Mitglied
- Beitritt
- 30.04.2004
- Beiträge
- 58
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Engelsfeder
Klein aber schlank liegt sie da. Die weichen Glieder elegant von sich gestreckt, kein einziges Härchen ist verknickt. Strahlend weiß ist ihre Haut. Zart bewegt sie sich im Wind, doch selbst er vermag nicht, sie fortzutragen.
Sie lässt sich nicht fortwehen... Sie wartet...
Die warmen Sonnenstrahlen des Mittags erreichen mich nicht. Der Schatten des Baumes, unter dem ich sitze, beschützt mich vor ihnen.
Es ist der Kastanienbaum, auf dem wir immer saßen. Erinnert er sich? Erinnert er sich, wie wir beide auf seine starken Äste kletterten, um von dort oben das weite Land zu überblicken? Erinnert er sich, wie wir im Sonnenuntergang den melodischen Gesängen der Vögel lauschten? Erinnert er sich, wie wir Arm in Arm in seiner Krone saßen und versuchten, die Sternenbilder zu finden? Erinnert er sich, wie wir uns im hellen Mondlicht unter seinen Blättern das erste Mal küssten? Erinnert er sich an den Morgen, als du mich hier unter dem Kastanienbaum ein letztes Mal geküsst hast und dann auf deinem schwarzen Hengst in den Sonnenaufgang geritten bist? Erinnert er sich an meine Tränen die ich vergoss, mit der Gewissheit, dich nie wieder zu sehen? Erinnert er sich an die vielen Tage, die ich hier allein auf dich gewartet habe? Erinnert er sich an meine Gebete, es möge dir nichts geschehen? Erinnert er sich an die wiederkehrenden Soldaten, die hier vorbei kamen, unter denen du nicht warst?
Nun sieht er meine Tränen. Nun spürt er meine zitternden Hände, die sich um seine Wurzeln krallen. Nun hört er mein Schluchzen. Nun sieht er eine jämmerliche Gestalt, die auf seinen Wurzeln hockt, dein zerbrochenes Schwert im Schoss, das rote Halstuch, das du mir vor sechs Jahren zu unserer Hochzeit schenktest, um das Handgelenk gebunden. Nun spürt er meine Trauer, er sieht sie, er fühlt sie, er hört sie.
Es scheint, als lege er seine Äste schützend um mich, als wolle er mich trösten. Als wolle er mir zeigen: "Du bist nicht allein..."
Doch ich bin allein. Der schwarze Bruder hat dich aufgenommen. Er nahm dich zurück in seine Hallen, doch ich muss noch warten. Warten, bis ich dich wieder in die Arme schließen kann. Ein ganzes langes Leben. Bis wir wieder vereint sind.
Ich bete. Ich bete seit zwölf Tagen um Erlösung. Doch er hört mich nicht, er nimmt mich nicht zu sich. Er nimmt mich nicht in seine Hallen auf. Sie bleiben vor mir verborgen. Du bist im Dunkeln und ich werde warten müssen, bis ich zu dir kann. Bis ich dich endlich küssen kann. Ein ganzes Leben muss ich warten.
Doch was soll ich mit diesem Leben anfangen? Mir scheint es nutzlos, wertlos, lückenhaft ohne dich. Sag, warum musstest du fallen? Warum müssen sich die Königreiche bekriegen? Warum müssen unschuldige Männer für ihr Land sterben? Warum musstest du für einen König sterben? Warum konntest du nicht einfach bei mir bleiben? Bei mir, deiner Frau? Bei deinen Söhnen und Töchtern? Bei deiner Familie, die dich liebt?
Warum zog es dich in den Kampf? Du hattest doch alles! Du warst glücklich! Oh schwarzer Bruder, warum musste er gehen? Warum musste er uns verlassen? Warum musste er fallen? Warum er und nicht jemand anderes? Warum muss ich ohne ihn leben? Warum kann ich nicht auch sterben?
Auf dem Boden liegt eine Feder ... Eine weiße Feder ... Beharrlich hält sich sich auf dem sandigen Boden, lässt sich nicht fortwehen. Ob ich sie nehmen soll? Ob ich sie in die Hand nehmen soll? Wo ist das Wesen, dem sie gehört? Was tut es gerade? Was ist es für ein Wesen? Aus welchem Grund verlor es gerade hier diese Feder?
Ich hebe sie auf. Sie liegt ganz leicht in meiner Hand, ohne jegliches Gewicht. Sacht kitzeln ihre Härchen meine Handfläche. Ich schließe sanft die Hand um sie. Halte sie fest, ohne sie jedoch zu zerdrücken. Ohne ihr ein Härchen zu verknicken.
Mein Blick fällt auf unser Dorf. Ich sehe Kinder spielen, Frauen, die sich auf den Weg zu dem kleinen Fluss machen, um die Wäsche zu waschen. Frauen, von denen einige auch ihren Mann verloren haben, die jedoch nicht aufgeben. Frauen, die für ihre Kinder stark bleiben. Frauen, die ihr Leben weiterleben. Die eingesehen haben, dass ihre Zeit noch nicht da ist, um in die Hallen zu wandern. Frauen, die wissen, dass sie ihre Männer dort wiedertreffen werden. Irgendwann.
Ich öffne wieder meine Hand und betrachte die Feder. Sie scheint zu schimmern. Hell und weiß. Ich trete aus dem Schatten des Kastanienbaumes hervor. In seinen Ästen glänzt das Licht. Doch ist es nur das Sonnenlicht? Es blendet mich, doch es ist nicht unangenehm für meine Augen. Ob es Engel sind? Ob dies die Engelsseelen sind, von denen mein Großvater mir erzählte? Die in Zeiten der Verzweiflung auftauchen und neue Kraft geben?
Dann fällt mein Blick auf das rote Tuch an meinem Handgelenk. Schnell löse ich den Knoten und streife es ab. Ich knie mich auf den roten Sand, breite das Tuch aus und lege die Feder darauf.
Ein Windhauch kommt auf, doch die Feder hält sich beharrlich auf dem samtenen Rot. Vorsichtig falte ich die Seiten des Tuches über die Feder und stecke mir das Bündel in mein Hemd, an die Brust, an mein Herz.
Ich werde dich wiedertreffen. Ich werde dich wieder in die Arme schließen. Ich werde warten müssen, doch nun trage ich einen Teil von dir an meiner Brust, an meinem Herzen. Deine Feder werde ich bis zum Ende meines Lebens in dem roten, samtenen Tuch an meinem Herzen tragen. Das Tuch, das du mir zur Hochzeit geschenkt hast. Wir werden uns wieder begegnen, mein Engel...