Was ist neu

Es wird nie wieder vorkommen

Mitglied
Beitritt
08.07.2003
Beiträge
38
Zuletzt bearbeitet:

Es wird nie wieder vorkommen

Es ist acht Uhr abends. Ich stehe im Hotelzimmer in der Main Street und betrachte mein Spiegelbild. Ich weiß, dass es diesmal wieder soweit ist.
Mein Herz klopft bis zum Hals, als ich den Aufzug nach unten nehme und das Hotel verlasse. Der Portier öffnet höflich lächelnd die Tür für mich. Ich gehe über den Cascade Place, und es ist, als würde ich durch Schlamm waten.
Ich gehe vorwärts, weiter, immer weiter, obwohl sich meine Füße dagegen sträuben, von meinem gesunden Menschenverstand gar nicht erst zu sprechen.
Noch ist Zeit zum Umkehren, hämmert es immer wieder in meinem Kopf.
Ich weiß, ich sollte zurück. Ich bin kurz davor, aufzugeben und dort zu landen, wo ich vor drei Jahren war.
Um es auf den Punkt zu bringen: Ja, ich war ein Junkie. Ein verflixter, beschissener Junkie. Ein Tag ohne die kleine weiße Pille war für mich ein versauter Tag. Ich war fertig. Es grenzte an ein Wunder, dass ich nie eine gestreckte Pille erwischt habe. Und doch, zwei Jahre Pillenschluckerei ließen auch mich nicht ohne Spuren zurück. Ihr hättet mich damals sehen sollen, in meinem billigen Appartment am Stadtrand, mit Gemeinschaftsduschen im zweiten Stock und knarrenden Türen, die nicht ordentlich schlossen.
Wärt ihr hinauf in den dritten Stock in die Wohnung mit der Nummer 11 gegangen, so hättet ihr mich auf meinem schäbigen Bett liegen sehen, Gesicht weiß, Haare zerzaust, Augen verquollen. Ein Abbild des Jammers.
Doch ich hab mich durchgeboxt, ja, bei Gott, das hab ich. Ganz allein, ohne jede Hilfe. Eines Tages habe ich die Tabletten weggeworfen und gesagt: Nie wieder! Und dann hab ich voller schöner Illusionen angefangen, mir mein beschissenes Leben wieder aufzubauen. Mich loszulösen von allem alten, wie es in ach so emanzipierten Ich-kann-die-Welt-verändern-Frauenmagazinen heißt. Ich habe meine ungepflegten, strähnigen Haare zu einem hübschen Bubikopf schneiden lassen. Sogar aus meinem Loch am Stadtrand bin ich rausgekommen. Ich habe jetzt wieder einen Job.
Ein drückendes Gewicht legt sich auf mich. Ich sehe so normal, so harmlos aus, eine durchschnittliche junge Frau unter all den Familien, jungen Paaren und Studenten. Ja, ich könnte hier einen netten Samstagabendspaziergang machen. Könnte, könnte, könnte.
Du kannst immer noch umkehren. Diese Litanei läuft in meinem Kopf auf und ab, seit ich das Hotel verlassen habe. Ich könnte jetzt einfach zurückgehen, mich an die Hotelbar setzen, mit dem hübschen Barmann flirten und mich später ganz gemütlich auf mein Zimmer legen, Essen vom Roomservice bestellen und einen guten Film noch dazu.
Doch ich kann es nicht. Ich dachte, ich hätte es besiegt. Doch es kommt immer wieder, wie eine in der Dunkelheit lauernde Kreatur, die nur auf den richtigen Moment wartet, um einem an den Hals zu springen.
Ich bin nervös. Meine Hände zittern, als ich in die dunkle Seitengasse
(geh zurück geh zurück geh zurück verdammt noch mal)
einbiege. Und dort steht auch schon einer. Unverkennbar. Ich würde diese Menschen aus dreißig Meter Entfernung erkennen. Ich komme näher, und mit jedem Schritt rast mein Herz schneller.
Dann stehe ich auch schon vor ihm, sein Gesicht ist von einer dunklen Sonnenbrille und einer Mütze bedeckt.
Ich schaue ihn an, er schaut mich an, ein Blick, den nur Eingeweihte kennen und verstehen.
"Fünfzehn Dollar", sagt er kaum hörbar. Ich öffne zitternd den Reißverschluss meiner Tasche und merke, dass meine rechte Hand einen Schweißfleck auf dem hellgrauen Leder hinterlassen hat.
Jetzt bin ich also wieder soweit, dachte ich. Oh, was bin ich doch für ein jämmerliches Wesen! Ich hasse mich selbst, und dennoch reicht meine Hand wie ferngesteuert das geforderte Geld.
Ich lasse den kleinen Plastikbeutel in meiner cK-Tasche verschwinden.
Am Cascade Place angelangt, beginne ich zu laufen. Der Schweiß läuft mir kalt den Rücken hinunter, mein Gesicht ist rot.
Panisch haste ich weiter, und bei jedem Menschen, der mir auch nur einen kurzen Blick zuwirft, droht mein Herz auszusetzen. Ich glaube jedesmal, dass sie es wissen, dass sie meine kleine Handtasche mit Laseraugen durchbohren.
Doch es gibt noch eine Lösung. Ich muss das Zeug nicht nehmen. Ich kann immer noch zurück. Das Geld habe ich bezahlt, aber was ist das schon?
Ja, das werde ich tun. Ich werde diesen verdammten Scheißdreck, der mir mein Leben schon einmal versaut hat, einfach die Klomuschel runterspülen.
Ich lasse mich nicht unterkriegen.

Es klopft an die Tür, und eine zarte weibliche Stimme meldet zaghaft:"Room Service!"
Ich fahre aus dem Bett hoch, mein Kopf dröhnt. Ich wanke zur Tür und öffne. Dort steht ein junges Mädchen in der Hoteluniform, Besen und Aufwischkübel in der einen, frisches Bettzeug in der anderen Hand, und lächelt fragend.
Ich mache nur eine Geste, die sie hoffentlich als Zustimmung auffassen wird, und gehe hinunter in die Lobby, damit sie mein Zimmer aufräumen kann.
Jedes meiner Glieder wiegt einen Zentner, ich schleppe mich zur Bar und bestelle einen starken Kaffee.
Ein bunter Ring taucht vor meinen Augen auf, und für einen Moment sind all die wohligen, familiären Gefühle und Eindrücke von gestern Nacht wieder da.
Doch dann merke ich, dass es nur der Wiederschein der grellen Lampe ist. Und dann kommt die Reue. Doch eins schwöre ich: Das war das letzte Mal. Nein, ich lasse mir mein Leben nicht ruinieren. Es wird nie wieder vorkommen.

 

Hallo Capella!

Deine Geschichte gefällt mir eigentlich sehr gut. Das Problem, das Du beschreibst, ist mir kein unbekanntes, und die Geschichte liest sich recht flüssig. :)

Besser gefallen würde es mir nur mit etwas einfacherem Hintergrund, genauergesagt finde ich es übertrieben, daß der Protagonist gleich im Hotel übernachtet. Also eine normalere Umgebung würde mich mehr ansprechen, aber das ist auf alle Fälle natürlich Geschmacksache. ;)

Ein bisschen was hab ich nebenbei noch rausgeklaubt:

"Ich öffne zitternd den Reisverschluss meiner Tasche"
- Reißverschluss

"Jetzt bin ich als wieder soweit"
- also

"Ich lasse den kleinen Plastikbeutel in meiner cK-Tasche verschwinden."
- in was für einer Tasche? :susp:

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hi! Danke fürs Fehleraufspüren, werde gleich mal verbessern.
cK ist die Abkürzung für Calvin Klein,sorry, ich liebe nun mal Abkürzungen ^^
Das mit dem Hotel war auch nicht so gemeint, dass sie extra in ein Hotel fährt wegen der Drogen, sondern dass sie einfach auf Urlaub ist und die Tatsache, dass sie dort keiner kennt und beobachten wird, ausnützt, wenn auch eigentlich nicht vorsätzlich...

LG
Capella

 

Hallo Capella,

auch mir hat deine Geschichte ganz gut gefallen. Ich kann mir schon vorstellen, dass gerade im Urlaub, wenn man zur Ruhe kommt, dieses ehemalige Bedürfnis nach dem Suchtmittel wieder auftaucht. Das Versprechen zum Ende der Geschichte nimmt man deiner Erzählerin nicht ab, auch wenn man hofft das es anders ist, wird sie wohl noch häufiger zu den Pillen greifen.
Die direkte Ansprache des Lesers im Text war nicht so mein Ding, aber das ist ja zum Glück Geschmackssache ;)

Liebe Grüße
Juschi

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom