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Eine Nacht am Kristallsee
In ausgedehnten Serpentinen wand der Weg sich über den mit weichem Gras bewachsenen Hang. Gemächlich klomm er den Berg hinauf, von dessen Höhen die dunkle Flut der Wälder sich heranwälzte, um die tiefer gelegenen Wiesen abzulösen. Der Graue Jäger hielt inne und blickte zurück auf die schlafende Stadt, wie sie sich behaglich in der Talsenke eingenistet hatte. Nur eine unter den zahllosen Siedlungen, die auf der ganzen Welt wie Pilze aus dem Boden sprossen, und bestimmt nicht eine der bedeutenden, war sie schon seit Stunden im Schatten der Nacht versunken, und nur vereinzelt blinkten noch die Lichter erhellter Fenster wie winzige Funken von der Niederung herauf. Vor langer Zeit bereits hatte er die einsamen Straßen und ihre verschlossenen Häuser hinter sich gelassen, ein jedes Träger eines Schicksals; in jedem dieser Häuser lebten Menschen mit ihren eigenen Ängsten, Hoffnungen, Träumen. Er war hier, um dafür zu sorgen, dass sie weiterhin auf diese Weise vor sich hin leben und ihren Träumen nachgehen konnten.
Der Graue Jäger – so nannten ihn die wenigen, mit denen er bisweilen Umgang pflegte. Diesen Namen, der alles über ihn verriet, was zu wissen nötig war, trug er mit Stolz, in seiner ursprünglichen Bedeutung, als ein Wächter über das Leben von Wald und Flur. In dieser Eigenschaft war er der erste und der letzte, derjenige, der die Geschöpfe der freien Welt hatte aufwachsen sehen, und immer über sie wachen würde, wo es in seiner Macht lag. Er gehörte zu den Neun, die vergessen waren, einer derer, die sich noch nicht geschlagen gaben, in dem aussichtslos erscheinenden Versuch, den Geist der Welt zu bewahren.
Mit einem sachten Schulterzucken wandte er sich von den tapfer glimmenden Lichtern der Stadt ab und setzte seinen Aufstieg fort. Er brauchte nicht zu suchen, denn er hatte diesen Weg schon unzählige Male beschritten, und das milchige Licht des Mondes, der wie eine glitzernde Münze vor dem samtenen Dunkel des sternübersäten Firmaments hing, genügte ihm, um den schmalen Pfad zu erkennen. Die Luft war erfüllt von leichter, schwebender Stille, nur hie und da durchsetzt vom melancholischen Zirpen einer Grille. Es war nicht mehr weit, und schon bald umgab den Jäger die tiefere Dämmerung des Waldes, dunkel und unnahbar, nur von Zeit zu Zeit vom flüchtigen Aufflackern eines vorüberziehenden Glühwürmchens abgelöst, einem Licht, das keine Helligkeit brachte.
Das Gelände wurde zunehmend flacher, wies auf eine Stufe hin, die über Jahrhunderte von Regen und Wind aus der Flanke des Berges geschlagen worden war, noch bevor der Wald den Hang für sich erobert hatte. Schließlich teilte sich der Wald vor ihm, als wäre ein schattiger Vorhang beiseite gezogen worden. Vor ihm erstreckte sich, dunkel und ruhig, der See. Kirschbäume in voller Blüte säumten das Ufer, schienen in weißem Feuer zu entflammen, während das silberne Licht des Mondes in ihren Kronen spielte und die Luft war erfüllt von ihren blassrosa Blütenblättern, die unendlich leicht im schwachen Windhauch schwebten. Der Duft der alten aber grazilen Bäume hing betörend in der Luft und unterstrich die magische Atmosphäre des schwarzen Wassers, auf dessen glatter Oberfläche sich das Licht der unzähligen Glühwürmchen widerspiegelte, funkelnden Juwelen gleich, die tief unter der Wasseroberfläche ihr sanftes Leuchten gen Himmel sandten.
Der Graue Jäger atmete tief durch, trat an das Ufer heran, legte den Kopf in den Nacken und stieß einen langgezogenen, weithin schallenden Ruf aus, ein Geräusch, das nicht von dieser Welt zu stammen schien, doch von einer traurigen Schönheit erfüllt, für diejenigen, die es zu deuten vermochten. Einen Herzschlag lang herrschte die Stille schwer über der Lichtung, ehe ein leises Rascheln im hohen Gras hinter ihm auf seinen Ruf antwortete. Mit einem begrüßenden Lächeln wandte er sich um und blickte in Richtung der Wesen, die dort aus dem Schutz der Bäume traten. Sie waren vollzählig, bemerkte er, als sein Blick über die Schar der zierlichen grauen Wölfe schweifte und er konnte den hilfesuchenden Blick in ihren sanften, von tiefer Trauer erfüllten Augen erkennen.
Er trat einige Schritte näher und kniete nieder, wartend, dass der Alpha-Wolf vortreten würde, um das Ritual einzuleiten. Der Anführer des Rudels war etwas größer, als seine Artgenossen, doch schien er unter einer noch schwerwiegenderen Last erdrückt zu werden, als die übrigen Tiere. Behutsam streckte der Graue Jäger eine Hand aus und strich dem Geschöpf sanft durch das zerzauste graue Fell, blickte ihm tief in die Augen und fühlte, wie seine Seele mit der des Wolfes verschmolz, verstand die ruhigen harmonischen Gedanken des Wesens, so vollkommen anders als das unruhige Chaos im Inneren der Menschen unten im Tal. Er ließ diese Gedanken durch sein Herz fließen, genoss einen Augenblick ihren Frieden, fühlte die sanfte Wildheit durch seine Seele strömen, diese Wildheit, die ihm so vertraut schien. Doch noch etwas fühlte er unter all diesen Gefühlen, etwas, das wie ein dunkler Schatten in seinem Geist verwoben schwebte. Dieses grenzenlose Leid, von dem der Wolf Erlösung bei ihm zu finden suchte, er fühlte es, als wäre es sein eigenes.
Denn dies war der Preis des friedlichen Lebens der Menschen unten im Dorf und überall auf der Welt: Der unermessliche Schmerz jener Tiere. Alle negativen Emotionen, Trauer, Verlust, Hass und Unterdrückung verblieben für eine kurze Weile im Geist des Menschen, ehe sie für gewöhnlich überwunden und vergessen wurden. Doch was geschah mit diesen Gefühlen, nachdem sie den Menschen verlassen hatten? Sie verschwanden nicht einfach ins Nichts, denn Gefühle konnten nicht zerstört werden. Stattdessen suchten sie eine neue Heimat, um dort weiterzuleben. Die Wölfe hatten das ungeheure Opfer erbracht, diese Gefühle auf sich zu nehmen, das Leid der Menschheit an ihrer Stelle zu ertragen. Es war die Aufgabe des Grauen Jägers, an jedem Vollmond den See aufzusuchen und sie von ihrer Bürde zu erlösen, um zu verhindern, dass sie daran zugrunde gingen.
Er fühlte, wie die Trauer auf ihn übersprang, sich durch seine Gedanken fraß, ehe sie auf den Widerstand seines Geistes stieß und endgültig bezähmt wurde, umgewandelt in den Stoff, aus dem die Träume sind. Mehr als einmal hätte die ungeheure Flut an Schmerz und Leid ihn beinahe zerbrochen, doch er hielt stand, ewig, wenn es sein musste. Dies war seine Natur, darin bestand sein einziger Sinn, seine eigene Existenz für die aller anderen Lebewesen hinzugeben.
Mit einem tiefen Seufzer erhob er sich und blickte die anderen Geschöpfe an, einen nach dem anderen streifte sein flüchtiger Blick. Dann trat er in die Mitte des gebildeten Halbkreises und begann zu tanzen, langsam und melancholisch, doch seltsam beruhigend. Die Luft knisterte, doch sonst blieb es vollkommen still, bis auf die leisen Atemzüge der Wölfe. Eine vertrauenerweckende Aura der seelischen Ruhe breitete sich über die grauen Geschöpfe, nahm ihre Trauer in sich auf und bannte sie in den Traum jenseits der Welt, während der See schwieg und nur stumm beobachtete. Dennoch war es der See, dem die Wölfe ihre Heilung verdankten, denn ohne ihn hätte der Graue Jäger es nicht vermocht, ihren Schmerz zu lindern.
Ein durchdringender Schrei, verloren und unglücklich, durchschnitt die gespannte Stille, erfüllt von durchaus materiellem Schmerz. Der Jäger schüttelte in kaum merklichem Bedauern den Kopf. Den Wölfen brachte das Ritual Erlösung, doch ein Wesen, das selbst den Inbegriff des Unrechts in sich trug, das sich an den gequälten Seelen der Wölfe erfreute und für ihr Leiden mitverantwortlich war, ein Wesen, das allgemein als Mensch bezeichnet wurde, wenngleich dies nicht auf alle zutraf, wurde gnadenlos in seiner Wirkung vernichtet. Es würde ein weiterer mysteriöser Todesfall bei Vollmond am See sein. Doch am Morgen würde der See selbst nicht mehr hier sein. Niemand würde jemals über den Verbleib jenes unglücklichen Besuchers erfahren. Es schmerzte den Grauen Jäger, doch er konnte nichts daran ändern und am Ende war es vielleicht doch nicht vollkommen falsch. Immerhin waren sie es, die erst all das Unglück über die Wölfe gebracht und dafür gesorgt hatten, dass ihrer nur noch wenige geblieben waren ...
Vielleicht nur Minuten, vielleicht aber auch Stunden später verlangsamte er seine fließenden Bewegungen, um schließlich vollends zur Ruhe zu kommen. Der sanfte Wind war verebbt und das Gras übersät von den gefallenen Kirschblüten. Von Osten her hellte der Himmel sich allmählich auf. Der Jäger blickte ihnen nach, als die Wölfe einer nach dem anderen mit einem letzten dankbaren Blick wieder im Schatten des Waldes verschwanden. Zuletzt lösten sich die tiefen braunen Augen des Alpha-Tieres von den seinen, dann erinnerte nichts mehr an die graue Schar. Für ein paar wenige Tage würden sie ein friedvolles glückliches Dasein führen können.
Die Aufgabe des Jägers war erledigt, bis zum nächsten Vollmond. Langsamen Schrittes wandte er sich von der beruhigenden Szenerie des unwirklichen Sees ab, um dorthin zurückzukehren, wohin er gehörte. Während des nächsten Monats würde auch er seinen Frieden finden. Nach der endlos erscheinenden Nacht kündigte sich ein sanfter Morgen an ...