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Fallen lassen
Fallen lassen
Sie sitzt in ihrem Schlafzimmer, den Blick starr an die Wand und doch auf etwas viel ferneres gerichtet. Ein Entschluss reift in ihr, ein Entschluss der an etwas rührt, dass sie schon zulange unterdrückt hat.
Sie war grade neunzehn geworden, als ihre Sehnsüchte sich formten, ein krankes Gebilde, das sie keinem Menschen offenbaren konnte. Ihre Liebe war unnatürlich, es brauchte keinen anderen um dies zu erkennen. Also tarnte sie sich, spielte einen Menschen, den ihre Eltern ertragen konnten, wurde eine Marionette des normalen Lebens. Genau wie die anderen hatte sie Verabredungen mit Männern, stellte diese ihren Eltern vor, schlief mit ihnen. Es ekelte sie, all dieses Fleisch, das sich in sie gebohrt hatte an das gerührt hatte, was sie nur mit einer Person teilen wollte. Mit der Person, an die sie dachte, wenn die Leiber schwitzend neben ihr im Bett lagen oder am Kaffeetisch ihrer Eltern saßen. Ihre Liebe war von einer Intensität die sie verbrannte. Allein der Gedanke ernährte sie und ließ sie hungern nach etwas das sie sich selbst verboten hatte. Sie nutzte jede Gelegenheit um ihre Liebe zu füttern wie ein krankes Tier, das verkümmert, wenn es nicht gepflegt wird. Zerstörende Eifersucht befiel sie wenn sie bemerkte, dass er seine Liebe anderen zuwandte, Ekstasen der Befreiung wenn es diese wieder verließ.
Es vergingen Jahre auf diese Weise, das Geschwür in ihr blieb. Sie hatte inzwischen geheiratet, wie es dem normalen Lebenslauf einer Frau entsprach. Marius war ein Leib den sie ertragen konnte, sie hatte es sogar geschafft eine fast freundschaftliche Beziehung zu ihm aufzubauen.
Ein schmerzliches Lächeln weht über ihre Züge. Ihr ist klar, dass er nie an ihrer Treue gezweifelt hat. Sie hatte ihre Rolle perfekt gespielt. All die Jahre über. Jahre, in denen sie ihren Traum nur in Gedanken erleben konnte, quälend und schmerzhaft. Jahre in denen sie zu oft von der Vereinigung geträumt hatte und sich vor Lust zitternd deren Erfüllung gewünscht hatte.
Wo hatte es begonnen?
Sie wusste es selbst nicht mehr. Da war Einsamkeit gewesen... das sichere Wissen darum, dass sie nicht verstanden wurde, dass ihre Wünsche nicht von Interesse waren. Ihre Eltern, oberflächlich, nur an dem Glanz des Äußeren interessiert, die Freundinnen, mit denen man Spaß haben konnte, die aber das Dahinterliegende kalt ließ. Sie fühlte ein leises Schaben in ihrem Geist, Verlust, dem sie keinen Besitz zuordnen konnte. Und gleichzeitig formte sich ein Wunsch. Verstehen... sie wollte jemanden, der Zeit hatte, unendlich viel Zeit, um ihr Wesen zu begreifen, zu verstehen, und sie von ihrer Einsamkeit zu erlösen. In diesem Moment formte sich ihre Liebe. Sie wollte etwas, das über die menschliche Spanne hinausging, während der sie doch immer wieder einsam wäre.
Der Reifeprozess des Entschlusses ist abgeschlossen, sie will nicht mehr träumen, will erleben, was nicht mehr länger ihr selbstgeschmiedetes Verbot ist.
Zum ersten Mal zweifelt sie an etwas anderem. Nun hat sie Angst. Angst, er könne sie zurückweisen, sie könne ihm nicht genügen. Aber der Rückweg ist versperrt. Zuviele Gedanken sind freigelassen, zuviele Barrieren gebrochen.
Sie nimmt das Messer vom Nachttisch. Zum ersten und zu letzten Mal ein Tanz mit dem Geliebten, ohne Rücksicht auf das Denken anderer.
Die Klinge gleitet sanft in ihre Pulsadern, ein Schauer durchfährt ihren Körper. Das Messer zieht sich seine Bahn bis zur Beuge der Elle. Er umfängt sie, nimmt sie auf, küsst alle Zweifel davon. Das Blut läuft aus ihren Adern, sie öffnet sich für ihn und den Schmerz, der sie von weitem an ihre unnatürliche Liebe erinnert. Zum letzten Mal... einsam.