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Es eilt nicht

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11.12.2001
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Es eilt nicht

… und er sieht sie noch immer an, abwartend, fast lauernd, wie ein unbekanntes Tier – dunkle Augen zwischen fleischigen Blättern, wild wucherndem Dschungelgestrüpp. Sie schließt die Augen für einen Herzschlag, um seiner schwarzen Inquisition zu entgehen. Der Bass hämmert durch die Nacht. Sie spürt Leute an sich vorbeifließen, eins mit der kühlen Luft, die auf ihrer Haut brennt, als stünde sie alleine in einem arktischen Sturm. Dabei ist es Sommer und die Sonne lodert schwarz am Himmel, hüllt alles in Finsternis. Wie hatte der Tag noch gleich begonnen?

Sie war aufgewacht und fühlte sich wie in eine junge Katze in einem Schuhkarton gefangen. Ihr Hals brannte, Schweißgeruch stand schal in der Luft und alles war grün. Wohin sie auch sah, alles in dem Hotelzimmer hatte diesen 70er Jahre Grünstich, der einen befällt, wenn man zu viele verschimmelte Vinylscheiben aus Papas Garage gehört hat. Dazu Sessel wie aus den USA der 60er. Was war die Zielgruppe dieser Farb- und Möbelkombination? Vermutlich ein Mann gehobenen Alters mit fleischigen Händen, an denen Gold prangt und der trotz Pools zuhause gerne ins Schwimmbad geht, um kleinen Mädchen auf den Hintern zu schauen. Der dunkle Fleck auf dem Teppich war noch immer da.

Sie rappelte sich auf, ging auf wackligen Beinen ins Bad. Von oben bis unten gefliest roch es nach Krankenhaus, sterilen Instrumenten und Jod. Vorsichtig tasteten sich ihre Füße vorwärts, rechneten damit, jeden Moment von einem versteckten Skalpell auf ganzer Länge geöffnet zu werden. Dann endlich hatte sie die Dusche erreicht, drehte das Wasser auf und senkte den Kopf. Als sie die Augen schloss, verschwanden der schmierige Boden, die grasgrünen Wände und der billige Vorhang, wurden von ihrer Phantasie weggespült, mit einem einzigen Zischen, gleich einer Flugzeugtoilette, die schließlich auch sie erfasste und in die luftigen Höhen der Utopie entließ, in denen man nur noch zu schweben wagt. Alles wich einem sandigen, wunderbar weichen Untergrund, in dem sie zu versinken drohte, einem rauschenden Wasserfall, der auf sie niederprasselte und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich fallen zu lassen und zu zerfließen. Sich in Wasser zu verwandeln und in diesem brodelnden See zu verschwinden, fortzustrudeln, in die Erde einzudringen, unaufhaltsam tiefer zu tauchen damit sie in den dunkelsten Schichten von langen Tentakeln aufgesaugt würde, um dann wie in einem Fahrstuhl nach oben gezogen und über tausende, duftende Blätter in das unendliche Blau des Himmels gespuckt zu werden. Sie ließ sich fallen.

Als sie die Augen wieder öffnete lag sie in der Dusche und das Wasser prasselte noch immer auf sie nieder. Ihr Mund schmeckte metallen. Sie spuckte das Blut aus, beobachtete, wie es im Abfluss durch abgefallene Haare hindurch in der Unendlichkeit des Abwassersystems verschwand, um sich mit Kot, Urin und anderem Unrat zu vermengen. Ihr wurde schlagartig klar, wie filigran der Boden unter ihr war, die papierdünne Schicht Fließen, Beton und Erde, die sie von der Gosse trennte. Gleich einer Membran zwischen dieser gepflegten und schön geordneten Katalogwelt und dem wirbelnd-braunen Unrat, auf dem sie errichtet war, den sie ständig nährte. Und in Ihren Kopf schlich sich die Vorstellung, wie schnell und lautlos der Boden unter ihr nachgeben, sie verschlingen und mit all den anderen Zivilisationsabfällen in die stinkende Gosse spülen könnte. Was zählte in so einer gewaltigen Ansammlung an Körpern, die sich in einem chaotischen, heimlichen Rhythmus unaufhörlich entleerten, träumten, liebten und wieder anfüllten, um sich erneut ihres Kots zu entledigen schon ein Mädchenleben?

Dieser Gedanke kroch von ihren aufgeweichten, weißen Zehen langsam ihre Beine hinauf, bohrte sich in ihr Fleisch und wühlte sich durch ihr Rückrat, gleich einem gefräßigen Wurm, der, kaum in ihrem Kopf angelangt, den ganzen Raum für sich beanspruchte und ihre Augen schließlich dunkel färbte.
Sie spannte jeden Muskel an.
Eine Kugel – ein harter Panzer.
In eine Kugel wollte sie sich verwandeln. Zusammengerollt. Fort getragen werden. Unbemerkt. In Sicherheit!

Sie sprang aus der Dusche und ließ das Echo ihrer Bewegungen in der gefliesten Einsamkeit des Badezimmers zurück, kroch zitternd unter die Bettdecke und drückte die Augenlieder aufeinander, bis es schmerzte. So blieb sie liegen, bis das Nachmittagsprogramm im Fernsehen begann.

Eine Kissenrolle unter dem Kopf, die Fernbedienung in der Hand und die andere schlaff über die Bettkante gelegt verfolgte sie die Bilder, die unaufhörlich über den Bildschirm flackerten. Bilder, gesteuert von einer Armee von Technikern, Kreativen und Praktikanten, die alle in einer Art modernem Kollektiv die sinnentleerte Vergnügung in die gnädig empfangende Solidargemeinschaft furzten. Kommunistisch gesprochen. Für sie aber waren es nur schöne Hochglanzbilder, die ihren Kopf wie Watte anfüllten und keinen Platz für andere, scharfkantige Gedanken ließen, die Ihr Gehirn verletzen, aufschlitzen könnten, so dass sie wieder zitternd unter die Bettdecke kriechen müsste.

Verhängnisvoller Weise berührte ihr Finger in einem ungünstigen Zeitpunkt die Fernbedienung und es flackerte eine Nachmittagstalkshow aus dem österreichischen Fernsehen über den Bildschirm – alte Frauen tratschen, streiten und produzieren sich vor einem überdimensionierten Aquarium. Sie starrte wie ein Fisch auf die Glotze und in dem Maße, wie sich eine Dame geifernd erregte, drückte sie der Schrecken gegen die Wand. Alter, Tod und Verfall schienen förmlich aus dem flimmernden Gerät zu sprühen. Wie feiner Staub, der sich unaufhaltsam im Zimmer ausbreitete um alles mit dem Wissen zu infizieren, das nichts für die Ewigkeit ist. Wie die Sporen eines tödlichen Pilzes, die gleichsam zur Eile antreiben und einem die Beine mit Blei ausgießen. Die Art von Staub, die man zwischen den Sofaritzen alter Leute, in den unerreichbaren Winkeln von Begräbnisunternehmen mitteldeutscher Kleinstädte oder zwischen den Gebetsbüchern von Krankenhauskapellen finden kann. Sie wollte schreien doch schon hatte sich eine blau geäderte Hand über ihre Lippen gelegt, die nur mehr durch ein geschwollenes Gelenk mit dem von Einstichen übersäten Arm verbunden war. Sie wollte rennen, doch ihre Beine waren bereits so schwer wie alle Zinnsoldaten dieser Welt. Ihr blieb nichts übrig, als sich dem Schrecken hinzugeben, sich ihm in die Arme zu werfen. Der hirnzermaternden Erkenntnis, dass egal wie schnell sie lebte, tanzte, liebte, träumte oder flüchtete, sie sich immer in die selbe Richtung bewegen würde.

Aus dem Badezimmer hörte sie den Abfluss gluckern und der schwarze Staub aus dem Fernseher schwebte wie ein Heuschreckenschwarm auf sie zu. Zwischen Bett und Fernseher schien sich der Teppich zu bewegen, zu schäumen, wie ein Fluss, der im nächsten Moment alles fortreißen würde. Ihre aufgerissenen Augen starrten auf ihren Körper, die Decke war fortgerissen und ihr Fleisch wurde immer weicher, schlaffer, ihr Bauch schwoll an, Krampfadern begannen ihre dünnen Beinchen zu überziehen und die Haare ihrer Scham ragten wie verbranntes Gras aschgrau aus der alten Haut.

Nun müssen wir nur für einen Augenblick die Perspektive wechseln. Wir stehen am Fußende eines Bettes. Es ist verwühlt, bedeckt mit Kleenex-Tüchern, Schminkutensilien und leeren Joghurtbechern. Darauf liegt ein junges, sehr schönes Mädchen. Nackt. Doch ihr Körper ist zu einer unmenschlichen Haltung verkrümmt, ihre Augen aufgerissen, dunkle Ringe darunter, der Mund im schlimmsten Schrecken verzerrt. Als säße Baal auf ihrem Bauch und spielte mit ihrem Körper. Vor dem Bett ein Fernseher, in welchem eine Dame gehobenen Alters und mit österreichischem Dialekt erklärt, wie sie zu Gott gefunden hatte und was ihr stichhaltigstes Argument gegen Intimpiercings ist. Dahinter ein Aquarium mit Goldfischen. Friedlich. Sommerabend. Schließlich packt das Mädchen zitternd eine Flasche neben ihrem Bett und schleudert sie mit einem befreienden Schrei in den Fernseher.
Zappenduster.

Schließlich war sie aus ihrem Zimmer geflüchtet. Dem grünen Zimmer, welches so mit Angst angefüllt war, dass sie jeden Augenblick meinte, darin ersticken zu müssen. War auf die Straße geflüchtet, gerannt, dann schnell gegangen, geschlendert, dann stehen geblieben. Es gab ohnehin nur ein Ziel, wozu also die Eile? Sie sah sich um. Ihr Magen knurrte.

Auch wenn es nicht so aussieht, auf dieser Straße müssen schon einmal Menschen gegangen sein. Der Abfalleimer, säuberlich mit einer grauen Mülltüte versehen und bis obenhin voll mit Flaschen, Papier und Essensresten, zeugt davon. Dann kommt auch ein Pärchen um die Ecke, sie halten sich an den Händen, wie um das Schweigen gemeinsam auszuhalten. In der Ferne staken Baukräne gleich Spinnenbeinen in den Himmel. Auf der anderen Straßenseite ein erleuchtetes Fenster, Vorhänge, warme Farben, eine Stehlampe. Daneben flimmert eine Reklame, ein Billardsalon, es geht eine Gruppe Araber vorbei, füllt die Betonschlucht mit etwas Leben. Sie hört auf, die Zähne in ihre Lippen zu graben. Kauft sich an einer Tankstelle ein Redbull, atmet den Benzingeruch ein und trinkt es auf einen Zug, den Blick des Studenten an der Kasse fest im Rücken.

An der Tür des Clubs schließlich hält sie ein junger Mann am Arm fest, sieht sie an, als ob sie sich kennen würden und küsst sie auf beide Wangen. Dann richtete er seine fragenden, dunklen Augen auf sie.
„Na wie geht’s Dir?“

Jetzt sind wir endlich wieder da, wo wir begonnen haben, nur wissen wir jetzt mehr als der junge Mann, ihm ist das Mädchen noch eine Antwort schuldig. Aber es eilt ja nicht. Sie bewegt also ihre Lippen, zögert, öffnet sie dann leicht und …

 

Hoffe das passt hier rein, bin mir da nie so sicher. Ist ja irgendwie eine Erzählung aus dem Alltag, aber irgendwie auch nicht. Helft mir !!! ;)

 

hi olafson,

also, meiner ansicht nach passen grundsätzlich alle geschichten hier rein, weil die geschichte ja selbst immer aus irgendeinem alltag ist.
wenn du es aber noch mehr sieben möchtest, dann gehört deine geschichte in seltsam oder experimente.
ich möchte gleich sagen, dass mir deine geschichte persönlich nicht gefallen hat.
"Wie hatte der Tag noch gleich begonnen?"
damit hast du dem leser ein versprechen gegeben, dass eine erklärende geschichte folgt.
"nur wissen wir jetzt mehr als der junge Mann," und das ist das ende?? ich denke, hier hast du ein versprehen gebrochen, denn der leser weiss nichts. er hat sich durch dein chaos geschoben, ohne dass er dafür belohnt wurde. ich denke einfach, dass eine geschichte einen inhalt haben muss, wahnvorstellungen einer person sind allein kein inhalt einer geschichte.
auf der anderen seite muss ich anerkennen, dass du einen schönen, fliessenden, sauberen, wenn auch ungewöhnlichen erzählstil hast. allein der schreibstil hält den leser in deiner geschichte gefangen. dennoch, so gut dieser auch ist, er kann nicht verhindern, dass der leser am ende enttäuscht wird.
fazit - meiner meinung nach - ungewöhnliche geschichte mit anspruch auf besonders ausgesuchte leserschaft. die geschichte selbst muss lieberhaber finden. allerdings kann man dir durchaus schreibtalent bescheinigen.

bis dann

barde

alles in dem Hotelzimmer hatte diesen 70er Jahre Grünstich
schreibe zahlen weitmöglichst aus

Als sie die Augen schloss, verschwanden der schmierige Boden, die grasgrünen Wände und der billige Vorhang, wurden von ihrer Phantasie weggespült, mit einem einzigen Zischen, gleich einer Flugzeugtoilette, die schließlich auch sie erfasste und in die luftigen Höhen der Utopie entließ, in denen man nur noch zu schweben wagt.

die flugzeugtoilette erfasst sie? du meinst die fantasie, oder?

die papierdünne Schicht Fließen, Beton und Erde, die sie von der Gosse trennte.
"Fließen" du meinst bestimmt "Fliesen"

scharfkantige Gedanken ließen, die Ihr Gehirn verletzen, aufschlitzen könnten, so dass sie wieder zitternd unter die Bettdecke kriechen müsste.

"Ihr" klein

Verhängnisvoller Weise berührte ihr Finger in einem ungünstigen Zeitpunkt die Fernbedienung

"Verhängnisvoller Weise" würde ich zusammenschreiben

Schließlich packt das Mädchen zitternd eine Flasche neben ihrem Bett und schleudert sie mit einem befreienden Schrei in den Fernseher.
Zappenduster.

Schließlich war sie aus ihrem Zimmer geflüchtet.


"Schließlich" ist doppelt

 

Hi Barde,

danke erstmal für die ausführliche Antwort. Ich möchte gleich auf Deine Hauptkritik eingehen. Ich hatte die Idee, eine Zirkelgeschichte zu schreiben, die man unendlich oft lesen kann, ohne die Lösung zu erhalten. Diese Wiederholung von Oberflächlichkeiten und inneren Vorgängen / Wahnvorstellungen ist ein bewusstes Stilmittel. Natürlich ist der Inhalt der Geschichte was äußere Vorgänge angeht sehr dürftig.
Mädchen wacht auf, schaut fern, zerstört Fernseher, geht zu Club, wird angesprochen, erinnert sich. Sicherlich hast Du recht, dass diese Geschichte nicht jedem gefällt. Aber ich persönlich beschreibe am liebsten innere Vorgänge und verstärke diese am besten noch durch die Umgebung. Da Du wohl lieber Geschichten mit handfester Handlung liest, kann ich Dich wohl nicht zufrieden stellen.

Aber gegen den Vorwurf, der Leser wird enttäuscht, möchte ich mich wehren. Das Mädchen erinnert sich daran, wie der Tag begonnen hat. Sie lebt in Ihrer Wahnvorstellung, das ist ihr Lebensinhalt, die äußeren Umstände sind nebensächlich. Und darauf gehe ich ja ausführlich ein ;). Wenn der Junge sie gefragt hat, wie es ihr geht, wird sie sicherlich höchstens "Passt schon, danke, und Dir?" geantwortet haben. Von daher bin ich überzeugt, dass der Leser nach der Lektüre meiner Geschichte mehr weiß, als der Junge, sogar nach einer Antwort.

Na ja, wie dem auch sei, ich danke Dir für die Korrektur des Kleinkrams! Hat mich natürlich gefreut, dass mein Schreibstil Dir gefällt, und Du die Geschichte trotz Desinteresses gelesen hast!

liebe grüße,
Olafson

 

Hi Olafson,
für eine Geschichte diesen Stils ist deine wesentlich zu lang. Die teils sehr schönen und bildreichen Formulierungen wissen eine Weile zu unterhalten, gestalten sich aber später lediglich als mühsame Leseaufgabe. Das Problem liegt in der fehlenden Aussage deines Textes. Man liest und liest und eigentlich passiert nichts. Es ist zwar ein Argument, dass es dir um die inneren Vorgänge geht, jedoch sollten auch diese auf einer etwas größeren Basis stehen, als die Wahnvorstellungen des Mädchens. Hättest du die Geschichte als Momentaufnahme konzipiert, wäre sie dir vermutlich geglückt und ich wäre hinsichtlich dieses Erfolges voll des Lobes. So reicht es leider nur zu einer durchwachsenen Kritik, die sich wahrscheinlich um einiges negativer anhört, als sie wirklich ist.

Grüße...
morti

 

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