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Ein wunderschöner Tag

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16.09.2004
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Ein wunderschöner Tag

Überkapazitäten

„Morgen Egon. Ich hab’ hier dreitausend Stück zuviel am Hals. Hast du nicht noch zufällig freie Kapazitäten?“
Der Mann am anderen Ende der Leitung schwieg für einen Moment. Dann antwortete er: „Ne Hans, leider nicht. Erkundige dich doch mal bei Herrn Schmidt. Vielleicht kann der die bei sich unterbringen.“
Herr Müller trommelte nervös mit dem Bleistift auf seinen Schreibtisch: „Nein, nein leider nicht. Da habe ich schon angerufen.“
„Das ist natürlich sch... unschön. Da bleibt mir nichts anderes, als dir die Daumen zu drücken, dass du noch einen Abnehmer findest. Falls mir noch irgendwas einfallen sollte, dann rufe ich dich natürlich noch an. Nebenbei, geht es eigentlich deiner Frau und den Kindern immer noch so schlecht? Du hast dich letztens richtig niedergeschlagen angehört. Ich meine, bei deinem Kleinsten wird so was schnell mal zur Lungenentzündung und na ja, du weiß schon...“, Egon räusperte sich.
„ Jap, ich hab’ mich nicht mal mehr richtig auf meine Arbeit konzentrieren können. Ich musste immer die ganze Zeit denken, was passieren würde, wenn... . Aber ich sage dir, es geht ihnen wieder blendend. Der Herr Doktor hat ihnen irgendein neues Antibiotika verschrieben. Meine Frau und die Kinder haben sich danach ganz schnell wieder erholt. Selbst der Herr Doktor war erstaunt.“
„Na, da sieh einer an. Die bringen immer bessere Sachen auf den Markt. Warte mal noch ein paar Jährchen ab und wir können uns die Unsterblichkeit aus dem Reagenzglas kaufen. Richte deiner Familie doch bitte einen schönen Gruß von mir aus. Hans, du, ich muss leider wieder an die Arbeit. Einer der Öfen ist ausgefallen. Du weißt ja wie das ist. Dir brauch ich ja nicht zu erzählen, was das für einen Aufstand jedes Mal gibt.“
„Ja, ja, das ist ja fast noch schlimmer, als meine Überkapazität. Wenn du willst, kannste ja deiner Gattin auch einen schönen Gruß von mir ausrichten. War nett, mal wieder mit dir zu plaudern. Auf Wiederhören.“
„Immer gerne. Immer gerne. Tschüss.“
Herr Müller legte langsam den Hörer auf und sah aus dem Fenster. Dunkle Rauchschwaden zogen aus den hohen Türmen in den grauen Himmel. Es sah so aus, als würde es jeden Moment regnen. Dicke Tropfen würden auf die Erde fallen, gegen sein Fenster prasseln und dabei ein monotones Trommeln erzeugen. Herr Meier liebte dieses Geräusch. Es vermittelte ihm Ruhe. Der Regen würde den schmutzigen Ruß und Staub der Öfen von den Gebäuden abwaschen und die Natur in frischen Glanz erstrahlen lassen.
Unruhig trommelte er wieder mit dem Bleistift auf seinen Tisch. Plötzlich ertönte ein lauter Gong und kündigte die Mittagspause an. Herr Meier stand auf und verlies sein Büro. Die Überkapazität hatte bis nach der Pause zu warten.
Durch die langen, sterilen Gänge, die ihn manchmal an des Minotaurus’ Labyrinth erinnerten, eilte er in die Kantine. Seine Schritte auf den Fließen, waren das einzige Geräusch, das von den Wänden wiederhalten. Ein leichter Schauer überkam Herrn Meier.
Bei der Essensvergabe warteten im kalten Schein der Neonröhren in einer korrekten Reihe schon viele Männer in dunklen Anzügen darauf, ihr Essenstablett annehmen zu dürfen.
Herr Meier stellte sich ans Ende der Schlange und kurze Zeit später saß er zusammen mit drei befreundeten Kollegen an einem Tisch in der Ecke des Raumes.
„Habe eine Überkapazität von dreitausend. Hat einer von euch ne Idee, wie ich mir die wieder vom Hals schaffen kann?“
„Erschlagen und heimlich vergraben oder so.“, schlug Herr klein mit vollem Mund scherzend vor. Herr Lochmann, ein weiterer seiner Kollegen, lachte leise.
„Nein, keine Ahnung, tut mir leid. Aber bei mir sieht’s auch nicht besser aus. Die haben mir mein Budget gekürzt und mir zwei weitere Bezirke zugeteilt. Das heißt, ich muss mit weniger Zügen etwa die dreifache Menge hierher transportieren. Das ist fast unmöglich“, fuhr Herr Geier kopfschüttelnd und keineswegs mehr zu Scherzen aufgelegt fort.
„Aber nur fast. Ich würde sagen, das ist Effizienzoptimierung. Solange noch alles halbwegs heil ankommt, ist das doch egal.“, zuckte Herr Lochmann mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, ob man das halbwegs heil nennen kann.“, murmelte Herr Geier leise und nahm einen Schluck aus seinem Glas.

Etwas später saß Herr Meier wieder in seinem Büro auf seinem bequemen Sessel. Eine Lösung für sein Problem hatte sich immer noch nicht gefunden. Er starrte depressiv ins Leere. Sein Kugelschreiber klopfte im Takt mit dem Sekundenzeiger der Standuhr auf den Schreibtisch.
Auf einmal zeriss ein schrilles Klingeln die bedrückende Stille. Herr Meier nahm genervt den Hörer ab: „Ja, was ist?“
„Hier ist Herr Klein. Ich hab Ihnen doch vorhin von meiner Budgetkürzung erzählt?“
„Ja, das haben Sie.“
„Nun, was mein Pech ist, stellt sich als Ihr Glück heraus. Auf Grund dieser Kürzungen sind einige Probleme entstanden, mit denen ich Sie nicht belästigen will. Aber dadurch wird der Zug Nummer 23 nicht heute, sondern erst morgen eintreffen.“
„Moment.“, rief Herr Meier und seine Miene hellte sich schlagartig auf. „Das heißt, meine Überkapazität hat sich somit in Luft aufgelöst?“
„Exakt!“
„Herr Klein, sie haben was gut bei mir.“

Nach Beendigung dieses Gesprächs lehnte sich Herr Meier entspannt in seinem Sessel zurück. Da hatte sich das Blatt noch mal eben wieder zum Guten gewendet. Gleich würde er den Typen von der Aufsicht anrufen und ihm sagen, er könne die dreitausend heute doch schon verheizen. Der würde sich sicherlich auch freuen. Danach würde er seine Frau anrufen und sie fragen, ob sie nicht heute Abend Lust auf Kino hätte. Was er ihr nicht sagen würde, ist, dass er sie davor zum Essen ausführen würde. Das würde ihr gefallen, da war er sich sicher. Und was ihr gefiel, das gefiel ihm erst recht. Fröhlich fing er an zu pfeifen und sah verträumt aus dem Fenster.
Die graue Wolkenwand war aufgerissen und lies die Sonne wieder der Natur entgegenlachen.

 

Thx für die außergewöhnlich ausführliche Kritik. :thumbsup: *schleim*
Nein ernsthaft, ich habe die Geschichte mit relativ gemischten Gefühlen hier reingestellt.
Hatte vor ein paar Tagen einen interessante Bericht von einem Herrn Baumann, Z. über den Zusammenhang von Soziologie, Moderne und Holokaust gelesen. Der war wirklich Hammer. Kann ich nur empfehlen!!! Irgendwie wollte ich versuchen, daraus was zu machen. Ist mir leider nicht so gelungen, wie ich mir das gewünscht habe. Denn der Text geht mehr um das "Janus Gesicht der Moderne".
Daher freut es mich, wenn du immerhin Potential in ihm siehst. Werde versuchen, deinen Kritikpunkten irgendwie gerecht zu werden.
Den Satz mit dem Führer werde ich natürlich sofort weglassen, nachdem ich nun weiß, dass es jeder checkt. Ich war mir da nicht so sicher.

Punkto Namen: Ich habe extra relativ einfallslose Namen gewählt um zu zeigen, das jeder aber wirklich jeder dieser Herr Meier, Geier oder was weiß ich was sein könnte.
Für den Seitenhieb aufs Korrekturcenter entschuldige ich mich. Ich hätte den Text wirklich auf soetwas noch einmal genauer durchgehen können. Sorry :crying:

 

So, habe versucht die meisten deiner Anmerkungen aufzunehmen. Hoffe, ich habe keine vergessen. So bald ich Zeit habe, werde ich auch noch einmal versuchen, die Kontraste besser herauszuarbeiten.

 

Hallo Tommy,

frag mich nicht, warum, aber irgendwie wusste ich schon bei dem ersten Satz, um was für eine "Überkapazität" es ging. Zuerst wollte ich schon mit einem gedachten "Oh nein" wieder weglesen, aber dann hab' ich doch weiter gelesen, und es nichtr bereut.

Ein paar kleine Sache:

Der Herr Doktor hat ihnen irgendein neues Antibiotika verschrieben

Antibiotika ist Plural. Du solltest es in Antibiotikum ändern.


Herr Müller legte langsam den Hörer auf

Da du danach vom Herrn Meier sprichst, denke ich, hier meinst du auch den, oder? ;) Ist sonst sehr verwirrend.


Ansonsten: sehr "schwarz", hat mir gut gefallen. Die nüchterne Atmosphäre, die Männer, die sich eigentlich nur über ihre Arbeit unterhalten, als wäre es etwas ganz normales. Sehr gelungen. Selbst, wenn ich wusste, worum es ging.
Ich kenne die vorige Version nicht, aber es funktioniert auf jeden Fall auch ohne "Führer".

Liebe Grüße,

Ronja

 

Hi Tommy

eine nette Episode aus dem Leben eines Büromenschen.

Ich weiß allerdings nicht was du mit den Kapazitäten meinst.
Sprichst du von Kohle?

Was mich etwas gestört hat, sind die vielen, Herr soundso.
Der Herr Doktor. Oder: hier ist Herr Klein. Wer meldet sich so?
man sagt doch eher: Klein hier!

Du schreibst: ...zuckte Herr Lochmann mit den Schultern
Ich würde schreiben: ...Lochmann zuckte mit den Schultern.

Sonst hat mir deine KG gut gefallen.
Ein Tag, an dem sich Probleme in Wohlgefallen auflösen. Hat man ja leider nicht jeden Tag.
Schön fand ich, als Krönung zum Glück, das die Sonne die düsteren Wolken zur Seite schob.
Was für ein wunderschöner Tag. :)

liebe Grüße, coleratio

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Coleratio,

Tommy meint wahrscheinlich KZ-Häftlinge, bzw. "Beseitigungsmöglichkeiten" für diese.

Gruß

MisterSeaman

 

... kommt halt ganz auf die Perspektive an...

Was denkst du, sollte ich das KZ doch eher etwas hevorheben und findest du es gut, dass man es nicht auf den ersten Blick merkt?

 

Hallöchen Tommy,

ich finde nicht, dass Du das KZ mehr hervorheben solltest. Bei "Ofen", "Verheizen" und "erschlagen" kommen solche Assoziationen von ganz alleine.

Gruß

MisterSeaman

 

Hallo Tommy,

So wie du deine Geschichte mit relativ gemischten Gefühlen reingestellt hast, stehe ich als Leser ihr nun auch gegenüber. Am Anfang der Geschichte war ich mir noch nicht so sicher ob es sich um KZ Häftlinge handelt, im Laufe der Geschichte fließen jedoch genügend Hinweise dafür ein. Auf der einen Seite gefällt mir, wie du die andere Perspektive beleuchtest. Aus unserer heutigen Sicht war dieser Tag alles anderes als wunderschön, aus der Sicht von Herr Meier war der Tag perfekt. Irgendwie hat es was das Verheizen der Menschen als etwas so nebensächliches und alltägliches darzustellen wie das ausgehen mit Frau Meier. Es verdeutlicht die Gleichgültigkeit des Herrn Meiers. Trägt also zu seiner Personifizierung bei.
Auf der anderen Seite aber finde ich die Umsetzung der Idee leider gewöhnlich. Wobei man zugestehen muss, dass diese Gewöhnlichkeit schon fast wieder zu der gewöhnlichen Art passt, in der die beiden Herren ihre Arbeit vollführen.

Die graue Wolkenwand war aufgerissen und lies die Sonne wieder der Natur entgegenlachen.
'ließ'
Finde den Satz übrigens etwas kitischig. Um genau zu sagen das 'entgegenlachen'.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass die Idee zu deiner Geschichte nicht schlecht ist und obwohl ich dem Thema KZ schon etwas überdrüssig bin, hat mich die Geschichte zum Weiterlesen motiviert. Etwas interessanter könntest du es gestalten, wenn du den Dialogen mehr... hmm pepp (ich hasse dieses Wort) einhauchst. Einfach etwas Lebendiger.

Einen lieben Gruß!
Thorn

 

Thx, für die Kritik. Ich glaube in einer ruhigen Minute werde ich mich nochmal hinsetzen und versuchen die Dialoge etwas aufzumöbeln;-).

 

Hab dir vorher etwas geschrieben, dann auf "Antworten" geklickt und - peng, alles weg. So ein scheiß. Ich schreib es dir nochmal, aber eben nicht mehr so stilistisch einwandfrei :Pfeif:
Ich hab deine Geschichte gelesen, ohne dass mir auffiel, was mit den Überkapazitäten gemeint war. Fand sie trotzdem gut, die Stimmung des Büros, die langsam verstreichende Zeit und natürlich die Neonlampen in der Kantine (gabs damals wirklich Neonlampen?). Dann bin ich eine rauchen gegangen und habe an die Züge gedacht. Und plötzlich ist es mir wie schuppen von den augen gefallen :cool: So einen "Schockmoment" wie gerade eben (besser: vor zwei Stunden) hatte ich beim Nachdenken über eine Geschichte meines wissens noch nie in der Intensität. Wirklich gut gelungen, dieser Überraschungsmoment. Ich kann nicht sagen, wie sich alles liest, wenn man vom ersten Satz an genau weiß, worum es geht.
Ich würde an deiner Stelle den ersten Dialog deines Protagonisten mit diesem Egon etwas umschreiben. Er wirkt für mich zu aufgesetzt, künstlich. Die anderen Dialoge bedürften auch einer kleineren Überarbeitung, ist aber mE nicht so tragisch. Und versuch, wie hier glaub ich schon erwähnt wurde, andere Namen zu finden und dass "Herr" wegzulassen.

Viele Grüße

Alex

 

Cool, dass es dir gefallen hat. Nagut, da jeder da rummeckert aendere ich sobald wie moeglich die Namen!! Und punkto Anfang werde ich mir auch noch was einfallen lassen!!!
Tststs, dass du dir nichtmal die Arbeit machst, alles noch mal stilistisch super wiederzugegen. Tststs :Pfeif:
(Ich lauf bei sowas regelmaessig Amok!!)

 

Das nächste Mal wird die Kritik für eine deiner Geschichten das Beste, was ich bis dahin jemals geschrieben haben werde :D

 

Das will ich hoffen! Sehr gut! Dann kann ich mich ja schonmal auf was gefasst machen!!

 

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