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Ein wunderschöner Tag
Überkapazitäten
„Morgen Egon. Ich hab’ hier dreitausend Stück zuviel am Hals. Hast du nicht noch zufällig freie Kapazitäten?“
Der Mann am anderen Ende der Leitung schwieg für einen Moment. Dann antwortete er: „Ne Hans, leider nicht. Erkundige dich doch mal bei Herrn Schmidt. Vielleicht kann der die bei sich unterbringen.“
Herr Müller trommelte nervös mit dem Bleistift auf seinen Schreibtisch: „Nein, nein leider nicht. Da habe ich schon angerufen.“
„Das ist natürlich sch... unschön. Da bleibt mir nichts anderes, als dir die Daumen zu drücken, dass du noch einen Abnehmer findest. Falls mir noch irgendwas einfallen sollte, dann rufe ich dich natürlich noch an. Nebenbei, geht es eigentlich deiner Frau und den Kindern immer noch so schlecht? Du hast dich letztens richtig niedergeschlagen angehört. Ich meine, bei deinem Kleinsten wird so was schnell mal zur Lungenentzündung und na ja, du weiß schon...“, Egon räusperte sich.
„ Jap, ich hab’ mich nicht mal mehr richtig auf meine Arbeit konzentrieren können. Ich musste immer die ganze Zeit denken, was passieren würde, wenn... . Aber ich sage dir, es geht ihnen wieder blendend. Der Herr Doktor hat ihnen irgendein neues Antibiotika verschrieben. Meine Frau und die Kinder haben sich danach ganz schnell wieder erholt. Selbst der Herr Doktor war erstaunt.“
„Na, da sieh einer an. Die bringen immer bessere Sachen auf den Markt. Warte mal noch ein paar Jährchen ab und wir können uns die Unsterblichkeit aus dem Reagenzglas kaufen. Richte deiner Familie doch bitte einen schönen Gruß von mir aus. Hans, du, ich muss leider wieder an die Arbeit. Einer der Öfen ist ausgefallen. Du weißt ja wie das ist. Dir brauch ich ja nicht zu erzählen, was das für einen Aufstand jedes Mal gibt.“
„Ja, ja, das ist ja fast noch schlimmer, als meine Überkapazität. Wenn du willst, kannste ja deiner Gattin auch einen schönen Gruß von mir ausrichten. War nett, mal wieder mit dir zu plaudern. Auf Wiederhören.“
„Immer gerne. Immer gerne. Tschüss.“
Herr Müller legte langsam den Hörer auf und sah aus dem Fenster. Dunkle Rauchschwaden zogen aus den hohen Türmen in den grauen Himmel. Es sah so aus, als würde es jeden Moment regnen. Dicke Tropfen würden auf die Erde fallen, gegen sein Fenster prasseln und dabei ein monotones Trommeln erzeugen. Herr Meier liebte dieses Geräusch. Es vermittelte ihm Ruhe. Der Regen würde den schmutzigen Ruß und Staub der Öfen von den Gebäuden abwaschen und die Natur in frischen Glanz erstrahlen lassen.
Unruhig trommelte er wieder mit dem Bleistift auf seinen Tisch. Plötzlich ertönte ein lauter Gong und kündigte die Mittagspause an. Herr Meier stand auf und verlies sein Büro. Die Überkapazität hatte bis nach der Pause zu warten.
Durch die langen, sterilen Gänge, die ihn manchmal an des Minotaurus’ Labyrinth erinnerten, eilte er in die Kantine. Seine Schritte auf den Fließen, waren das einzige Geräusch, das von den Wänden wiederhalten. Ein leichter Schauer überkam Herrn Meier.
Bei der Essensvergabe warteten im kalten Schein der Neonröhren in einer korrekten Reihe schon viele Männer in dunklen Anzügen darauf, ihr Essenstablett annehmen zu dürfen.
Herr Meier stellte sich ans Ende der Schlange und kurze Zeit später saß er zusammen mit drei befreundeten Kollegen an einem Tisch in der Ecke des Raumes.
„Habe eine Überkapazität von dreitausend. Hat einer von euch ne Idee, wie ich mir die wieder vom Hals schaffen kann?“
„Erschlagen und heimlich vergraben oder so.“, schlug Herr klein mit vollem Mund scherzend vor. Herr Lochmann, ein weiterer seiner Kollegen, lachte leise.
„Nein, keine Ahnung, tut mir leid. Aber bei mir sieht’s auch nicht besser aus. Die haben mir mein Budget gekürzt und mir zwei weitere Bezirke zugeteilt. Das heißt, ich muss mit weniger Zügen etwa die dreifache Menge hierher transportieren. Das ist fast unmöglich“, fuhr Herr Geier kopfschüttelnd und keineswegs mehr zu Scherzen aufgelegt fort.
„Aber nur fast. Ich würde sagen, das ist Effizienzoptimierung. Solange noch alles halbwegs heil ankommt, ist das doch egal.“, zuckte Herr Lochmann mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, ob man das halbwegs heil nennen kann.“, murmelte Herr Geier leise und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
Etwas später saß Herr Meier wieder in seinem Büro auf seinem bequemen Sessel. Eine Lösung für sein Problem hatte sich immer noch nicht gefunden. Er starrte depressiv ins Leere. Sein Kugelschreiber klopfte im Takt mit dem Sekundenzeiger der Standuhr auf den Schreibtisch.
Auf einmal zeriss ein schrilles Klingeln die bedrückende Stille. Herr Meier nahm genervt den Hörer ab: „Ja, was ist?“
„Hier ist Herr Klein. Ich hab Ihnen doch vorhin von meiner Budgetkürzung erzählt?“
„Ja, das haben Sie.“
„Nun, was mein Pech ist, stellt sich als Ihr Glück heraus. Auf Grund dieser Kürzungen sind einige Probleme entstanden, mit denen ich Sie nicht belästigen will. Aber dadurch wird der Zug Nummer 23 nicht heute, sondern erst morgen eintreffen.“
„Moment.“, rief Herr Meier und seine Miene hellte sich schlagartig auf. „Das heißt, meine Überkapazität hat sich somit in Luft aufgelöst?“
„Exakt!“
„Herr Klein, sie haben was gut bei mir.“
Nach Beendigung dieses Gesprächs lehnte sich Herr Meier entspannt in seinem Sessel zurück. Da hatte sich das Blatt noch mal eben wieder zum Guten gewendet. Gleich würde er den Typen von der Aufsicht anrufen und ihm sagen, er könne die dreitausend heute doch schon verheizen. Der würde sich sicherlich auch freuen. Danach würde er seine Frau anrufen und sie fragen, ob sie nicht heute Abend Lust auf Kino hätte. Was er ihr nicht sagen würde, ist, dass er sie davor zum Essen ausführen würde. Das würde ihr gefallen, da war er sich sicher. Und was ihr gefiel, das gefiel ihm erst recht. Fröhlich fing er an zu pfeifen und sah verträumt aus dem Fenster.
Die graue Wolkenwand war aufgerissen und lies die Sonne wieder der Natur entgegenlachen.