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Einsicht
Ein weiterer Tag neigte sich dem Ende zu. Frank fühlte sich ambivalent, wie es sehr häufig der Fall war. Er wollte sich auf die Schulter klopfen, für die erneute Bewältigung seiner Aufgaben, für den erneuten Versuch, seine Fähigkeiten in einer gewinnbringenden Art und Weise einzusetzen. Ambivalent war dabei auch der Gewinn, für ihn und seine Kunden manchmal unterschiedlich ausgeprägt. Er klopfte sich nicht auf die Schulter, sondern stand von seinem teuer aussehenden, aber von seinen Eltern übernommenen Sessel auf und ging in die Teeküche. Seine Schritte hallten auf dem Parkett, da er sich seine Anzugschuhe mit Absatz angezogen hatte. Quietschende Sohlen konnte er nicht ausblenden. Man wirkte immer irgendwie unseriös und trottelig. Daher waren seine Sneakers für ihn im Moment keine Option, auch wenn sie ihm besser gefielen. Sie entsprachen seinem Wesen mehr, seiner nach Außen getragenen Kumpelhaftigkeit, seinem Gefühl nicht zu den Mittelalten zu gehören, die so wirkten, als wäre ihre Persönlichkeit komplett mit ihrer Steuerberatertätigkeit verschmolzen. „Wäre ich ein guter Steuerberater geworden?“, fragte er sich leise, als er den Wasserkocher auf 80 Grad stellte und nach dem losen Grüntee Ausschau hielt, den er angeschafft hatte, aber der ständig an einem anderen Ort wieder aufzutauchen schien. „Ich glaube in Kanzleien verschwindet noch mehr Tee. Viel zu viele Leute“, dachte er.
Die dampfende Tasse bedeutete Ablenkung und Vertrautheit. Nur noch ein Termin war heute angesetzt. Er schaute aus dem Fenster auf den Prinzipalmarkt und das noch immer geschäftige Treiben. Es war sehr glatt gelaufen. Eine Entscheidung griff in die nächste, wenig wurde revidiert, er hatte sich nicht verirrt, war nicht verloren gegangen. Ein Ziel zu haben war trivial, es über die Zeit zu behalten war der Schlüssel. Der Schlüssel zum Ankommen und der Schlüssel zu den Räumen mit dem wundervollen Blick und dem durchaus ansprechenden Ambiente inklusive eines Bodens aus Echtholz. Auf dem Weg zurück in sein Zimmer grüßte ihn sein Kollege nett. Vielleicht war er es, der immer den Tee verlegte. Unwichtige Details. Pedanterie passte auch nicht zu Lockerheit und legerem Gang.
Er ließ sich wieder auf den Sessel fallen und wartete. Wenn der Kunde kam konnte er ihn mit einer Fernbedienung hereinlassen. Das war sehr bequem und außerdem auch irgendwie futuristisch. Es gefiel ihm. Sein Leben gefiel ihm. Es war alles nicht so dramatisch. Viele Menschen in seinem Alter, auch viele Bekannte und Freunde stellten sich in seinem Alter die Frage, was denn im Leben noch kommen sollte. Frank war diesbezüglich ohne Illusionen und hatte auch eine Antwort auf die Currywurst-mit-Pommes der Midlife-Crisis-Zweifel: er würde so weiter machen wie bisher und versuchen, sein Geschenk so gut es geht einzusetzen. Wenn es dabei für mehr Kunden in die richtige Richtung ginge als vor die Wand war das schonmal eine positive Veränderung des Status Quo, sein Fußabdruck im Universum.
Es klingelte und Frank drückte den Knopf auf der Fernbedienung. Wenig später saß Marie Stolze vor ihm. Sie war bereits seit ein paar Wochen sein Kunde und sie hatten sich bereits ganz gut kennengelernt. „Frau Stolze, wie war ihre Woche?“, fragte Frank klischeehaft. „Was soll ich sagen? Ich fühle mich weiterhin blockiert, eingesperrt in meinem eigenen Leben. Es ist, als würde ich das Gefängnis nicht verlassen wollen, was ich selbst gebaut habe. Es frustriert mich, weil ich Zeit verschwende mit unsinnigen, langweiligen Trivialitäten um einfach irgendwas zu tun.“ Frank hörte aufmerksam zu. Marie Stolze erzählte nichts Neues. Dies war das Anliegen, mit dem sie zu ihm in die Praxis gekommen war. „Worüber sollen wir heute sprechen? Ist dies ihr Fokus, oder möchten sie etwas anderes thematisieren?“ „Ich mache das zwar nicht zum ersten Mal, aber eigentlich sollten sie doch der Gesprächsleiter sein, oder etwa nicht?“ Frank hatte dies erwartet. Es wurde schon in den ersten Wochen ersichtlich, dass Marie gerne die Verantwortung für die Dinge auf Andere abwälzte. „Haben sie die Gegenstände mitgebracht, um die ich sie gebeten habe?“, fragte Frank. Marie kramte in ihrer Tasche und stellte nacheinander ein Bild ihrer Familie, ein Bild ihrer Eltern, Ihr Studienzeugnis, ein Bild ihres liebsten Platzes in ihrer Wohnung und ihre letzte Gehaltsabrechnung auf den Tisch. „Ich finde es schon sehr merkwürdig, was sie hier machen. Sie werden aber schon von der Kasse übernommen, nicht wahr? Nicht, dass ich hier für irgendwelche Esoteriker den persönlichen Ruin riskiere.“ „Die Zeche wird gezahlt und es geht sozusagen um eine Aufstellung. Sie haben mir jetzt Dinge mitgebracht, die für sie eine hohe Relevanz in ihrem Leben haben. Und eine Aufstellung dieser Dinge kann uns bei der Therapie sehr helfen.“ Frank nutzte diese Lüge bereits seit ein paar Jahren. Die Gegenstände halfen bei der Therapie, aber nicht so, wie er es gerade erklärt hatte. „Was wir jetzt tun ist die Gegenstände zu sortieren. Ordnen sie sie an so wie sie möchten. Es gibt keine Regeln, seien sie völlig frei in dem was sie jetzt tun.“ Während er die vermeintliche Aufgabe erklärte und Marie wiederwillig anfing, sah er sich die Dinge auf dem Boden genau an. Leider wurde ihm schnell klar, dass die heutige Sitzung nicht den Durchbruch bringen würde. Die Bilder und die Dokumente waren alle klar, es gab keine Verzerrungen, keine dunklen wolkenähnliche Gebilde auf ihnen. Dies bedeutete, dass er weitersuchen musste.
Während der etwas quälenden Sitzung, die ja offensichtlich ineffektiv war, schweiften Franks Gedanken ab. Zunächst hatte er natürlich nicht verstanden, warum er auf einmal Dinge sah, die wie von Wolken verhangen wirkten. Es war ein Schock und er vermutete zunächst eine organische Ursache, sodass er die nächsten Monate die große Rundfahrt der Augenärzte und Neurologen machte. Allerdings hörten die Symptome nicht auf. Kinder von Freunden waren wie durch einen dicken Nebel verborgen, bei einigen Menschen, die ihm beim Einkaufen entgegen kamen war das Gesicht wolkenverhangen. Es gab Dinner bei Freunden, wo er die neue Freundin nicht erkennen konnte, und sich daher nur auf die Stimme verlassen konnte. Er war der Verzweiflung nahe, es gab keine Erklärung in der Fachliteratur, aber er weigerte sich, sich einfach pauschal Geisteskrankheit zu bescheinigen. Frank ging einfach zielstrebig weiter seinen Weg, machte seine Arbeit mit sichtbaren oder teilweise unsichtbaren Patienten und versuchte, eher wenig unter Menschen zu sein, wenn er nicht arbeitete. In ausgedehnten Spaziergängen durch Wälder sah er nur Wolken am Himmel, dort wo sie auch hingehörten.
Eines Tages, in einer Sitzung, kam ihm die Erkenntnis. Vor ihm saß Bettina Krange. Sie war bereits therapieerfahren und hatte immer wieder Rückschläge hinnehmen müssen. Sie war eine einzige Wolke. Nur die obere Hälfte ihres Gesichts war zu sehen. Es hätte eine merkwürdige, surrealistische Schönheit, wenn Frank nicht das Grauen unterdrücken müsste, dass er nicht wusste warum sich eine Wolkenfront in seinem Zimmer aufbaute. „Warum war sie jetzt wieder fast gar nicht sichtbar? Was war besonders an ihr? Warum sind Andere kristallklar?“ Manchmal hat man Erleuchtungen, auch wenn sie noch so absurd erschienen. Aber vielleicht sollte man für absurde Dinge auch absurde Erklärungen finden? Frank konnte es auf einmal verstehen. Frau Krange war seit Jahren Bulimikerin. Sie hatte erhebliche Schwierigkeiten, dauerhaft gesund zu werden und die Krankheit unter Kontrolle zu behalten. Und warum haben Bulimiker diese Krankheit entwickelt? Weil sie ein Problem mit ihrem Körper haben. Frank war alles auf einmal offensichtlich. „Als gäbe es nicht genug Mistwetter in meinem Leben. Cool.“
Diese Erkenntnis veränderte Vieles. Natürlich spürte er weiterhin eine gewaltige Panik, da er sich sehr sicher war, dass das bei ihm vorkommende Phänomen jeglichen wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprach und er sich nicht dem Paranormalen empfänglich zeigen wollte. Außerdem erzeugte es einen gewissen Druck. Warum hatte GottBuddhaAllah, der große Manitu oder das fliegende Spaghettimonster gerade ihn ausgewählt? Oder war es eine Mutation? Wie weit war das nächste Atomkraftwerk entfernt? Aß er zu viel Mikroplastik? Er wähnte sich manchmal wie in einem billigen Roman von der Stange. Ein Therapeut, der auf einmal Stressfaktoren sehen kann? Viel origineller wäre es doch gewesen, wenn ein Physiker mit Aspergersyndrom auf einmal Menschen verstehen könnte. Wobei ein Physiker mit Aspergersyndrom auch viel zu sehr nach dem Abendprogramm von ProSieben klang. Vielleicht ist jeder Mensch ein wenig ein Abziehbild von irgendetwas, unoriginell und platt, jeder auf seine eigene Weise? Aber Klischees kann man ja nutzen. Es wäre nur fair, die ihm zugedachte Gabe nun für sich und seine Patienten zu nutzen. Die Ambivalenz, die wohl jeder Therapeut in seinem Leben spürt könnte dadurch ja nur geringer werden. Zumindest ging er in den ersten Monaten mit dieser Hoffnung in die Gespräche mit immer herausfordernderen Patienten. Dabei wurde ihm bereits zu Beginn klar, dass er sein stürmisches Gehirn (oder Auge?) für sich behalten musste, wenn er als Therapeut weiterhin ernst genommen werden wollte. Er wollte es unbedingt verhindern in die Esoterik-Ecke gedrängt zu werden um anschließend der Held der Impfgegner, der Echsenmenschen oder sonstiger weit in die alternative Faktenlage abgedrifteten Menschen zu werden. Und es könnte noch schlimmer kommen. Sollten Menschen auf ihn aufmerksam werden, die nach einer spirituellen Heimat suchten würde er wohl bald in Sandalen auf Marktplätzen predigen müssen. Vielleicht könnte er weiterhin Sneakers tragen, aber vor lauter Gebeten und Handauflegen hätte er vermutlich keine Zeit mehr für Tee oder Kinogänge. Unter dem Radar, Hinter dem Rücken, Fern der Blicke bleiben, dann wird das Leben auch kein Kreuz.
Die Ambivalenz blieb. Es stellte sich heraus, dass es keinen Unterschied machte. Auch mit der Erleuchtung, die er stets über einen Zeitraum von mehreren Wochen sorgfältig narrativ vorbereitete, kam es immer auf den Patienten persönlich an. War er oder sie in der Lage, die Problematik anzuerkennen oder wurden Augen verschlossen, Wutanfälle bekommen und Türen zugeknallt? Gab es eine wirkliche Bereitschaft, sich zu ändern? Dies war etwas was Menschen grundsätzlich schwerfiel, egal ob man wusste, was einem mehr Erfüllung verschaffen würde oder nicht. Die Mauer, die viele Patienten aus Angst, Sorgen, zu Canyons gewordenen ausgetretenen Wegen und Ausreden aufgebaut hatten wurden auch nicht weniger bedrohlich, wenn man ihnen eine Spitzhacke bereitstellte. Die Armee der Unglücklichen war oftmals nicht bereit das Werkzeug in die Hand zu nehmen. Und so blieben seine Erfolge im Rahmen, hatten keine großartige statistische Anomalie und er hatte weiterhin Langzeitpatienten, die nicht vorwärts kamen.
Marie war gerade wieder an einem Punkt angekommen, wo sie offensichtlich die Möglichkeit der Flucht in Betracht zog. „Man könnte ja eine Weile weg von hier gehen, am Besten eine Rundreise durch China, Südostasien, die USA oder Südamerika. Damit ich endlich mal rauskomme hier, mich neu entdecken kann und frei bin von Allem.“ „Das haben sie bereits probiert. Ich erinnere sie an die Freiwilligenarbeit in Afrika. Dort haben sie die Erfahrung gemacht, dass sie sich selbst mitnehmen. Sie nehmen sich überall hin mit. Da haben sie glücklicherweise keine Wahl, ansonsten wären sie schizophren und das würde ich ihnen nicht wünschen.“ Wie so oft in den letzten Sitzungen setzte nun eine gewisse Verzweiflung ein. Wie sollte man denn diesem Unglück anders entkommen als zu fliehen? Ihre Dämonen holten sie immer wieder ein. Das Problem war allerdings, das Fliehen Kondition erforderte und diese ist endlich. Man kann nicht unendlich laufen, man muss irgendwann rasten. Frank schaute auf die Uhr an der Wand. Es war bereits wieder eine Stunde um, die letzte Stunde dieses Tages. „Frau Stolze, wir müssen noch etwas Organisatorisches besprechen. Es gab ein kleines Problem in meinem Computersystem, ich nenne es mal ganz aufregend einen Hackerangriff. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass ich manchmal falsche Knöpfe drücke. Geben sie mir kurz ihre Versichertenkarte? Ich gehe dann nach gegenüber zum Einlesen.“ Er stand auf und verließ das Zimmer. Er versuchte, ruhig zu bleiben und die Panik zu unterdrücken, die er verspürte. Er hatte etwas gesehen. Konnte es sein? Langsam, einen Fuß vor den anderen bewegte sich Frank vorwärts. Sein Inneres war ein Wirbelsturm. Seine Schritte hallten auf dem Parkett. Die Praxis war ruhig. Feierabendstimmung. Einen Fuß vor den anderen. Er war am Ziel. Langsam drehte er sich zum Spiegel um.
Er betrat wieder sein Zimmer. Die Karte hatte er nicht eingescannt. Aber das war jetzt unwichtig. Er blickte zu Marie Stolze. „Ich glaube, wir sind hier am Ende. Sie brauchen meine Hilfe nicht mehr. Ich wünsche ihnen alles Gute!“