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Ein seltsamer Traum
Ein seltsamer Traum
Es dunkelte bereits, als Emma hinter dem Bürogebäude ihr Fahrrad aufschloss. Sie war todmüde und hatte Kopfschmerzen. Das Telefon hatte den ganzen Tag geklingelt. Jeder wollte sich aus dem Jahresschluss-Ausverkauf ein günstiges Schnäppchen sichern.
Die kalte Nachtluft tat ihrem schmerzenden Kopf gut. Sie versuchte abzuschalten und durchzuatmen, was ihr nicht gelang. Sie fühlte sich leer und ihr Leben kam ihr bedeutungslos vor. Die Arbeit im Kaufhaus, nun ja, man musste froh sein, überhaupt Arbeit zu haben. Und ihre Beziehungen? Bis jetzt hatte es bei keiner richtig geklappt. Sie hätte gerne geheiratet und eine Familie gegründet. Eigene Kinder zu haben, war immer ihr Traum gewesen.
Plötzlich stiess ihr Vorderrad an einen harten Gegenstand, der dabei nach vorn geschleudert wurde.
Emma stieg ab und entdeckte zu ihrem Erstaunen eine handgrosse, in Holz geschnitzte, kniende Hirtenfigur.
Zu Hause erkannte sie erst richtig, wie schön geschnitzt der Hirte war. Wer den verloren hatte, dem musste er sehr fehlen; er gehörte sicher zu anderen Figuren einer Weihnachtskrippe. Morgen würde sie ihn im Fundbüro abgeben.
Als sie ins Bett ging, stellte sie die Figur auf den Nachttisch. Noch einmal bewunderte sie die schöne Schnitzarbeit. Dem Künstler war es gelungen, auf dem Gesicht des Hirten ein grosses Staunen auszudrücken. Je länger sie ihn betrachtete war es, als ob der Hirte, der sonst wohl sein Gesicht dem Jesuskind in der Krippe zuwandte, sie ansähe. Wenn der reden könnte!
Und tatsächlich, er sprach zu ihr, wenn auch nur im Traum. Sie war wieder mit dem Fahrrad unterwegs. Da kniete ein Mann im Dunkeln auf der Strasse. Emma stieg ab und beugte sich über ihn. Sie erschrak. Es war der Hirte. Er erhob sich, sah sie an und fragte: "Kennen Sie den Weg nach Bethlehem? Ich bin vom Weg abgekommen; aber ich muss unbedingt dorthin."
"Nein", gab Emma zurück. "Ich kenne den Weg nicht. Aber jetzt ist es Nacht. In unserem Dorf können Sie übernachten und Morgen finden Sie vielleicht weiter."
"Nein", widersprach der Hirte. "Mich darf keiner aufhalten. Schade, dass Sie den Weg nach Bethlehem nicht kennen. Aber ich muss ihn finden." Damit schritt er aus, der kräftige, grosse Mann mit seinem Hirtenstab, den Blick in die Weite gerichtet.
Sie schaute ihm nach und fühlte, der kommt bestimmt nach Bethlehem.
Ein seltsamer Traum, dachte Emma am nächsten Morgen, als sie den knienden Hirten neben sich sah. Der liess sich nicht aufhalten. Auch nicht durch ein bequemes Bett und eine gute Mahlzeit. Der wollte unbedingt zu dem Kind in der Krippe.
Sie sah das Bild vor sich, wie es von Künstlern in der Vergangenheit gemalt wurde: Der Stall, Maria und Josef, Ochs und Esel und das Kind in der Krippe.
Und kaum war es geboren, wurde es mit dem Tod bedroht, dachte Emma.
Plötzlich sah sie eine Weltkarte vor sich. Diese Karte schien jedoch lebendig zu sein. Sie setzte sich auf. Sie schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Es war wie ein geistiger Film. Sie konnte alle Erdteile sehen. Überall sah sie Kinder, die bedroht wurden und hörte ihr Weinen.
Dann verschwand die Szene. Emma blickte auf die Stelle, wo sie die Kinder gesehen hatte, aber sie sah nur ihre leere Schlafzimmerwand. Hatte sie sich das nur eingebildet, oder wurde ihr dadurch etwas über ihre Zukunft gezeigt?
Ein warmes Gefühl durchströmte ihren Körper und der Wunsch wurde immer stärker, sich um solche Kinder zu kümmern und sie zu beschützen.
Beschwingt fuhr sie an diesem Morgen ins Büro. Die Welt hatte sich verändert. Der Schnee war weisser. Die Schneekristalle glänzten heller. Emma verspürte ein Glücksgefühl, wie sie es seit langem nicht mehr gekannt hatte. Sie wusste, auch sie würde ihr Bethlehem finden und sie war bereit, sich auf den Weg zu machen.