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Fabian und der Magier
„Die Erwachsenen sind weggezaubert, das Dorf gehört uns Kindern!“ Mit diesem Schlachtruf rannten Fabian und seine Freunde jeden Tag aus der Schule. Zugegeben: Weggezaubert waren die Erwachsenen nicht, aber um eine angenehme Vorstellung handelte es sich allemal.
In Wirklichkeit fuhren alle Eltern unter der Woche in die Stadt, um zu arbeiten. Natürlich gab es noch Jugendliche und alte Leute. Aber die hockten alle schwarz gekleidet und missmutig in ihren Zimmern, während sie draußen das beste Wetter zum Spielen vorüberziehen ließen.
Ein einfallsloser Mensch hätte vielleicht gesagt, dass in diesem winzigen Nest sowieso niemand Spaß haben konnte. Besonders groß war das Dorf wirklich nicht. Fabian umrundete es auf seinem Fahrrad in weniger als einer Viertelstunde. Jeder, der Fabian bei einer solchen Rundfahrt begleitete, erkannte aber sofort, was das Dorf Besonderes an sich hatte. Fabian erzählte von den Geistern, die in den leer stehenden Scheunen spukten. Er kletterte unter die Steinbrücke, wo ein listiger Kobold hauste, und suchte nach einem Schatz, der irgendwo in einem Rübenacker vergraben lag.
Fabian war der kleinste von allen, führte die nachmittäglichen Abenteuer trotzdem immer an. Nichts und niemand konnte ihn davon abhalten. Sollten die anderen doch sagen, dass das Spiel aus sei. Sollte die Sonne doch untergehen. Fabian machte alleine weiter. Sein strohblonder Kopf verschwand in einem Weizenfeld, wo die Gespensterjagd oder die Goldsuche so lange andauerte, bis er zu müde wurde und nachhause fuhr.
Seit Fabian in die Schule gekommen war, wurde er deshalb aber gehänselt – besonders von den älteren Kindern.
„Der schaut ja nicht mal Fernsehen.“, flüsterten sie.
„Glaubst wohl auch noch an das Christkind?“, lachten sie.
„Da kommt der Ritter auf dem Drahtesel!“, kreischten sie.
Manche der Kinder machten sich ohne Unterlass über Fabians Fantasie lustig. Dennoch waren auch sie hellauf begeistert, als ein Magier ins Dorf kam. Mit einem Mal vergaßen die Witzbolde, dass es so etwas wie Zauberei doch gar nicht geben konnte.
Der Magier stellte sein großes Zelt bei der Festwiese auf und lud zu einer abendlichen Vorstellung seiner unglaublichen Künste. Alle Kinder kamen, natürlich auch Fabian. Fabian war nur ein wenig über das Plakat des Magiers verwundert, auf dem sich dieser „Meister der Illusionen“ nannte. Fabian wusste nämlich nicht, was das bedeutete. Trotzdem setzte er sich mit überlegenem Grinsen in die erste Reihe. Gespannt wartete er darauf, dass denen, die ihn gehänselt hatten, Hören und Sehen verging.
Fabian musste jedoch lange warten. Als nichts passierte, wurde er schon ein wenig unruhig. Doch plötzlich gab es einen mächtigen Knall! Und gleich darauf breitete sich dicker Rauch auf der Bühne aus! Fabian dachte schon, dass der listige Kobold von der Steinbrücke die Bühne gesprengt hätte. Aus dem Rauch schälte sich dann aber ein Mann, der sich als „Mario der Magier!“ vorstellte.
Zuerst war Fabian ein wenig misstrauisch. Für einen Magier sah der Mann sehr ungewöhnlich aus. Er hatte keinen dichten grauen Bart oder ein weises Runzelgesicht. Seine Haut war von der Sonne gebräunt und seine zurückgekämmten schwarzen Haare glänzten im Licht der Scheinwerfer. Mario der Magier besaß auch keine passende Kleidung. Er trug einen schwarzen Frack und einen Zylinder, aber keinen Umhang, auf dem Halbmonde und Sterne abgebildet waren. So sah er aus wie ein Zirkusdompteur. Nach seinem ersten Zauber zweifelten aber weder Fabian noch der Rest des Publikums an seiner magischen Begabung.
„Wer möchte eine Rose?“, fragte Mario der Magier und zog zwei Papierblätter hervor. Er zerknüllte das Papier, riss Streifen ab und nach einigen flinken Handbewegungen hatte er eine papierne Rose in der Hand. Mit einem strahlenden Gesicht hielt er sie hoch als wäre das schon ein großes Kunststück gewesen. Ein unzufriedenes Murren ging durch das Publikum. Als Mario der Magier das bemerkte, nahm er die Rose zwischen Zeigefinger und Daumen seiner linken Hand. Mit dem kleinen Finger seiner anderen Hand berührte er unten sachte den Papierstengel.
Auf einmal zischte es! Die falsche Blume ging in bunte Flammen auf und war plötzlich eine richtige rote Rose. Mit offen stehenden Mündern wollten die Kinder schon applaudieren, da warf Mario der Magier die Rose hoch in die Luft. Einige sprangen von ihren Sitzen auf, um sie zu fangen. Das war aber kaum möglich, denn die Blume verwandelte sich im Flug in eine weiße Taube. Über die Köpfe der Zuschauer glitt der Vogel durch den Zelteingang ins Freie. Es blieb kurz still, bis die Kinder kräftig zu klatschen begannen.
Auch während der restlichen Vorstellung waren sie schlicht begeistert. Eines der kleinen Gesichter lachte und staunte besonders – nämlich das von Fabian. Nachdem der letzte Vorhang gefallen war, blieb Fabian als einziger sitzen. Er wollte Mario dem Magier ein paar Fragen stellen. Fabian musste nicht lange warten, da kam der Zauberer zurück auf die Bühne. Er trug keinen Frack mehr und suchte mit einer Hand irgendetwas in seinem Hemdsärmel.
„Entschuldigung, ... Herr Magier?“ Erschrocken fuhr Mario der Magier zusammen, wie wenn ihn eine Hexe mit ihren knochigen Fingern auf der Schulter berührt hätte.
„Was machst du noch hier? Die Show ist vorbei!“
Ein wenig verunsichert fuhr Fabian fort: „Ich bin noch da, weil ich ihnen sagen möchte, wie toll das Ganze war. Außerdem hätte ich gerne gewusst, ob sie noch andere Zaubersprüche können.“ Mario der Magier blähte seine Brust auf als wäre ihm gerade ein Orden verliehen worden. „Selbstverständlich kenne ich noch weitere Zaubersprüche.“ Fabians Augen leuchteten auf. „Können sie einen Kobold sichtbar machen?“ Die glatte Stirn des Magiers zog sich in Falten. „Also ... nein. Tut mir leid, das gehört nicht zu meinem Repertoire.“ Fabian kannte das Wort Repertoire zwar nicht, aber er fragte trotzdem weiter: „Aber sie können doch Sterne vom Himmel holen?“ Verwundert antwortete Mario: „Nein, das ist auch keiner von meinen Tricks.“
Das Strahlen in Fabians Augen erstarb. Seine Mundwinkel zogen sich herab so als hingen Bleigewichte daran. Ungläubig fragte Fabian: „Tricks? Das ist nicht echt?“ Mario der Trickser lachte auf: „Ja, was denn sonst. Ich bin ja der Meister der Illusionen.“ Fabian wusste auch nicht genau, was das bedeutete. Aber ihm war klar, dass Mario nur eines sein konnte.
„Du bist ein Betrüger!“, rief Fabian und stürmte davon. Er war so wütend, dass er gar nicht erschrak, als die weiße Taube von vorhin nur wenige Zentimeter über seinem Kopf zurück ins Zelt flog. Kurz drehte er sich um und sah, wie der Vogel neben Mario dem Betrüger landete. Der Meister der Illusionen schaute nun nicht mehr so selbstsicher drein. Verdutzt blickte er Fabian hinterher. Aus dem Ärmel, in dem er vorher etwas gesucht hatte, ließ nun eine rote Rose ihren Kopf hängen.
Am nächsten Tag war das Zelt von Mario verschwunden. Mit ihm schien ein Teil von Fabian das Dorf verlassen zu haben. Ab jetzt gab es unter der Steinbrücke nur noch Schlamm, in den Scheunen nur Staub und in den Äckern waren höchstens Steine begraben.
Die Spottreden über Fabian hielten sich noch einige Zeit. Bald merkten sogar die unverbesserlichsten Spaßvögel, dass es sich nicht mehr lohnte, Witze auf seine Kosten zu machen. Es war kaum reizvoll, jemandem den Spitznamen Märchenonkel zu geben, der gegen diese Flunkergeschichten nur noch Groll hegte. Früher kannten sie einen Fabian, der Märchen so erzählte als hätte er sie selbst erlebt. Jetzt sagte er dazu lediglich: „Märchen sind dumm und falsch. So etwas gibt’s nicht!“
Draußen im Freien hatte ihn auch schon lange keiner mehr gesehen. Viele der Kinder vermissten ihn. Vor allem vermissten sie die Abenteuer, die sie mit ihm erleben durften. Ohne Fabian zog sich die Zeit dahin wie Sirup in einer Sanduhr. Es gab zwar keine Erwachsenen im Dorf, aber leider nutzten die Kinder das nicht mehr aus.
Die Wolken der Langeweile lösten sich erst auf, als nach ein paar Monaten Mario wieder im Dorf auftauchte. Fast alle Kinder besuchten erneut das große Zelt, da es nichts Aufregenderes zu tun gab. Nur Fabian blieb zuhause und starrte immer noch tief enttäuscht an seine Zimmerdecke.
Enttäuscht war auch das Publikum der Abend-Vorstellung. Der stolze Meister der Illusionen musste deshalb sogar seine Show viel früher als geplant beenden. Die Kinder ließen sich kaum begeistern und waren schließlich einer nach dem anderen gegangen. Mario stand irgendwann alleine in seinem Zelt. Verblüfft setzte er sich an den Bühnenrand. Er dachte darüber nach, was schief gelaufen sein konnte. Gedankenversunken stützte er seinen Kopf mit der Hand ab, da stach ihn plötzlich etwas in den Arm.
Mario hatte bei der Rose für seinen Tauben-Trick einen Dorn übersehen. Ärgerlich zog er die Blume aus seinem Ärmel, er hätte sie am liebsten mit einem bösen Blick in Flammen aufgehen lassen. Mario war nicht nur auf die Rose wütend, sondern auch auf sein Publikum. Dann dachte er plötzlich an Fabian. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er ganz allein am heutigen Misserfolg schuld war. Sein letzter Auftritt hatte offensichtlich doch schlimmere Folgen gehabt, als er angenommen hatte.
Mario musste den angerichteten Schaden wieder gut machen – nicht wegen seinem Ruf, vielleicht ein bisschen wegen seinem Gewissen, aber am meisten, weil er nicht wollte, dass seine Zuschauer mit betrübten Gesichtern durchs Leben gingen.
Mario der Reumütige verließ sein Zelt und fragte die heimtrottenden Kinder auf der Straße: „Wo lebt der Junge, der noch an die Zauberei glaubt?“ Sie wussten nicht, wen er meinte. Mario überlegte kurz und sagte: „Wo lebt der Junge, der früher an die Zauberei geglaubt hat?“ Den kannten sie. Sie führten Mario den Suchenden durch die Nacht, zeigten ihm das Haus von Fabian und auch welches sein Zimmer war.
Fabian schreckte hoch, als er es von draußen an seinem Fenster klopfen hörte. Langsam erhob er sich aus seinem Bett. Während er zum Fenster schlich, spukten mit einem Mal wieder alle Geister durch seinen Kopf, die er früher so gerne gejagt hatte. Er ging in die Hocke und kroch weiter. Vorsichtig spähte er über den Fenstersims und erblickte ... nichts weiter als Mario den falschen Magier.
Fabian wollte gar nicht das Fenster öffnen. Da machte Mario eine Handbewegung und es ging von selbst auf. Zuerst folgte Fabian überrascht dem aufschwingenden Fenster. Dann sprach er verächtlich: „Wieder nur ein Trick!“ Mario achtete gar nicht darauf: „Komm heraus, ich will dir etwas zeigen.“
Nachgiebig fragte Fabian: „Kann ich auch am Fenster stehen bleiben?“
„Bitte, wie du willst. Sieh einfach nur her. Heute werde ich dich mit einem Zauber erfreuen, den mich einer der größten Magier der Welt gelehrt hat.“
Unbeeindruckt stützte Fabian seinen Kopf am Fensterbrett ab. Inzwischen hatte sich Mario die Mülltonne vom Gartentor geholt. Er kletterte auf sie. Würdevoll sah er auf Fabian herab als stünde er im Rampenlicht einer prächtigen Bühne.
„Willst du Sterne haben?“
Er legte seine Hand über einen Teil des Nachthimmels. Fabian sah wie ein oder zwei der leuchtenden Punkte zwischen den gespreizten Fingern funkelten. Mario schloss die Finger. Es wirkte so als hielte er die Sterne fest. Er bewegte seine Hand und die Sterne folgten ihr. Feierlich nahm er seine Hand wieder herunter.
„Et voila!“
Fabian blickte zu dem Teil des Himmels, wo sich die Sterne am selben Platz wie zuvor befanden. Fabian schüttelte den Kopf, Marios breitem Grinsen zum Trotz. Dieser jedoch griff noch einmal in den Himmel. Nun schloss er die Hand um die Himmelslichter. Wie zuvor nahm er seine Hand herunter.
Und tatsächlich: Sie waren verschwunden.
Mario, der anscheinend doch ein Magier war, stieg wie ein König herab von der Mülltonne. Feierlich schritt er zum Fenster. Er nahm ein Säckchen aus schwarzem Samt aus seiner Tasche und wollte gerade den Inhalt aus seiner Hand hineinleeren.
„Sie wünschten ein paar Sterne. Hier bitte, mein Herr!“
Verwundert stieß Fabian hervor: „Halt! Ich möchte sie einmal sehen!“
Da öffnete Mario der Magier seine Hand, in der die Sterne auf seiner Haut glühten als stünden sie am Himmel. Er wartete, bis sich Fabian satt gesehen hatte. Dann ließ er sie in das schwarze Säckchen gleiten. Mit einer Kordel band er es zu und machte einen Knoten hinein.
Fabian nahm es an sich. Ungläubig betrachtete er das Säckchen, während er es in seiner Hand wog. Er blickte auf, um sich zu bedanken. Doch Mario der Magier war verschwunden. Glitzernder Sternenstaub lag auf der Wiese, wo er gestanden hatte. Fabian sah ihn nie wieder.
Seit dieser Nacht trug Fabian immer das samtene Säckchen bei sich. Je älter er wurde, desto mehr Menschen fragten ihn danach.
„Was hat es mit dem Säckchen auf sich?“
„Ein Zauberer hat mir Sterne vom Himmel geholt und sie hineingetan.“
Darauf forderten sie: „Das will ich sehen!“
„Tut mir Leid. Du musst dich schon mit meinem Wort begnügen.“
Doch sie blieben immer hartnäckig: „Warum machst du den Sack nicht auf, damit wir uns vergewissern können, ob Sterne drin sind?“
Fabian wollte das Säckchen aber nicht mehr öffnen, denn es hätte sich ja als ein weiterer gemeiner Trick herausstellen können. Deshalb dachte Fabian lange nach: „Was könnte ich ihnen sagen, damit sie nicht mehr das Innere des Säckchens sehen wollen?“ Zu einer Zeit, als Fabian selbst schon Kinder hatte, fand er eine Antwort.
Er sagte: „Stell dir mal vor, ich löse den Knoten und der Sack ist leer. Was kannst du dann schon jemand anderem erzählen? Doch nur so etwas wie: Hör zu, ich habe Fabian getroffen, der hat mir einen leeren Sack gezeigt.
Löse ich den Knoten aber nicht, kannst du sagen: Hör zu, ich habe Fabian getroffen. Er hat einen Sack bei sich. Ein Magier hat da Sterne vom Himmel hineingetan.“
Die einen antworteten: „Dann halten mich die Leute ja auch für einen Spinner, wie du einer bist!“ Sie gingen lachend weg und verbreiteten böse Geschichten von diesem Fabian, der doch so seltsam war. Die anderen jedoch sagten gar nichts. Sie schenkten Fabian ein Lächeln und schwiegen.