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Es begann mit dem Pinguin
Wenn man eines Morgens aufwacht und neben seinem Bett einen Pinguin bemerkt, der einen auf der Suche nach Futter und Zuneigung aus leeren Augen dümmlich anglotzt, dann weiß man, daß es ein schlechter Tag werden wird.
Ich warf dem Tier einen irritierten Blick zu und hoffte, es damit zu beeindrucken oder sogar zum Verschwinden zu bewegen, erntete aber nur gähnende Unverständnis. Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts, wobei ich die Zeit nutzte, um mir über meine Lage klar zu werden. Gut, da stand also ein Pinguin in meinem Schlafzimmer. So etwas kann ja mal passieren, dachte ich bei mir um mich selbst zu beruhigen. Doch dann fiel mir wieder ein, daß Pinguine meistens irgendwo am Arsch der Welt auf saukalten Eisschollen leben. Ich suchte also in meinem Zimmer nach Eisschollen und mir wurde langsam klar, daß das mit dem Pinguin wohl doch nicht "mal passieren" kann.
Er versuchte mit den Augen zu rollen und begann dann hektisch mit seinen Flügeln zu schlagen. Vermutlich wollte er mir irgend etwas mitteilen, was ich aufgrund meiner Müdigkeit aber nicht sofort verstand. Wahrscheinlich, so schloß ich dann, hatte er einfach Hunger und erwartete, daß ich ihm auf der Stelle einen Fisch fange. Dazu sah ich mich natürlich außerstande, verschlafen wie ich war, aber sein Rumgehopse ging mir mittlerweile dermaßen auf den Keks, daß ich ihm, wäre ich ein Fisch gewesen, wohl selbst in seinen Schnabel gesprungen wäre.
Weitere Überlegungen meinerseits wurden auf unbarmherzige Art unterbrochen, als sich das Schicksal nämlich genau diesen Moment aussuchte, um die Türklingel zum Läuten zu bringen. Ich erhob mich aus dem Bett, schlüpfte in meine eigens zu diesem Zweck dort abgestellten Hausschuhe und drängte mich in einem ausreichenden Sicherheitsabstand um den Pinguin herum zu meiner Tür.
Die Tatsache, daß sie die atemberaubendsten Augen hatte, die ich jemals bei einer Frau gesehen hatte, machte mir beinahe ebenso zu schaffen, wie der Kopf, den meine Besucherin angeekelt an seinen Haaren in ihrer Hand hielt. Ich überlegte kurz, wie ich sie wohl begrüßen sollte. Alles zwischen einem erotisierenden "Hallo" bis hin zu "Hübscher Kopf, den Sie da haben" schien mir irgendwie unangebracht und so beließ ich es zunächst dabei, ihr wortlos in den Ausschnitt zu starren, der mich in Form und Farbgebung ein wenig an den frühen Telly Savalas erinnerte.
"Netten Pinguin haben Sie da", schnurrte sie katzengleich und brach damit nicht nur das unangenehme Schweigen zwischen uns, sondern zugleich auch mein Herz. Ich hatte keine Ahnung, wie das verdammte Vieh da reingekommen war, aber in diesem Moment war ich überzeugt, ein Schmetterling würde in meinem Magen umherschwirren.
"Ja... ja, ich finde ihn auch ganz toll...", log ich. "Ist das Ihr Kopf?"
"Nein, den habe ich eben an meiner Wohnungstür gefunden." Ich warf einen näheren Blick auf das Ding, das immer noch an ihrer Hand baumelte und aus dessen Hals ein paar Blutstropfen zu Boden rannen. Es war der Kopf eines Mannes, soviel war mir klar. Diese Erkenntnis erleichterte mich sehr, denn es war bislang so ziemlich das Einzige an diesem Morgen gewesen, bei dem ich mir absolut sicher war.
"Warum kommen Sie damit zu mir, Lady?", fragte ich und war sehr stolz auf diesen Satz, da er nicht nur Selbstsicherheit, sondern auch ein gewisses Maß an wohl kalkuliertem Desinteresse und Arroganz mitschwingen ließ ? gerade die Menge, die Frauen so attraktiv finden.
"Ich dachte mir, Sie könnten ihn vielleicht für mich zurückbringen. Es wäre auch eine Belohnung für Sie drin..." Mit diesen Worten schenkte sie mir ein eiskaltes Lächeln, welches jede einzelne Faser in meinem Körper zum Beben brachte. Wortlos nahm ich den Kopf entgegen und sah ihr noch lange nach, als sie sich mit ihrem aufreizenden Gang von meiner Tür entfernte.
Ich steckte den Kopf in eine undurchsichtige Plastiktüte, öffnete meinen Kühlschrank, damit der Pinguin sich darin selbst etwas zu Fressen suchen konnte, zog mich an und verließ die Wohnung.
...
Gerade, als ich die Haustür der Monotonie und Tristesse ausstrahlenden Mietskaserne hinter mir schloß und mir klar wurde, daß ich die Lady gar nicht gefragt hatte, wohin ich den Kopf denn überhaupt zurückbringen sollte und ich darüber hinaus auch keine Ahnung hatte, wer sie überhaupt war und worin meine Belohnung bestehen sollte, wurde ich mit Reis beworfen. Vor mir stand ein kahler Zwerg, der mir ein zahnloses Lächeln schenkte und mit einer Packung Reis winkte.
"Du wirst sicher einen guten Grund haben, so etwas zu tun, mein größentechnisch minderbemittelter Freund", sagte ich jovial.
"Daf ift für die Hochtfeit.", brachte er mühsam hervor und grinste dümmlich. Ich hatte im Moment keine große Lust, mich mit ihm zu streiten und darauf hinzuweisen, daß ich hier weit und breit weder eine Kirche noch eine Torte sehen konnte. Und so ließ ich den Zwerg statt dessen einfach stehen und ging zu meinem Stammkiosk, um mir meine tägliche Packung Rosinen zu kaufen. Nach den Dingern war ich einfach süchtig.
Wenn man jeden Morgen beim selben Kiosk einkauft und dabei vom Verkäufer mit unverhohlenem Haß empfangen wird, gewöhnt man sich irgendwann an diese Laune der Natur und begegnet der Sache mit einer gewissen Portion an Gleichgültigkeit. Ich ignorierte also sein aggressives Knurren, als ich den kleinen Laden betrat, nahm in aller Seelenruhe meine Rosinen aus der Auslage, warf dem sabbernden Kerl die vorher sauber abgezählten Münzen auf den Tresen und verließ sein Geschäft, wobei ich so tat, als hätte ich nicht bemerkt, daß er mir hinterhergespuckt hatte.
Ich wußte natürlich nicht, ob er die Rosinen nicht in einem Anfall purer Abscheu gegen mich vergiftet hatte, aber jeden Morgen beschloß ich aufs Neue, das Risiko einzugehen und ihm dahingehend einfach zu vertrauen.
Während ich mir geistesabwesend eine Rosine in den Mund steckte und ein paar Reiskörner aus den Falten meines Mantels pulte, kam mir in den Sinn, daß die einzige Person, die mir in der Sache mit dem Kopf helfen könnte, mein alter Freund Hank war. Der kannte einfach jeden auf dieser gottverdammten Welt, vermutlich sogar den Erfinder der Bratwurst. Also machte ich mich auf den Weg zum Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses, wo er seit ein paar Jahren seine Strafe wegen groben Unfugs in der Öffentlichkeit absaß. Was genau er damals getan hatte, wußte niemand mehr - vermutlich nichtmal er selbst - aber es hatte wohl irgend etwas mit einem Feuerzeug und einer Dose Klarlack zu tun gehabt.
"Halt! Sie dürfen hier nicht rein!", bellte mir der schlecht rasierte Mann am Eingangstor entgegen, so als wolle er an mir seine vom Alltagstrott und Einsamkeit bedingte schlechte Laune auslassen. "Zutritt nur für befugte Personen!"
Wortlos hielt ich dem Wachmann meinen Ausweis vor die fettige Nase und seine Augen begannen wissend zu funkeln, als er mich anstandslos passieren ließ. Das kam mir schon ein wenig seltsam vor, zumal ich den Ausweis vor ein paar Wochen aus einem alten Playboy ausgeschnitten hatte und das Paßfoto auch nicht mein Gesicht, sondern eine Ausgeburt der plastischen Schönheitschirurgie namens Victoria Silvstedt zeigte, die auch für einen blinden Gekko keinerlei Ähnlichkeit mit mir besitzen dürfte.
Im Inneren des Gefängnisses fragte ich ein paar der Wachleute nach dem Weg zu Hanks Zelle und registrierte mit ein wenig Argwohn, daß sich niemand für den Inhalt meiner Tüte zu interessieren schien.
Hanks Zelle war so dunkel, wie das Innere einer schwarzen Kuh, die während einer mondlosen und wolkenverhangenen Nacht im Schatten einer Schwarzbuche grast und blind ist. Der Wachmann schob mich in den Raum und schloß hinter mir eiligst die Tür, so als befürchtete er, Hanks böse Energie könnte einem Phantom gleich aus der Dunkelheit emporschnellen und ihm um den Hals fallen. Ich tastete mich an der Wand entlang, fand schließlich den Lichtschalter und sofort tauchte eine ängstlich flackernde Glühbirne den Raum in ein mattgelbes und übelkeitserregendes Licht.
"Kannst du mich sehen?", fragte Hank. Er trug ein Clownskostüm - weiß der Geier, woher er das hatte.
"Ich nehme nicht an, daß du mir eine andere Antwort als 'ja' abkaufen würdest."
"Also, kannst du mich nun sehen?"
"Ja, verdammt! Ich sehe dich. Du hast eine rote Nase im Gesicht."
"Warte einen Augenblick..." Er nahm eine löchrige Duschhaube von seiner Pritsche, spannte sie und zog sie auf seinen Kopf. "Und jetzt?"
"Jetzt hast du eine rote Nase im Gesicht und eine Duschhaube auf dem Kopf."
"Das ist meine Tarnkappe", sagte er. "Damit kann ich hier ganz einfach hinausspazieren. Warte, ich zeige es dir."
Hank sagte mir, ich solle nach einer Wache rufen, was ich in einem Anflug von Barmherzigkeit prompt tat. Der schwitzende Wachmann öffnete die Zellentür und war schwer erstaunt, als er nur mich vorfand. Vielleicht habe ich seinen Gesichtsausdruck, der mich an eine Mischung aus Karl Koyote und Steve Buscemi erinnerte, auch mißinterpretiert und er war von Hanks peinlicher Erscheinung einfach nur geblendet - aber auf jeden Fall ließ er uns beide anstandslos vorbei. Wahrscheinlich liegt es in der Natur des Menschen, ungewöhnliche Dinge solange zu ignorieren, bis diese entweder tot sind oder man sich dran gewöhnt hat.
Nachdem wir das Gefängnis verlassen hatten, gingen wir in unser altes Lieblingsrestaurant "zum keifenden Schotten". Seit jeher stand dort ein Schotte vor dem Eingang, der abwechselnd irgendwelche Volkslieder rückwärts auf seinem Dudelsack spielte und die Passanten anbrüllte, sie sollten gefälligst woanders langgehen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, ob der Schotte oder das Restaurant zuerst dagewesen war, aber die Symbiose funktionierte irgendwie.
Hank und ich setzten uns an unseren alten Stammtisch zwischen den Herrentoiletten und dem Feuerlöscher und bestellten. Ich eine kalte Ochsenschwanzsuppe und er Rehrücken auf Rotkohl. Die Wartezeit vertrieben wir uns, indem wir den anwesenden Damen möglichst unauffällig unter die Röcke guckten - sofern das für einen Clown mit einer Duschhaube auf dem Kopf überhaupt möglich war - und uns gegenseitig mit Rosinen bewarfen.
Der Rehrücken sah aus, wie etwas, das vor vielen Jahren mal in ein Moor gefallen war und meine Suppe erweckte den Eindruck, aus dem Erbrochenen eines toten Iren extrahiert worden zu sein. Dennoch ließen wir es uns schmecken und warfen danach gemeinsam einen scheuen Blick in meine Plastiktüte.
"Das ist ein Kopf", sagte Hank mit der Scharfsinnigkeit eines chinesischen Messerblocks.
"Ja, das ist ein Kopf. Ich will ihn zurückbringen."
"Zurück? Ich glaube nicht, daß der Besitzer ihn vermissen wird."
"Kennst du ihn?"
"Ja, natürlich", sagte Hank mit der Selbstverständlichkeit eines geschmolzenen Schneeballes in der Hölle. "Komm, wir gehen. Du solltest den Kopf vielleicht doch zurückbringen."
...
"Sie haben da ein Reiskorn im Ohr." Der Butler hob seine Nase noch ein wenig höher, wohl um seine Abscheu gegen mich und meine ungepflegten Ohren deutlich zu machen. Dann holte er in aller Seelenruhe eine Schrotflinte aus einem Schrank, vermutlich um Hank und mich höflich des Anwesens seines Hausherren zu verweisen.
"Moment", sagte ich "Kennen Sie den hier?" Ich griff in die Plastiktüte und holte den Kopf hervor.
"Das ist... unmöglich... woher...?", stammelte der befrackte Mann und rang vergeblich mit seiner Fassung.
"Den hat mir meine Nachbarin - zumindest hoffe ich von ganzem Herzen, daß sie meine Nachbarin ist - heute morgen vorbeigebracht." Der Butler wies uns mit einer beinahe unmerklichen Handbewegung an einzutreten.
Im Haus roch es, wie im Innern eines mit Blähungen gesegneten Blauwales, was vermutlich an der kopflosen Leiche lag, die in einer obskuren Verrenkung vor dem Kamin ihr Dasein fristete. Ich trat einen Schritt auf den Körper zu und legte den Kopf aus meiner Tüte an den Hals der Leiche an. Er paßte, wie angegossen.
"Ich bin Ihnen überaus zu Dank verpflichtet, daß Sie den Kopf zurückgebracht haben."
"Wer hat ihn denn abgetrennt?", fragte ich, obwohl sich tief in meinem Innern bereits ein paar Ahnungen formierten.
"Ich war es. Der Herr hatte geruht, mich zu entlassen und das habe ich nicht auf mir sitzen lassen können."
"Oh... werden Sie uns jetzt auch... ich meine..." für einen Moment zog mein ganzes bisheriges Leben an meinem Auge vorbei und die Bilder offenbarten mir in knallharter Ehrlichkeit die Erbärmlichkeit jeder einzelnen freudlosen Sekunde.
"Nein. Ich werde Sie nicht töten. Das wäre stillos."
Als Hank und ich wieder auf der Straße standen, stellte ich mir für einen Moment die Frage, wie der Kopf zu meiner Nachbarin - zumindest hoffte ich, daß sie das wäre - gelangt war. Doch dann fiel mir wieder der Pinguin ein, der vermutlich in genau diesem Moment die Eiswürfel aus dem Kühlschrank holte und sich daraus eine gemütliche Schlafstatt bastelte und ich beschloß, daß es einfach Dinge gab, die man lieber nicht hinterfragen sollte.
Ich nickte Hank verschwörerisch zu, als der die Badekappe von seinem Kopf nahm, sie umstülpte und sich vor meinen Augen in Luft auflöste. Danach ging ich nach Hause zu meinem Pinguin. Vielleicht sollte ich ihm einen Namen geben, Frauen stehen auf Kerle mit Haustieren.