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Erinnerung
Herr Rosemann saß zusammengesunken auf seiner Wohnzimmer-Couch, als läge ein anstrengender Tag hinter ihm, doch sein stumpfer Blick und die blutleeren Wangen ließen ahnen, wie es wirklich um ihn stand. Routiniert tastete ich nach seinem Puls. „Er ist tot. Vermutlich Herzstillstand,“ teilte ich den Anwesenden mit, bemüht, möglichst gefasst zu klingen. Nichts deutete auf Gewalteinwirkung oder Selbstmord hin. Ich betrachtete einen Moment lang sein welkes Gesicht. Ein alter Mann mit schütterem, weißem Haar, nichts Auffälliges. Dennoch kam er mir bekannt vor.
Während ich den Totenschein ausstellte, befragte ein Polizeibeamter die Nachbarin des Verstorbenen. Die Frau wirkte verstört und wischte sich immer wieder die Augen. Herr Rosemann stünde mit niemandem aus dem Haus in näherem Kontakt, berichtete sie stockend. Ein unauffälliger Mann, immer ruhig und freundlich, auch wenn er nie viel gesprochen habe. Es kümmerte sich wohl niemand um ihn, denn Besuch hätte sie nie bei ihm gesehen. „Er war immer allein unterwegs, blieb oft tagelang weg. Keiner wusste, wo er die ganze Zeit steckte.“ Sie zog ein Taschentuch hervor und schneuzte kräftig. Inzwischen waren die Fahrer des Leichenwagens eingetroffen und stellten die Bahre neben das Sofa auf das staubige Parkett.
In der Wohnung herrschte fürchterliche Unordnung. Am Boden türmten sich alte Zeitschriften. Aus den Schränken quollen Kleidungsstücke, Plastiktüten und bunte Prospekte. Zwischen verstreut liegenden Gegenständen, die wirkten, als hätte sie jemand im Vorübergehen verloren, bahnte ich mir einen Weg. Ich griff nach einem Bündel vergilbter Zeitungen und bemerkte, dass sie bereits mehrere Jahre alt waren. Als ich sie wieder weg legte, trat ich beinahe auf einen einzelnen Handschuh, auf dessen derben Wollstoff eine Haftnotiz klebte.
Währenddessen streifte der Kollege des Polizisten auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt wie eine hungrige Katze umher und wirkte angesichts des Chaos beinahe ein wenig amüsiert. „Er war wohl ein leidenschaftlicher Sammler“, grinste er gut gelaunt. „...der vermutlich auch gerne Bahn fuhr“, vervollständigte ich seinen Satz und deutete auf den kleinen gelben Zettel. EC München – Wien, 14. April 2001. An vielen Habseligkeiten des alten Mannes prangten solche Hinweise.
Neben der Schrankwand lehnten drei Regenschirme. Einer davon war sehr kurz und vermutlich für Kinder gedacht, denn er wirkte mit seiner fliederfarbenen Bespannung auffallend bunt neben den beiden anderen. Mit einer Sicherheitsnadel zwischen seinen Speichen befestigt, wies ein kleines Stück Papier auf folgendes hin: 15. Oktober 2003, ICE München – Hamburg.
Ich fasste nach dem Schirm, drehte ihn in meinen Händen und spannte ihn auf. In sich verschlungene Blüten zierten seine Oberfläche. An die Fahrt nach Hamburg konnte ich mich nur noch vage erinnern, doch der Anblick des Schirms versetzte mich gedanklich zurück. Ein freundlicher, wolkenloser Tag. Warmes Herbstlicht hatte den Zug durchströmt und die Gesichter der Fahrgäste weichgezeichnet. Aus dem Discman der Frau neben mir dröhnten polternde Bässe. Sie sah gelangweilt aus dem Fenster, wo Wälder, Wiesen, Straßen und Dörfer so schnell vorbeiflogen, dass keine Zeit blieb, sie eingehender zu betrachten. Ich schloss die Augen. Ankunft in sechs Stunden. Die Menschen, die den Gang entlang an mir vorbei liefen, hinterließen einen leichten Luftzug, den ich kühl auf meinem Nacken spürte. Manchmal enthielt er eine Spur Parfum oder das süßliche Aroma von Zigarrenrauch, doch die meisten Reisenden eilten geruchlos an mir vorbei. Zeitungsgeraschel und das gleichmäßige Rattern des Zuges wirkten einschläfernd.
Erst als mich ein wenig später das Klingeln eines Handys weckte, das in den Sitzreihen hinter mir aufdringlich schnarrte, sah ich wieder auf und bemerkte den alten Mann.
„Wohin wird die Leiche gebracht?“ Der Polizist sah mich erwartungsvoll an, bis ich endlich reagierte. „In die pathologische Abteilung des städtischen Krankenhauses“, antwortete ich betont souverän, um meine kurzzeitige Unaufmerksamkeit zu überspielen. „Ich werde eine Autopsie veranlassen, da niemand bei seinem Tod anwesend war. Reine Routine.“ Die Untersuchung des Toten würde nichts Überraschendes ergeben. Vermutlich war er einfach eingeschlafen.
Er hatte eine Plastiktüte bei sich getragen, vollgestopft mit Zeitungen. Direkt vor mir blieb er im Gang stehen und sah sich um, so dass ich zunächst vermutete, er hätte etwas vergessen. Passanten, die zu ihren Plätzen strebten, drängten sich ungehalten an ihm vorüber. Der Mann schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. Er wirkte, als stünde er nicht in einem vollbesetzten ICE, sondern inmitten stiller Natur, als betrachte er statt stoffbezogener Sitze eine Wiese voll seltener Gräser und Blumen, deren Anblick ihn in Staunen versetzte und ihn alles um sich herum vergessen ließ. Verstohlen beobachtete ich, wie er in sich versunken seine Blicke in jeden Winkel des Zuges schweifen ließ, wie er sich sogar einmal bückte, um sorgsam den Boden zu begutachten. Alles geschah mit einer besonnenen Ruhe, als fände der Greis in dieser Betätigung vollkommene Erfüllung. Er streckte seinen Arm aus, tastete an der Gepäckablage entlang und fand dort ein Haarband, das er mit unverhohlener Freude ergriff und in seine Tüte stopfte.
Der Schirm lag auf einem leeren Sitz mir schräg gegenüber, neben einer älteren Dame. Als er ihn entdeckte, wirkte der Greis plötzlich wie paralysiert und starrte gebannt auf das längliche, violette Ding, von dem er zu hoffen schien, dass sein Besitzer sich nicht mehr in diesem Zug aufhielt. Seine Hand deutete zuerst zaghaft auf den Schirm und dann fragend auf die Frau, doch die schüttelte den Kopf. Behutsam hob er das Fundstück auf und strich so liebevoll darüber wie über den Haarschopf eines kleinen Jungen. Kindliches Entzücken strahlte aus seinen Augen, als er den Schirm aufspannte und das bunte Blumenmuster zum Vorschein kam. Gedankenverloren inspizierte er seine neue Errungenschaft, bis ihn schließlich jemand ermahnte, doch zur Seite zu treten. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Ich lächelte. Beinahe erleichtert, als sei ihm endlich jemand begegnet, der sein Verhalten billigte, nickte er mir zu, verstaute den Schirm in seiner Tasche und betrat mit ernster Miene das nächste Abteil, als warteten dort wichtige Aufgaben auf ihn.
Geräuschvoll klappte der Deckel der Bahre zu. Die Männer trugen Herrn Rosemann hinaus, gefolgt von den beiden Polizisten. Wenn sich keine Angehörigen fänden, würde man die Zimmer bald komplett räumen. Ich stellte den Schirm wieder an seinen Platz zurück, sehr vorsichtig, als handele es sich um eine ganz besondere Kostbarkeit, sah mich ein letztes Mal um und verließ die Wohnung.