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Einsam
„Es ist nicht deine Schuld.“
Marie starrt an mir vorbei, ihre dunklen Augen scheinen sich im kalten Weiß des Krankenhauses zu verlieren. Ich möchte ihr übers Haar streichen, sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles wieder gut wird. Oder ihr zumindest zeigen, dass auch ich trauere, dass sie immer noch mich hat. Und ich sie.
Ich lege den Kopf schräg; schaue sie an, wie sie da verloren in ihrem Bett sitzt, die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen. Sie schließt mich aus.
„Hörst du? Mach dir keine Vorwürfe.“
Schon während ich spreche, ärgere ich mich über mich selbst. Natürlich macht sie sich Vorwürfe, ganz egal, wie lange ich an sie hinrede.
„Natürlich mach ich mir keine Vorwürfe. Warum denn auch? Sie sind tot. Das Leben geht weiter.“ Ein Blick in ihre Augen, und ich sehe, wie sehr sie kämpft. Ihre nächsten Worte zittern auch nur leicht.
„Ich will dass du gehst. Jetzt.“
Ich bleibe sitzen, warte, dass sie endlich anfängt zu weinen, zu trauern, anstatt sich selbst zu hassen. Aber sie senkt nur den Kopf.
„Geh! Geh doch endlich!“
Chance verpasst. Ich lehne mich zu ihr, möchte ihr einen Kuss geben, entscheide mich dann aber anders. Leise verlasse ich ihr Zimmer.
Auf dem Flur halte ich eine Schwester an und erkundige mich nach Maries Befinden.
„Die Brüche verheilen gut, der Arm sieht noch etwas schlimm aus, aber das sind nur Quetschungen und Schürfwunden“, meint sie achselzuckend. „Ich hab eher den Eindruck, dass Sie sich um ihre Seele sorgen sollten… für ein Mädchen in dem Alter ist es sicher nicht einfach, mit so etwas umzugehen.“
Ich nicke und frage sie nach einem Psychologen, worauf sie mich ins Schwesternzimmer zieht und mir eine Nummer aufschreibt. Mit dem Zettel in der Hand stehe ich eine Weile verloren im Gang. Mein Bus fährt erst in einer Stunde, ich hätte nicht gedacht, dass Marie mich so schnell wieder rauswirft. Jeden Tag verlasse ich sie ein bisschen früher, nur um dann in der Cafeteria zu sitzen, aus dem Fenster zu starren und überteuerten Kaffee zu trinken.
So auch heute. Ich verbrenne mir Zunge und Lippen an dem schwarzen Getränk und unterdrücke einen Schmerzensschrei. Dann starre ich aus dem Fenster und lasse meinen Blick teilnahmslos wandern.
„Mein Leben ist ruiniert“, hatte Marie gesagt, als ich ein paar Stunden nach dem Unfall mit ihr sprach. Immer nur den einen Satz, und ich wusste keine Antwort.
„Warum? Warum durfte ich nicht auch sterben?“ fragten mich ihre dunklen Augen, die ich nur fröhlich kannte. „Warum müssen sie tot sein? Warum muss ich leben?“ Ich konnte ihren Blick nicht länger ertragen und wandte meine Augen von den ihren ab.
Ich schäme mich dafür. Ich habe versagt. In den Minuten, auf die es wirklich ankam, konnte ich ihrem Blick nicht standhalten. Und ihren Schmerz nicht ertragen. Ich hatte sie verraten, so schnell, so einfach, so unwiderruflich.
Sie stieß einen verzweifelten Laut aus, der mir mehr wehtat als alles andere; und dann hatte sie ihre Augen geschlossen.
Sie blieb so die ersten Tage und weigerte sich, aus ihrem Schlaf aufzuwachen, um sich nicht der Wirklichkeit stellen zu müssen. Ich saß stundenlang an ihrem Bett, hielt ihre Hand und redete mit ihr, weil ich mir einbildete, sie würde mir zuliebe zurückkommen. Aber sie wachte erst auf, als ihre Medikamente abgesetzt wurden; der Schmerz war es, der sie in die Welt zurückholte.
Ich konnte es kaum erwarten, endlich wieder mit ihr zu reden, sie im Arm zu halten und ihr zu sagen, wie Leid mir alles tat. Wie Leid sie mir tat. Und wie viel sie mir bedeutete.
Aber Marie ignorierte mich. Sie schien sich kein bisschen anzustrengen, mir auch nur den Hauch einer Chance zu geben. Wenn ich kam, stellte sie sich schlafend, und ich weinte an ihrer Seite.
Aus Langeweile lernte ich irgendwann ihr Zimmer auswendig, kannte jede Steckdose, jedes kitschige Bild an der Wand. Ich begann die Farbe Weiß zu hassen, ertrug sie trotzdem jeden Tag ein bisschen länger, wartete auf Marie.
Irgendwann sah sie mich an.
„Du ekelst dich vor mir“, sagte sie leise. „Schon okay. Ich ekle mich auch.“
Sie sprach wieder. Tränen der Erleichterung stiegen mir in die Augen, und ich begann zu hoffen, dass sie irgendwann wieder so werden würde, wie ich sie kannte. Ich hatte nur darauf gewartet. Die tröstenden Worte, die ich mir in endlosen Stunden mühsam zurechtgelegt hatte, holperten jedoch unbeholfen über meine Zunge, klangen unsicher und falsch in meinen Ohren. Und selbst das war egal. Ohne mich auch nur anzuhören, schloss Marie wieder die Augen.
Aber das Eis war gebrochen, zumindest redete sie wieder. Knappe Sätze. „Bring mir die Zeitung.“ „Du kannst gehen, wenn du willst.“ „Lass mich allein.“
Es besserte sich nichts, es wurde nur anders. Marie war abwesend, sie flüchtete sich vor mir in eine Welt, zu der ich keinen Zugang hatte. Meine Anwesenheit schien ihr nichts zu bedeuten. Jedes Mal wurde ich hilfloser, begann an mir zu zweifeln. Legte sie überhaupt Wert auf meine Gesellschaft? Legt sie überhaupt noch Wert auf irgendetwas? Die Fragen tun mir da weh, wo mich Maries Lachen früher glücklich gemacht hatte. Ich fürchte, ich hasse sie für das, was sie mir antut.
Mein Kaffee ist mittlerweile kalt geworden. Ich wende meinen Blick von den kahlen Büschen ab, die das Gebäude umgeben, und gebe meine Tasse zurück. Wortlos. Wenn Marie schweigen kann, kann ich das auch. Ohne mich umzudrehen, verlasse ich das Krankenhaus.
Mich fröstelt an der Bushaltestelle, ich bin viel zu früh. Als der erstbeste Bus kommt, steige ich ein, obwohl es nicht einmal meiner ist. Der Fahrer grunzt mich an, als ich ihm meine Monatskarte zeige, und ich setze mich auf den ersten Platz am Fenster. Ziellos schweift mein Blick durch die Landschaft, bleibt – natürlich - am Krankenhaus hängen. Ich suche Maries Fenster, aus dem sie nie schaut, versuche, einen Blick von ihr zu erhaschen und weiß aber genau, dass ich nur wieder eine Hoffnung aufbaue, die mich enttäuschen wird. Was sollte sich auch schon ändern. Ich erkenne ihr Fenster ja nicht einmal wieder, es sieht aus wie alle anderen.
Als der Bus losfährt, zwinge ich mich, die Augen zu schließen.