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Thema des Monats Exit Mundi - Das Ende der Welt

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14.08.2012
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Exit Mundi - Das Ende der Welt

Ernst war der ärmste Knecht im Dorf. Er war so arm, dass sein ganzer Besitz in der rechten Hosentasche Platz fand, und selbst die räudigsten Hunde schlugen aus Scham über sein erbärmliches Dasein die Augen nieder, wenn sie ihn kommen sahen. Nicht einmal einen Schleifstein für sein Rasiermesser besaß er und so war es kein Wunder, dass ihn die Leute Ernst Stoppelbart riefen.
Eines Abends, als er im Gasthaus Zur Wildsau auf der Ofenbank saß und ein Glas Milch schlürfte, betrat der reiche Landmaschinenhändler Deutz die Gaststube. Der war bester Laune, weil er eben einen Mähdrescher verkauft und die Taschen voller Geld hatte.
„Komm, Wirt“, rief er, „gib dem armen Stoppelbart eine Flasche Branntwein. Heute will ich keine traurigen Gesichter sehen.“
Nun müsst ihr wissen, dass Ernst sein Leben lang noch keinen Schnaps getrunken hatte. Als er vorsichtig daran nippte, war ihm, als flösse Feuer durch seinen Schlund, und im selben Maße, wie sein Bauch warm und immer wärmer wurde, fand er Gefallen an dem Getränk. Schluck für Schluck trank er und in seinem Kopf begannen seltsame Gedanken zu kreisen, so viele Gedanken, wie er sie noch nie auf einmal gedacht hatte, und die Gedanken wurden mehr und immer mehr. Schnell wurde der Platz in seinem Kopf zu klein und der Kopf begann sich nach oben hin in die Länge zu ziehen, dass er bald aussah wie der spitzige Hut eines Zauberers. Und jeder Schluck schürte das Feuer in Stoppelbarts Bauch und schließlich war der Bauch zu klein für die Höllenglut, doch Ernst trank weiter und es schien ihm, als würde die Ofenbank heißer und heißer. Aber in Wahrheit kam die Hitze von den Flammen, die bereits aus seinem Hintern züngelten.
„Ich fühle mich so seltsam leicht“, dachte Stoppelbart noch, dann bemerkte er, dass ihn der Feuerstoß aus seinem Hintern tatsächlich von der Bank hob, erst langsam wie eine Mondrakete beim Start, dann aber rasant wie einen Feuerwerksböller.
In einem eleganten Bogen flog Ernst um den Kronleuchter aus Hirschgeweih, bald allerdings verlor er die Kontrolle über seinen Flug, durchbrach unter lautem Klirren das Fenster und verschwand im Nachthimmel, einen Flammenschweif hinter sich herziehend wie ein Komet.
„Heiliger Strohsack“, murmelte Deutz, „ich glaube, den sehen wir so bald nicht wieder.“

***​

Zur selben Zeit musterte Professor Maulwurf, der nicht nur Maulwurf hieß, sondern tatsächlich ein solcher war - und darüber hinaus auch all die Eigenschaften besaß, die man diesen Tieren gemeinhin nachsagt, nämlich Ordnungsliebe, Schlauheit, handwerkliches Geschick und, ja, leider auch Kurzsichtigkeit - Professor Maulwurf also musterte an diesem Freitagabend zufrieden seine Höhle. Er hatte den wöchentlichen Wohnungsputz erledigt. Der Holzboden war geschrubbt und der Teppich gesaugt, er hatte die Möbel abgestaubt und alle Schuhe auf Hochglanz poliert, die Hemden gebügelt, die Zimmerpalme umgetopft, die Badewanne mit Essigwasser gereinigt, seine Zahnbürsten hübsch nach Farben geordnet und das eine oder andere Bild an der Wand gerade gerückt.
Eben, als er es sich mit einer Tasse Kakao vor dem Fernseher gemütlich machen wollte, um die Nachrichten anzuschauen, ertönte über seinem Kopf ein furchtbares Getöse und Verputz rieselte von der Zimmerdecke. Vor Schreck standen ihm alle Haare zu Berge. Was zum Teufel … ein Erdbeben?
Professor Maulwurf klopfte sich den Staub von der Wollweste - die im Übrigen die Gottesanbeterin gestrickt hatte, was allerdings nichts zur Sache tut - und stieg die Treppe zur Haustür hinauf. Als er hinaustrat, bot sich ihm ein Bild des Jammers. Genau auf seinem Hügel lag Frau Eule und fluchte wie ein Bierkutscher.
„Sag mal, Ilse“, schimpfte Professor Maulwurf, „bist du schon wieder betrunken geflogen? Ich hab gedacht, mir fällt der Himmel auf den Kopf.“
„Was meinst du, wie's mir geht? Mir ist der Himmel tatsächlich auf den Kopf gefallen. Ob du's glaubst oder nicht, mich hat ein Meteorit erwischt.“
„Ein Meteorit?“
„Ja. Eigenartig war nur, dass er von unten nach oben geflogen ist.“
„Also ein Tiroetem.“
„Ein was?“
„Ein umgekehrter Meteorit sozusagen.“
„Sehr witzig, du Schlaumeier … schau mal, mein Flügel. Ich glaub, der ist hin.“
„Ja, der sieht wirklich böse aus. Warte kurz, Ilse.“
Professor Maulwurf stieg in seine Höhle hinab, holte den Werkzeugkasten und, hast du nicht gesehen, war der Flügel repariert.
„Du bist ein wahrer Meister, Maulwurf“, lobte ihn die Eule, „mein Flügel fühlt sich an wie neu. Ich würde mich so gerne erkenntlich zeigen. Darf ich dir einen Wunsch erfüllen?“
„Nun ja, ich hätte schon einen großen Wunsch,“ antwortete der Professor. „Mein ganzes Leben schon wünsche ich mir nichts sehnlicher, als besser sehen zu können.“
„Dann nimm das, mein Lieber, damit kannst du bis ans Ende aller Dinge sehen und noch ein Stückchen weiter“, sagte die Eule, nahm ihr rechtes Auge und drückte es dem Maulwurf … äh, also sie tat es an den Kopf vom Maulwurf, irgendwie halt, strich mit einer Flügelfeder darüber - vermutlich wurde dem Maulwurf kurz schwindlig dabei - aber im Großen und Ganzen funktionierte das ganz gut. So was geht nämlich in Märchen.
Nachdem sie noch gemeinsam ein Bier getrunken hatten, flog Ilse Eule nach Hause und der Maulwurf ging ins Bett, nicht ohne vorher zum zweiten Mal an diesem Tag seinen Teppich gesaugt zu haben.

Am nächsten Tag erwachte er ganz früh, noch lange bevor der Wecker läutete. Er konnte es kaum erwarten, sein neues Auge auszuprobieren. Selbst auf den üblichen Morgenkaffee verzichtete er, so ungeduldig war er, die Welt anzuschauen. Als die ersten Sonnenstrahlen durchs Schlüsselloch blinzelten, stürmte er die Treppe hoch, öffnete die Tür und … musste sich gleich einmal die Sonnenbrille auf die Nase setzen. So viel Licht, so viele Farben! Das Gras war grün und der Himmel war blau, zwischen den Grashalmen krabbelten schillernde Käfer und über den Grashalmen flatterten bunte Schmetterlinge. Maulwurf schaute und staunte. Er wusste nicht, was er zuerst anschauen sollte, er drehte sich im Kreis und schaute und schaute und schaute. Nie hätte er sich träumen lassen, wie wunderschön die Welt war. Mit jedem Ding, das er sah, wurde er aufgeregter, und hinter jedem Ding, das er sah, entdeckte er ein anderes Ding. Hahnenfuß und Kornblume, Margerite und Steinbrech, Weberknecht, Grille und Heuhupfer, Spitzwegerich und Huflattich, Haselmaus und Schnirkelschnecke. Und da hinten? Hinter der Wiese? Da schienen Bäume bis in den Himmel zu wachsen und zwischen den Bäumen spazierte Familie Hirsch und … aber wieso konnte er das überhaupt sehen? Er war doch viel zu klein, um über die Spitzen der Grashalme hinwegblicken zu können … verblüfft sah Maulwurf an sich hinab. Sein Hemd war aufgeplatzt und die Hose ging ihm gerade mal bis zu den Knien. Er war gewachsen! Und er wuchs weiter. Angestrengt dachte er nach.
„Ich nehme mit meinem neuen Auge die Welt in mich auf“, sagte er sich, „und mit jedem Ding, das ich sehe, werde ich größer, und je größer ich werde, umso größer wird mein Auge und je größer mein Auge ist, umso mehr sieht es und umso schneller wachse ich.“ Nicht umsonst war Maulwurf ein Professor, er war nämlich schlau und hatte ganz richtig erkannt, was da mit ihm geschah. Tatsächlich war er mittlerweile so groß wie ein Karnickel und sein Auge so groß wie eine reife Nuss. Eine Kuhherde? Angeschaut. Ein Heustadel? Angeschaut. Ein Traktor neben dem Heustadel? Angeschaut. Ein Schwarm Wildgänse am Himmel? Wolken am Himmel? Angeschaut.
Die Sonne stand noch längst nicht im Zenit, da war Maulwurf schon so groß wie ein ausgewachsener Walfisch und sein Auge so groß wie ein ausgewachsener Kürbis und es dauerte nicht lange, da konnte er über den Wald hinwegsehen und erblickte am Horizont eine große Stadt mit Häusern so hoch wie Felsen. Und weil er immer mehr sah, wuchs er immer schneller und bald konnte er über die Stadt schauen und sah dahinter ein Gebirge, mit Bergen so hoch wie fünfzehn Städte übereinander, und hinter dem ersten Gebirge ein anderes Gebirge, neben dem das erste winzig erschien.
Als es Abend wurde, war Maulwurf so groß wie ein großer Berg und sein Auge so groß wie ein kleiner Berg und als er in den Himmel schaute, da sah er Sterne und hinter den Sternen andere Sterne, so viele, dass selbst sein schlauer Verstand mit dem Zählen nicht zurande kam.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, viel zu neugierig war der Maulwurf, was er am Ende aller Dinge zu sehen bekäme.
So wuchs er die ganze Nacht weiter und am Morgen war er beinahe so groß wie der Mond und auch so schwer. Nun kann man natürlich nicht so einfach einen Mond an die Erde dranhängen und glauben, das sei der Erde egal. Nein, die Erde begann auf ihrer Bahn um die Sonne zu schwanken und zu wackeln. Erst fiel den Menschen nur das Geschirr aus den Schränken, doch je größer der Maulwurfsmond wurde, umso mehr torkelte der Planet und die Städte begannen einzustürzen und die Meere überzuschwappen und vom Nordpol rissen sich die Eisschollen los. Bald war das Leben so ungemütlich, dass die Überlebenden beschlossen, die Erde zu verlassen und den Maulwurf zu besiedeln, der ja nun schon von beinahe allen Orten der Welt gesehen werden konnte.
Die Siedler bauten Häuser, gruben Äcker in sein Fell und bestellten sie und ein Feld, das am Abend so groß war wie ein Wohnzimmer, hatte am nächsten Morgen die Ausmaße eines Fußballplatzes. So nahm der Besitz der Menschen zwar ständig zu, ohne dass sie sich anstrengen mussten, aber das Leben war alles andere als einfach.
Konnte man am Abend seinem Nachbarn noch über den Gartenzaun zuwinken, so war dessen Haus am nächsten Morgen bereits eine Tagesreise weit entfernt und selbst ein Feuerzeug, das einem zu Boden fiel, war auf immer verloren, weil man sich gar nicht so schnell bücken konnte um es aufzuheben, bevor es schon meterweit weg war. Obwohl nun alle Menschen Großgrundbesitzer waren, sehnten sie sich immer öfter nach der guten alten Erde.

***​

Nach ein paar Wochen war Ernst Stoppelbart bis ans Ende aller Dinge geflogen und noch ein Stückchen weiter, und als er schließlich genug gesehen zu haben meinte und obendrein sein Treibstoff zur Neige ging, beschloss er, zur Erde zurückzukehren, um den Menschen in seinem Dorf vom Ende aller Dinge zu erzählen.
Aber weil er noch immer vom Branntwein ein wenig betrunken war, vermasselte er den Landeanflug und raste ungebremst in die Maulwurfskugel, die er wegen ihrer lichtverschluckenden Schwärze einfach nicht gesehen hatte. Mit ohrenbetäubendem Getöse zerriss es die gigantische Kugel und ihre Trümmer verteilten sich als Meteore in der linken hinteren Ecke des Weltalls.

Noch heute kann man in besonders dunklen Nächten das Sternbild des Maulwurfs sehen, gleich links neben dem Hundsstern.

(Für Fliege)

 
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Hallo ernst offshore,

ich liebe Märchen und deins überzeugt mit fantasievollem Witz und gutem Stil (wie ich es von dir gewohnt bin).

Eben, als er es sich mit einer Tasse Kakao vor dem Fernseher gemütlich machen wollte, um die Nachrichten anzuschauen, ertönte über seinem Kopf ein furchtbares Getöse und Verputz rieselte von der Zimmerdecke. Vor Schreck standen ihm alle Haare zu Berge. Was zum Teufel … ein Erdbeben?
Professor Maulwurf klopfte sich den Staub von der Wollweste - die im Übrigen die Gottesanbeterin gestrickt hatte, was allerdings nichts zur Sache tut - und stieg die Treppe zur Haustür hinauf. Als er hinaustrat, bot sich ihm ein Bild des Jammers. Genau auf seinem Hügel lag Frau Eule und fluchte wie ein Bierkutscher. „Sag mal, Ilse“, schimpfte Professor Maulwurf, „bist du schon wieder betrunken geflogen? Ich hab gedacht, mir fällt der Himmel auf den Kopf.“

Ich weiß, es ist ein Märchen und fast nichts entspricht der Wirklichkeit. Aber ich möchte es beim Lesen "glauben" können. Deshalb stört mich der Putz (würde Erde rieseln lassen) und die Wolle der Weste. (Bekomme dabei das komische Bild einer Schafe scheerenden Spinne in den Kopf, würde gewebte Seidenfäden begrüßen.) Übrigens bestrickend, die strickende Gottesanbeterin. Die wie ein Bierkutscher fluchende Ilse Eule - Applaus, Applaus!

„Also ein Tiroetem.“
„Ein was?“
„Ein umgekehrter Meteorit sozusagen.“

Eigentlich ein alter Hut, aber sauwitzig!

Das Ende gefällt mir nicht, so eine irrwitzige Geschichte und dann stirbt der arme Maulwurf. Muss das sein? Märchen gehen doch immer gut aus! Kann er nicht im All, als Sternenbild sichtbar, weiterleben? Bitte!

LG Damaris

 

Damaris schrieb:
Das Ende gefällt mir nicht, so eine irrwitzige Geschichte und dann stirbt der arme Maulwurf. Muss das sein? Märchen gehen doch immer gut aus! Kann er nicht im All, als Sternenbild sichtbar, weiterleben? Bitte!

Ach Damaris!
Also nicht, dass ich ein vollkommen empathiebefreiter Hund wäre, dem das Seelenheil der armen Kinderchen, denen dieses Märchen vorgelesen wird, gänzlich egal ist, aber ehrlich, wie hätte ich die beiden so absurd auseinanderstrebenden Erzählstränge denn jemals wieder vereinen können, wenn nicht mit diesem apokalyptischen Ende?
Und da es ja eine Wettbewerbsgeschichte war, kann ich sie ja nachträglich nicht mehr gut ändern. :D

Vielen Dank für deine lieben Kommentar, Damaris.

offshore

 

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