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Erinnerung

Cat

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06.03.2002
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Erinnerung

Herr Rosemann saß zusammengesunken auf seiner Wohnzimmer-Couch, als läge ein anstrengender Tag hinter ihm, doch sein stumpfer Blick und die blutleeren Wangen ließen ahnen, wie es wirklich um ihn stand. Routiniert tastete ich nach seinem Puls. „Er ist tot. Vermutlich Herzstillstand,“ teilte ich den Anwesenden mit, bemüht, möglichst gefasst zu klingen. Nichts deutete auf Gewalteinwirkung oder Selbstmord hin. Ich betrachtete einen Moment lang sein welkes Gesicht. Ein alter Mann mit schütterem, weißem Haar, nichts Auffälliges. Dennoch kam er mir bekannt vor.

Während ich den Totenschein ausstellte, befragte ein Polizeibeamter die Nachbarin des Verstorbenen. Die Frau wirkte verstört und wischte sich immer wieder die Augen. Herr Rosemann stünde mit niemandem aus dem Haus in näherem Kontakt, berichtete sie stockend. Ein unauffälliger Mann, immer ruhig und freundlich, auch wenn er nie viel gesprochen habe. Es kümmerte sich wohl niemand um ihn, denn Besuch hätte sie nie bei ihm gesehen. „Er war immer allein unterwegs, blieb oft tagelang weg. Keiner wusste, wo er die ganze Zeit steckte.“ Sie zog ein Taschentuch hervor und schneuzte kräftig. Inzwischen waren die Fahrer des Leichenwagens eingetroffen und stellten die Bahre neben das Sofa auf das staubige Parkett.

In der Wohnung herrschte fürchterliche Unordnung. Am Boden türmten sich alte Zeitschriften. Aus den Schränken quollen Kleidungsstücke, Plastiktüten und bunte Prospekte. Zwischen verstreut liegenden Gegenständen, die wirkten, als hätte sie jemand im Vorübergehen verloren, bahnte ich mir einen Weg. Ich griff nach einem Bündel vergilbter Zeitungen und bemerkte, dass sie bereits mehrere Jahre alt waren. Als ich sie wieder weg legte, trat ich beinahe auf einen einzelnen Handschuh, auf dessen derben Wollstoff eine Haftnotiz klebte.
Währenddessen streifte der Kollege des Polizisten auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt wie eine hungrige Katze umher und wirkte angesichts des Chaos beinahe ein wenig amüsiert. „Er war wohl ein leidenschaftlicher Sammler“, grinste er gut gelaunt. „...der vermutlich auch gerne Bahn fuhr“, vervollständigte ich seinen Satz und deutete auf den kleinen gelben Zettel. EC München – Wien, 14. April 2001. An vielen Habseligkeiten des alten Mannes prangten solche Hinweise.
Neben der Schrankwand lehnten drei Regenschirme. Einer davon war sehr kurz und vermutlich für Kinder gedacht, denn er wirkte mit seiner fliederfarbenen Bespannung auffallend bunt neben den beiden anderen. Mit einer Sicherheitsnadel zwischen seinen Speichen befestigt, wies ein kleines Stück Papier auf folgendes hin: 15. Oktober 2003, ICE München – Hamburg.

Ich fasste nach dem Schirm, drehte ihn in meinen Händen und spannte ihn auf. In sich verschlungene Blüten zierten seine Oberfläche. An die Fahrt nach Hamburg konnte ich mich nur noch vage erinnern, doch der Anblick des Schirms versetzte mich gedanklich zurück. Ein freundlicher, wolkenloser Tag. Warmes Herbstlicht hatte den Zug durchströmt und die Gesichter der Fahrgäste weichgezeichnet. Aus dem Discman der Frau neben mir dröhnten polternde Bässe. Sie sah gelangweilt aus dem Fenster, wo Wälder, Wiesen, Straßen und Dörfer so schnell vorbeiflogen, dass keine Zeit blieb, sie eingehender zu betrachten. Ich schloss die Augen. Ankunft in sechs Stunden. Die Menschen, die den Gang entlang an mir vorbei liefen, hinterließen einen leichten Luftzug, den ich kühl auf meinem Nacken spürte. Manchmal enthielt er eine Spur Parfum oder das süßliche Aroma von Zigarrenrauch, doch die meisten Reisenden eilten geruchlos an mir vorbei. Zeitungsgeraschel und das gleichmäßige Rattern des Zuges wirkten einschläfernd.
Erst als mich ein wenig später das Klingeln eines Handys weckte, das in den Sitzreihen hinter mir aufdringlich schnarrte, sah ich wieder auf und bemerkte den alten Mann.

„Wohin wird die Leiche gebracht?“ Der Polizist sah mich erwartungsvoll an, bis ich endlich reagierte. „In die pathologische Abteilung des städtischen Krankenhauses“, antwortete ich betont souverän, um meine kurzzeitige Unaufmerksamkeit zu überspielen. „Ich werde eine Autopsie veranlassen, da niemand bei seinem Tod anwesend war. Reine Routine.“ Die Untersuchung des Toten würde nichts Überraschendes ergeben. Vermutlich war er einfach eingeschlafen.

Er hatte eine Plastiktüte bei sich getragen, vollgestopft mit Zeitungen. Direkt vor mir blieb er im Gang stehen und sah sich um, so dass ich zunächst vermutete, er hätte etwas vergessen. Passanten, die zu ihren Plätzen strebten, drängten sich ungehalten an ihm vorüber. Der Mann schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. Er wirkte, als stünde er nicht in einem vollbesetzten ICE, sondern inmitten stiller Natur, als betrachte er statt stoffbezogener Sitze eine Wiese voll seltener Gräser und Blumen, deren Anblick ihn in Staunen versetzte und ihn alles um sich herum vergessen ließ. Verstohlen beobachtete ich, wie er in sich versunken seine Blicke in jeden Winkel des Zuges schweifen ließ, wie er sich sogar einmal bückte, um sorgsam den Boden zu begutachten. Alles geschah mit einer besonnenen Ruhe, als fände der Greis in dieser Betätigung vollkommene Erfüllung. Er streckte seinen Arm aus, tastete an der Gepäckablage entlang und fand dort ein Haarband, das er mit unverhohlener Freude ergriff und in seine Tüte stopfte.
Der Schirm lag auf einem leeren Sitz mir schräg gegenüber, neben einer älteren Dame. Als er ihn entdeckte, wirkte der Greis plötzlich wie paralysiert und starrte gebannt auf das längliche, violette Ding, von dem er zu hoffen schien, dass sein Besitzer sich nicht mehr in diesem Zug aufhielt. Seine Hand deutete zuerst zaghaft auf den Schirm und dann fragend auf die Frau, doch die schüttelte den Kopf. Behutsam hob er das Fundstück auf und strich so liebevoll darüber wie über den Haarschopf eines kleinen Jungen. Kindliches Entzücken strahlte aus seinen Augen, als er den Schirm aufspannte und das bunte Blumenmuster zum Vorschein kam. Gedankenverloren inspizierte er seine neue Errungenschaft, bis ihn schließlich jemand ermahnte, doch zur Seite zu treten. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Ich lächelte. Beinahe erleichtert, als sei ihm endlich jemand begegnet, der sein Verhalten billigte, nickte er mir zu, verstaute den Schirm in seiner Tasche und betrat mit ernster Miene das nächste Abteil, als warteten dort wichtige Aufgaben auf ihn.

Geräuschvoll klappte der Deckel der Bahre zu. Die Männer trugen Herrn Rosemann hinaus, gefolgt von den beiden Polizisten. Wenn sich keine Angehörigen fänden, würde man die Zimmer bald komplett räumen. Ich stellte den Schirm wieder an seinen Platz zurück, sehr vorsichtig, als handele es sich um eine ganz besondere Kostbarkeit, sah mich ein letztes Mal um und verließ die Wohnung.

 

Hallo Cat,

auch mir hat die Geschichte gefallen. Schön und anschaulich erzählt, ohne spektakuläre oder reißerische Wendungen, wirkt sie wesentlich eindrücklicher in all ihrer Schlichtheit und erhält einen süßlich-melancholischen Unterton.

Zwei Sachen haben mich jedoch gestört:


Mit einer sanften Handbewegung schloss ich Herrn Rosemanns Lider
Das dürfte nicht mehr möglich sein, sobald die Leichenstarre eingesetzt hat. Es sei denn, er wurde direkt nach seinem Tod gefunden und der Pathologe und die Polizei sofort informiert, was mir aber im Gesamtzusammenhang nicht schlüssig erscheint.

Dann da noch die etwas unglaublichen Zufälle: Herr Rosemann fährt natürlich viel Bahn, aber trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit, dass er dabei den Prot trifft (auch noch im selben Abteil) relativ gering. Noch geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Prot bei all dem Chaos in der Wohnung genau auf den Fundsachenstapel ebendieser Zugfahrt stößt (ohne danach zu suchen, wohlgemerkt). Und dann fällt natürlich direkt dieser eine Schirm in sein Blickfeld.

Aber stör dich nicht unbedingt daran, du darfst dich meinetwegen gerne mit Autoren wie z.B. Paul Auster auf eine Stufe stellen, deren unwahrscheinliche Zufälle auch immer elementare Bestandteile ihrer Geschichten sind.

lg Anea

 

Hallo Angua,

danke fürs Lesen und Kommentieren! Es freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat.
Den Leser mit dem „krimiartigen“ Anfang in die Irre zu führen war allerdings gar nicht meine Absicht ;)

Hallo Anea,

auch dir vielen Dank für deine Kritik! Das mit der Totenstarre ist einleuchtend. Da die Nachbarn des Protagonisten daran gewöhnt sind, dass Herr Rosemann oft lange nicht auftaucht, wird seinen Tod wohl tatsächlich lange niemand bemerkt haben.

Dass meine Geschichte auf großen Zufällen beruht, ist mir bewusst, und ich habe fast befürchtet, dass das jemand aufgreift. Aber scheinbar befinde ich, was Zufälle anbelangt, in bester Gesellschaft...

Viele Grüße,
Cat

 

Hallo Cat!

Es kommt selten vor, dass ich zuerst die Kommentare von anderen lese, ehe ich selbst meine Meinung äußere. In diesem Fall hab ich es jedoch getan, um evtl. unnötige Wiederholungen zu vermeiden.
Es wurde ja bereits auf Kleinigkeiten hingewiesen, auf die ich demnach nicht mehr eingehe.

Die Begegnung im Zug finde ich gar nicht störend. Ganz im Gegenteil. Schließlich ist der Titel der Geschichte „Erinnerung“. Und für mich ist es daher deutlich, dass es um eben diese zufällige Begegnung vor dem Tod des Mannes geht. Die Prot. erinnert sich daran, dass sie diesem Mann schon einmal begegnet ist.
Und genau das macht Deine Geschichte aus. Diese liebevolle Umschreibung eines Messis (schreibt man das so?), eines einsamen Menschen, von vielen belächelt und ausgelacht ........
Du hast das so wunderschön beschrieben, dass ich echt eine Gänsehaut beim lesen bekam. Die anderen amüsieren sich über diese Sammelleidenschaft, aber die Protagonistin betrachtet diesen Mann als Menschen, der sein eigenes Leben hat (egal ob von der Gesellschaft akzeptiert oder nicht).
Lass die Geschichte so stehen wie sie ist (außer die Sache mit der Leichenstarre).

Gruß
LoC

 

Hallo Lady of Camster,

vielen Dank für deine Kritik! Es freut mich sehr, dass du beim Lesen sogar Gänsehaut bekamst.
Den Titel habe ich gewählt, weil sich, wie du schon schriebst, die Prot. an die Begegnung mit dem Mann erinnert. Andererseits aber auch wegen der Sammelleidenschaft des Mannes – die Stücke in seiner Wohnung erinnern ihn an die Bahnfahrten.

Ich möchte es offen lassen, ob der Mann mit diesem Verhalten versucht hat, seine Einsamkeit zu kompensieren, oder ob er mit seinem ungewöhnlichen Leben möglicherweise auch ganz zufrieden war...

Viele Grüße
Cat

 

Hallo Cat,

Deine Geschichte gefällt mir und von meiner Seite gibt es nichts weiter zu korrigieren. Den Zufall finde ich nicht ungewöhnlich, denn das Leben hält ganz andere Überraschungen parat. Der auffällig gemusterte Schirm hat beim Protagonisten immerhin die Erinnerung an diesen alten Mann hervorgerufen und zeigt doch nur, dass er aufmerksam durch die Welt geht.

Gruß
thoughtful

 

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