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End of the show

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23.04.2004
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End of the show

End of the show

Wo ist links? Wo rechts? Kann mir bitte mal jemand sagen, wo ich mich überhaupt befinde?
Draußen scheint die Sonne. Irgendwo ganz weit kann man die Vögel singen hören. Mit hellen Stimmen pfeifen sie ihre Lieder. Manchmal glaubt man, dass man sie lachen hören kann.
Völliger Schwachsinn!
Ich drehe mich um.
Die Wände in meinem Zimmer sind weiß. Kalkweiß und langweilig!
Doch heute ist es mir, als ob anstatt meiner Zimmerwand eine Leinwand vor mir stehen würde.
Wie im Kino ziehen die Bilder an mir vorbei:
Die feuerrote Ziffer „6“ unter der Matheklausur, der Typ mit den rabenschwarzen Haaren, der jetzt meine Freundin hat, meine Eltern wie sie über der Wiege meiner kleinen Schwester stehen und mich pausenlos bemängeln!
Voller Wut schmeiße ich meinen Schulrucksack, den ich noch auf dem Rücken habe gegen die weiße Wand. Ich wünschte die rote Tinte aus meinem Matheheft würde auf die Wand abfärben, doch sie bleibt weiß.
Ich fühle mich nackt. Nichts habe ich mehr. Meine guten Leistungen sind verschwunden, meine Freundin hat sich anderweitig orientier und meine Eltern haben ein neues Kind!
Aus dem Fernseher drängt das Geräusch von Pistolenschüssen. Wie wäre es wohl...? Nein, das ist zu drastisch!
Langsam gehe ich runter ins Wohnzimmer. Die Wiege meiner kleinen Schwester steht vor der Verandatür. Ein Sonnenstrahl fällt auf ihr Gesicht, als sie mich sieht lächelt sie.
Meine Mutter kommt herein und keift mich an. Warum ich das arme Kinde in die brütende Hitze stelle, warum ich nicht mehr Verantwortung zeigen kann! Sie nimmt die Kleine, die mittlerweile genauso keift wie sie, aus der Wiege.
Warum schreit sie? Weil sie meiner Mutter recht geben will, oder weil sie sich erschreckt hat?
Das Geschrei hört auf und ich gehe wieder in mein Zimmer.
Es ist aufgeräumt, nur der Inhalt meiner Schultasche liegt auf dem Boden. Wild liegen Zettel, Bücher und Stifte durcheinander.
Auf meinem Schreibtisch steht ein altes Fässchen mit roter Tinte. Es gehörte schon meinem Großvater, aber es ist immer noch fast halb voll.
Mit Vorsicht schraube ich den Deckel auf. Dann stelle ich mich wieder vor die weiße Wand.
Ich schreibe mit den Fingern:
„Wir sehen uns im Himmel oder in der Hölle!“
Den Rest der Tinte lasse ich einfach über die Wand laufen. Rote Spuren vermischen sich mit den Fasern des Teppichs.
Es gibt ganz in der Nähe einen Fluss, dessen Flussbett mit scharfkantigen Felsen umsäumt ist. Mit dem Fahrrad fahre ich zu der Brücke, die über diesen Fluss führt.
Ich drehe mich noch einmal im Kreis. Die Sonne geht fast schon unter.
Für mich ist diese Welt nicht wirklich. Sie ist verlogen. Ich starre noch einen kurzen Moment die Sonne an, die sie langsam rot färbt. Dann springe ich. Meine Sorgen fliegen an mir vorbei.
Meine Show ist damit beendet. Ich habe gekündigt.
Es kann nur besser werden, da wo ich ankomme.

 

Eine Selbstmordgeschichte? Nach Ansicht einiger hier gibt es davon schon zu viele. Und fordern dann etwas Besonderes, etwas Neues, etwas, das die verspürte Abgedroschenheit des Themas rechtfertigt.

Davon findet sich leider nichts in dem kurzen Text, seine Geschichte ist simpel. Die Welt meint es nicht gut mit dem Protagonisten. Seine Freundin wurde ihm ausgespannt, die Eltern konzentrieren ihre Liebe auf das neugeborene Geschwisterchen und dann bringt ein "ungenügend" in einer Matheklausur wirklich den Ausschlag: ja, hier habe ich nichts verloren. Ich habe mich bemüht, mein Zimmer ordentlich aufgeräumt, aber alles ist langweilig und bleich wie die Wand, drüben kann es nur besser sein.

Verabschieden wir uns vom Protagonisten, den wir nicht kennenlernen durften und dessen Selbstmitleid sich uns nicht vermittelte. Mag er es gut haben, drüben.

Details:

  • "Ich wünschte die rote Tinte aus meinem Matheheft würde auf die Wand abfärben" - 'wünschte, die'
  • "hat sich anderweitig orientier" - 'orientiert'

 

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