Es gibt ja Dich
Wenn ich mir Deine Stimme vorstelle, sagt sie: "Die Augenfarbe merkt man sich nie." Und meint: "Man lacht und weint, man herzt und tröstet sich, kurzum: Man kennt sich. Aber die Augenfarbe, die kennt man nicht. Die Augenfarbe merkt man sich nie."
Natürlich würdest Du nie "kurzum" sagen.
Viel eher sagst Du Dinge wie "nee" und lächelst dabei verschmitzt und Deine Nase kräuselt sich etwas, als müsstest Du niesen.
Wenn ich Dich zum Beispiel frage, ob Du mit mir ausgehst, kann ich dieses Kräuseln beobachten. Heute vielleicht? “Nee”.
Dein Lächeln nehme ich dann als Entschädigung und sehe ein, dass Du niemandem gehören kannst. Heute nicht.
Aber wenigstens in meinen Gedanken musst Du nun einmal fürs “kurzum” herhalten und für die Augenfarbenfrage, denn gerade darauf weiß ich eine wundervolle Antwort. Ich werde sie verraten.
Zunächst: Deine Augen wollen so garnicht zu Deinem restlichen
Erscheinungsbild passen. Deine Haare zum Beispiel schmiegen sich in einem dunklen Herbstblond um Dein Gesicht. Dein wohlgebräunter Teint scheint Bronze und reflektiert toutes les couleurs-!
Dein Mund deutet ein unschuldiges Rot an, das nur vom obligatorisch strahlenden Weiss Deiner Zähne übertrumpft wird… und nicht zuletzt wären da Deine aufreizenden Wimpern, die vornehm dunkel ebenjene Augen umrahmen: Deine Augen. Sie stechen hervor, scheinen sich dieser Rolle aber garnicht bewusst zu sein: Natürlich nicht, sie sind zu sehr damit beschäftigt, selbst zu beobachten. Da bleibt ihnen wenig Zeit, sich an ihrer eigenen Schönheit zu erfreuen.
Aber es ist nicht nur die Exotik Deiner Augen, die sie so interessant für mich macht. Es ist auch das, was ich in ihnen zu erkennen glaube, was ich zu erreichen hoffe.
Weißt Du: Wir sollten nächtelang beisammen sitzen und Kindheitserinnerungen austauschen. Die gemeinsame Vergangenheit zu einem Berg auftürmen, auf dessen Spitze wir uns treffen und dann-.
Ganz oben. Man fällt ziemlich tief von dort.
Wusstest Du zum Beispiel, dass ich früher unglaubliche Angst vor dem Tod hatte? Ja, Du auch. Jede Nacht. Wir dachten, vielleicht hat man mit dem Alter weniger Angst.
Und ob es etwas gibt, für das es sich zu sterben lohnt?
Denk dran, wir sind jung: “Vierunddreissig! Ich hoffe, so alt werde ich nie”, sagen wir noch spöttisch, doch schon mit einer schwachen Spur von Melancholie.
Denn wer nicht vierunddreissig Jahre alt werden möchte, dem bleibt nicht viel Zeit. Nicht einmal in unserem Alter!
Noch sind wir jung. Aus unserer Perspektive ist Spaß eine Phase, wie die Pubertät. Man wächst heraus. Danach ist alles grau in grau.
Also: "Die Augenfarbe merkt man sich nie", sagst Du.
Und ich warte erst, bis du wegsiehst. Will nicht schummeln.
Dann antworte ich:
"Deine Augen sind blau. Tiefseeblau. Ich schwimme durch sie hindurch und tauche tief in sie hinab. Immer weiter zieht es mich in diesen Ozean. Die Sonne, scheint, kennt meinen Weg, denn sie versucht, mir zu folgen:
Doch sie wird von den verspielten, flirtenden Wellen an der Wasseroberfläche empfangen und tausendfach gebrochen.
Gebrochen, hörst Du? Nur wenige der goldenen Strahlen überleben das.
Sie begleiten mich. Oh, Du merkst es nicht, aber als es immer dunkler wird, weiß ich, dass ich bald den Mittelpunkt Deines mir kostbaren Augapfels, den Höhepunkt der Tiefe, erreicht haben werde. Das Ziel. Auch weiß ich, dass es dann kein Zurück mehr gibt. Ich drehe mich also noch einmal um, verabschiede die letzten Sonnenstrahlen und warte, bis ich schwach werde. Schwach genug, das Blau Deiner Augen endlich zu atmen! Es rücksichtslos in meine Lungen zu pumpen, in mir aufzunehmen! Erst wenn ich nichts mehr spüre, bleibt nur noch jene blaue Vollkommenheit zurück, die sich endlich auch in meiner Haut spiegelt. Zum ersten und letzten Mal."
So wenigstens stelle ich es mir vor. Vielleicht sagst Du ja eines Tages zu mir: "Die Augenfarbe merkt man sich nie."
Ob es etwas gibt, für das es sich zu sterben lohnt?
Denk dran, wir sind jung. Und leichtsinnig.