch. Wenn sie leer ist, tickt die Uhr weiter, aber die Zeiger bleiben auf zehn vor zehn stehen, weil sie die ganze Runde nicht mehr schaffen, dazu sind sie zu schwer. Mir ist ein bißchen schwindlig, mein Blick verschwimmt, aber wenn ich mich konzentriere, kann ich noch gut sehen. Die Uhr. Den Kalender. Die Tür. Schon viele Menschen sind durch sie gekommen und irgendwann wieder gegangen: Freunde, Familie... aber hauptsächlich Bekannte. Bekannte, die man nur wenige Wochen oder Tage vermisst, wenn man umzieht, obwohl man monatelang die Wochenenden zusammen verbracht hat. Nachts ist die Einsamkeit am Schlimmsten. Und wenn es draußen dann noch leise regnet, ist das wie ein Warnschuß, der nicht nur warnt, sondern vollstreckt. Der Regen prasselt leise genug auf die Erde, um die plätschernden Geräusche der Heizungsrohre nicht vernachlässigen zu müssen. Ticken, Plätschern, Prasseln, ich könnte schreien, das wäre befreiend, aber die Nachbarn... das geht wirklich nicht.
Ich hätte es nicht tun sollen. Alles wäre wie früher wenn ich mich hätte beherrschen können. Ich war nicht ich selbst, ich erkenne mich heute nicht wieder, alles ist so verschwommen in meiner Erinnerung. Da sind bunte Lichter... eine Stadt. Der Himmel ist ganz dunkel, natürlich, es ist nacht, die Sterne sind unbeschreiblich schön. Da war es, dieses Gefühl... ich liege mit ihr auf dem Dach meines Fords, auf dem Rücken, wir betrachten den Himmel, die Sterne, wir küssen uns und sind das kleine, unvergängliche Zentrum unseres eigenen Universums, unsterblich und doch ständig unter Beschuß. Die Zeit bleibt stehen, für uns, doch für den Rest der Welt läuft sie weiter, unweigerlich. Es wird kalt, wir setzen uns auf, umarmen uns, versuchen uns gegenseitig zu wärmen. Wir wollen beide hier bleiben, mitten im Augenblick, gefangen von unserer eigenen Freiheit, es Vergangenheit sein zu lassen, jetzt bloß nicht blinzeln. Ich möchte mit ihr zusammensein, unsere Geschichte soll weitergehen, bis zur letzten Seite, es wäre ein langweiliges Buch, weil alles perfekt wäre, aber ich muss es ja auch nicht lesen sondern leben. Am Ende des ersten Kapitels fahre ich sie nach Hause, verabschiede sie. Bis morgen - gute nacht.
Ich weiß nicht, wie meine Freundin davon erfahren hat und kann es mir bis heute nicht erklären. Noch bevor ich mir eine neue Wohnung gesucht habe, bin ich zu ihr gefahren, zu dem Haus, in das sie ging als als ich sie nach Hause brachte. Eine Frau, die ich noch nie gesehen habe, öffnet mir. Im Hintergrund spielen zwei kleine Kinder mit einem Tennisball. Das eine Kind hat keine Haare, dies bemerkend frage ich nach meiner großen Liebe. Ich müsse mich irren, so jemand wohne hier nicht, weder hier noch in der Nachbarschaft, sie wohne hier schon seit vielen Jahren. Ich entschuldige mich für die Störung und gehe zum nächsten Haus, nichts, die ganze Straße hinunter, auch nichts.
Heute bin ich mir nicht sicher, ob es sie gab. Wenn nicht, dann wüsste ich gern was ich gemacht habe, weshalb mich meine Freundin rausgeschmissen hat. Ich kann mich nicht erinnern, nur das Ticken der Uhr erinnernt mich noch daran, dass ich weiterlebe, ich weiß nicht wieviel Zeit seitdem vergangen ist und schon gar nicht wieviel Zeit noch vergehen muss, damit das alles ein Ende hat. Der Regen hat aufgehört, vielleicht ein gutes Zeichen. Ich drehe die Heizung ein Stückchen höher, mir ist kalt geworden. Da fällt mir auf, dass es draußen hell geworden ist. Ob die Sonne schon scheint, weiß ich nicht, es sind Wolken davor. Ich muss lange in Gedanken gewesen sein, sehr lange. Es ist jetzt zehn vor zehn. Ich gehe näher ans Fenster, kann meine Augen in der Helligkeit kaum offenhalten. Dann ist es soweit. Die Sonne bricht durch die Wolkendecke. Auf einmal kann ich mich an alles erinnnern.