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Familiengeschäfte
Warum beschweren wir uns eigentlich immer nur über Montagmorgen?, dachte Bernhard. Die Abende im Büro sind viel schlimmer.
Fast jeder Schreibtisch um ihn herum war noch besetzt. Es war absurd, als gäbe es eine Art Wettbewerb darum, als Letzter nach Hause zu kommen.
Ich könnte einfach gehen, dachte er. Ich fahre einfach den Rechner runter und sage Winkler morgen früh, ich hätte seine E-Mail leider nicht mehr gesehen. Es ist schon nach sechs, verdammt noch mal. Der Gedanke flog davon, nur um wie ein Bumerang zurückzukommen und ihn mit voller Wucht am Hinterkopf zu treffen. Scheiße! Nach sechs?
Bernhard packte zusammen, als wäre er auf der Flucht, und rannte zum Fahrstuhl, als könnte das irgendetwas ändern. Nadia würde ihn trotzdem umbringen, und falls sie etwas von ihm übrig ließ, würde Winkler morgen früh da weitermachen, wo sie aufhörte.
Er liebte Nadia. Sie war zweifellos das Beste an seinem Leben. Aber sie arbeitete in einem Möbelhaus, wo sie ihre Tage zwischen fröhlich bunten Couchgarnituren und Dekoartikelsonderangeboten verbrachte, und sie sagte, das Schlimmste an ihrem Job seien die vielen Kolleginnen in ihrem Alter, die ständig mit Babyfotos herumwedelten. Wenn sie beide über Arbeit redeten, meinten sie nicht das Gleiche. Bei Nadia gab es keinen inoffiziellen Wettbewerb, keine unendlichen Überstunden. Sie beschimpfte ihn regelmäßig als Workaholic, was unfair war. Es war schließlich nicht so, dass er seinen Job besonders gemocht hätte. Aber es gab nun einmal diese unausgesprochenen Regeln, und wer sich denen entzog, würde es in der Firma nie zu etwas bringen. Jedenfalls hatte es in letzter Zeit zu oft Streit gegeben, und er wollte keine Fortsetzung.
Mit einer Hand in einem widerspenstigen Jackenärmel und der anderen auf der Suche nach seinem Telefon stand er da und fühlte sich wie ein Idiot, und als der Aufzug endlich kam, fiel ihm ein, dass es noch auf seinem Schreibtisch liegen musste. Und vor seinem Schreibtisch stand Winkler. Natürlich.
„Da sind Sie ja“, sagte er. „Ich hatte schon befürchtet, Sie hätten Feierabend gemacht.“
„Habe ich auch. Ich suche nur das hier.“ Bernhard zeigte sein Handy vor, als wäre es ein Talisman, der das Unvermeidliche verhindern könnte.
„Haben Sie meine E-Mail nicht gesehen?“
„Was für eine E-Mail?“, fragte Bernhard tapfer. Aber er wusste, er würde verlieren.
„Tut mir leid, Naumann. Die Präsentation, die Sie gemacht haben … wir haben neue Zahlen bekommen, das heißt, ich brauche auch neue Folien. Sie müssen noch mal ran.“
„Jetzt?“
„Ja, leider“, sagte Winkler ohne eine Spur von Bedauern.
„Kann ich das nicht morgen früh machen? Meine Freundin und ich sind heute Abend …“
„Ich brauche die Präsentation morgen um acht. Es dauert sicher nicht lange.“
Als er fertig war, hatten sich die Reihen an den Schreibtischen gelichtet, aber es war immer noch gut ein Drittel der Abteilung da. Im Neonlicht wirkten die meisten Gesichter bleich und eingefallen, als wären sie krank.
Sind wir ja auch, dachte Bernhard. Das hier ist doch nicht normal. Warum lassen wir das alle mit uns machen? Selbst Winkler sieht beschissen aus.
Bevor sie ihn zum Abteilungsleiter gemacht hatten, war Winkler einer dieser Solariumfreaks gewesen. Inzwischen war er völlig ausgebleicht. Es gab Gerüchte, dass er im Büro übernachtete. So werde ich nicht enden, schwor sich Bernhard nicht zum ersten Mal. Karriere machen ist schön und gut, aber ich werde nicht mein ganzes Leben dafür opfern.
Draußen war es schon dunkel. Es dauerte, bis die Augen sich daran gewöhnten, wenn man den ganzen Tag über nicht raus gekommen war. Seine Kollegen diskutierten oft, welche Sorte Arschloch man sein musste, um einen Gebäudekomplex zu bauen, der nirgendwo Sonne hineinließ. Bernhard glaubte, den Grund zu kennen. Im immergleichen Kunstlicht, und ohne Gelegenheit, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, war es leicht, die Zeit zu vergessen.
Deshalb sind wir alle so scheiß-produktiv, dachte er. Deshalb sind wir auf dem Weg zum Weltkonzern. Und deshalb wird Nadia mich fertig machen.
Sie ging nicht ans Telefon. Angerufen hatte sie auch nicht. Hatte sie etwa gleich aufgegeben? Hielt sie ihn schon für einen hoffnungslosen Fall?
Als er die Wohnungstür aufschloss, machte er sich auf das Schlimmste gefasst.
„Nadia? Tut mir leid. Winkler hat mich einfach nicht gehen lassen. Ich … ich rede mit einer leeren Wohnung, oder?“
Sie war nicht da. Und sie ging immer noch nicht ans Telefon.
Langsam machte er sich Sorgen. Sie war bestimmt stinksauer gewesen, vor allem, weil er es dieses Mal hoch und heilig versprochen hatte. Aber sie war nicht der Typ, ihn einfach so zu verlassen. Nicht ohne wenigstens einen Zettel hinzulegen.
Sollte er ihre Eltern anrufen? Ihre Freundinnen? Mittlerweile hätte es ihn beruhigt zu hören, dass sie sich auf irgendeiner Couch ausweinte und später zurückkommen würde, um ihre Koffer zu packen. Besser als ein Unfall … oder Schlimmeres.
In letzter Zeit waren immer wieder Menschen spurlos verschwunden, und obwohl er krampfhaft versuchte, nicht daran zu denken, gingen ihm die Bilder nicht aus dem Kopf. Diese Vermisstenmeldungen, die an den Straßenlaternen hingen und nach und nach verblassten. Die Aufrufe der Polizei zur Unterstützung von Ermittlungen, die sich zunehmend ratloser anhörten.
Bernhard gab nicht viel auf die Schlagzeilen der Klatschpresse, aber auch der Flurfunk ging inzwischen davon aus, dass es einen Serienkiller gab. Das letzte Opfer – zumindest hatten sie es in den Nachrichten so genannt – war diese blasse, stille Rothaarige aus der Buchhaltung gewesen. Das war erst ein paar Tage her, und obwohl er kaum etwas über sie wusste, hatte es ihm einen Stich versetzt. Jetzt konnte er nicht mehr glauben, dass es nur Leute traf, die er nicht kannte.
Er wählte noch einmal Nadias Nummer, hörte aber nur die Ansage, dass der gewünschte Teilnehmer nicht erreichbar sei, und das Rauschen in seinen Ohren.
Das Geräusch des Schlüssels an der Wohnungstür hielt er im ersten Moment für Einbildung.
„Schatz?“
Nadia keuchte, als hätte sie einen Marathon hinter sich, und ihre schwarzen Locken standen in alle Richtungen ab, wie elektrisch geladen.
„Es tut mir so leid!“, sagte sie, bevor er mehr sagen konnte. „Ich weiß, ich habe die ganze Woche genervt, dass du eher nach Hause kommen sollst. Und jetzt bin ich zu spät, und mein Akku ist leer, und ich bin ein ganz furchtbarer Mensch. Ich mach’ es wieder gut!“
Es fühlte sich an, als stünde er auf einer Bühne und hätte die falsche Rolle auswendig gelernt. „Ich hab mir schon Sorgen gemacht“, sagte er schließlich.
„Das ist alles Nicos Schuld, dieser Arsch! Er ruft mich an und sagt, hey, du hast noch dieses Buch von mir, kannst du mir das schnell vorbeibringen? Und ich dachte, das schaffe ich locker, bevor du nach Hause kommst. Und dann sitzt er da zusammen mit meinen Eltern, und sie halten mir dieselbe Rede wie immer, drei Stunden lang! Oh Nadia, so viel Arbeit! Wir brauchen dich … und weißt du was? Er hat mir das blöde Buch praktisch aufgedrängt beim letzten Mal! Ich glaube, er hat das geplant!“
Bernhard brauchte all seine Selbstbeherrschung, um nicht zu grinsen. Ihr war nichts passiert, und sie wusste nicht einmal, dass er nur ein paar Minuten vor ihr nach Hause gekommen war. Er hätte am liebsten gelacht über die Geschichte mit ihrem Bruder, aber das wäre keine gute Idee gewesen, wenn sie so aufgebracht war. Er zog sie schnell in eine Umarmung, damit sie seinen Gesichtsausdruck nicht missverstehen konnte.
„Immer noch die alte Geschichte? Du sollst ins Familiengeschäft einsteigen?“
„Es geht doch nie um was anderes. Am liebsten würde ich in eine andere Stadt ziehen, dann beschränkt sich das auf Weihnachten.“ Ihre Stimme war heiser von einer langen Diskussion, vielleicht auch von zurückgehaltenen Tränen.
„Gibt es wirklich so viel zu tun in einem Beerdigungsinstitut? Ich dachte, es gibt jetzt so viele junge Familien in der Stadt.“ Und die Verschwundenen finden sie nie, dachte er, bevor er den unangenehmen Gedanken endgültig abschütteln konnte.
„Ach, Blödsinn! Für Papa ist es … weißt du, er glaubt, unsere Familie hat eine Mission. Von ganz oben.“ Sie rollte mit den Augen. „Und Nico … ach, der ist einfach nur ein Arsch. Der denkt, ich bin es ihm schuldig. Sie werden es nie akzeptieren, dass ich nicht mitmache.“
„Ist doch nicht so schlimm. Wir holen unseren Abend nach.“
„Du bist ein echter Schatz. Ich fühle mich schrecklich. Ich wollte das Essen fertig haben, bevor du kommst.“
Bernhard zog sein Handy aus der Hosentasche „Pizzaservice?“, fragte er.
„Ich liebe dich“, sagte Nadia.
* * *
Am Montagmorgen erinnerte er sich wieder, was daran so schlimm war. Das Wochenende hatte nicht ausgereicht, um sich zu erholen. Der Anblick all der bleichen, schlurfenden Gestalten in den Fluren, denen es genauso ging, machte es auch nicht besser.
Sein Postfach begrüßte ihn mit Dutzenden ungelesener Nachrichten, und Winkler wartete auch schon auf ihn. Er hatte tiefe Augenringe, schlechte Laune, und eine merkwürdige Art, an Bernhard vorbei zu sehen. Als ob er sich in Wirklichkeit mit seinem Schatten unterhielte.
Nadias SMS am Nachmittag munterte ihn für einen Moment auf.
Nicht vergessen, heute Abend! Wer zu spät kommt, kriegt keinen Nachtisch. ;p
Aber das zwinkernde Smiley konnte nicht darüber hinweg täuschen, wie ernst es ihr war. Er hatte sie zu oft warten lassen.
Bernhard hatte damit gerechnet, der erste zu sein, der das Büro verlassen würde, und sich innerlich schon gegen die Blicke der anderen gewappnet, aber es war doch später geworden als geplant. Tatsächlich waren alle Kollegen der Abteilung schon weg, als er seine Sachen packte. Vielleicht waren sie vor Winkler geflüchtet. Der war heute wirklich mies drauf gewesen.
„Warten Sie einen Moment“, sagte jemand hinter ihm.
Verdammt, dachte Bernhard, wenn man vom Teufel spricht. Wo war er bloß hergekommen? Die Fähigkeit des Abteilungsleiters, geräuschlos hinter einem aufzutauchen, war einfach unheimlich.
„Sind Sie der letzte heute?“, fragte Winkler.
„Sieht so aus“, sagte Bernhard.
„Trifft sich gut. Ich wollte sowieso mit Ihnen reden.“
* * *
Das nächste, woran er sich erinnern konnte, war Winklers Gesicht, das ihm sehr groß und sehr weiß vorkam und von oben auf ihn herabsah.
„Schwächeanfall“, sagte das Gesicht. „Sehen Sie, das meine ich. Ich weiß Ihren Einsatz wirklich zu schätzen, aber Sie dürfen es nicht übertreiben. Sie sind noch jung, aber das macht Sie nicht unverwundbar.“
Bernhard wollte irgendwas erwidern, aber das ging nicht, weil in seinem Kopf ein einziges Chaos herrschte. Ihm war schwindelig, ja, aber er glaubte nicht, dass er einen Schwächeanfall gehabt hatte. Falls er einen hätte, wäre Winkler ganz bestimmt der Letzte gewesen, der ihm geraten hätte, kürzer zu treten. Das Problem war: Er hatte keine Ahnung, was wirklich passiert war. Vor dem Gesicht, das aus dem Nichts aufgetaucht war wie in einem dieser blöden Screamervideos, klaffte in seiner Erinnerung ein schwarzes Loch. Und er hatte ein Gefühl, als ob in der Schwärze etwas lauerte, an das er sich nicht erinnern durfte, weil sonst etwas Schreckliches passieren würde. Aber das ergab keinen Sinn.
Er setzte sich auf und versuchte, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Um das schwarze Loch würde er sich später Gedanken machen.
„Tut mir leid, aber ich muss los“, sagte Winkler. „Rufen Sie sich ein Taxi. Sie sehen wirklich schlecht aus.“
Und weg war er. Seltsamerweise fühlte sich Bernhard erleichtert. Vielleicht war er gerade wirklich vom Stuhl gefallen und hatte sich den Kopf angestoßen. Vielleicht brauchte er Hilfe. Aber die wollte er nicht von Winkler. Irgendwas stimmt nicht mit dem Typen, dachte er. Irgendwas stimmt mit der ganzen Firma nicht. Was zur Hölle ist gerade passiert?
Sein Telefon piepste und holte ihn in die Gegenwart. Das erste was er sah, war die Uhrzeit. Es war angeblich nach acht, und wenn das stimmen sollte, fehlten in seiner Erinnerung die letzten beiden Stunden.
Das war beunruhigend, aber die Nachricht auf dem Display machte ihn noch viel unruhiger.
Ich will mit dir reden. Egal wann du nach Hause kommst.
Kein Smiley diesmal.
Er rief sich ein Taxi.
Es war schlimmer als er gedacht hatte. Er hatte mit Wut gerechnet, mit Tränen und Vorwürfen. Nadia war viel zu ruhig, als sie die Tür öffnete.
„Essen ist im Kühlschrank“, sagte sie. „Ich warte so lange, wenn du willst.“
„Es tut mir leid“, sagte er. „Ich weiß, das wird völlig bescheuert klingen, aber ich hatte so eine Art Blackout. Ich meine, ich hab es nicht vergessen, ich war für zwei Stunden … irgendwie ausgeknockt.“
„Deinen Nachtisch habe ich gegessen“, sagte sie.
„Ist okay“, sagte Bernhard, „Ich habe keinen Hunger. Reden wir einfach, ja?“
Das Schwindelgefühl war noch da. Er musste sich setzen. Er hätte Nadia gern in den Arm genommen oder wenigstens ihre Hand gehalten, aber sie setzte sich gegenüber, kerzengerade auf die äußerste Kante des Sessels, als wären sie in einem Geschäftstermin. Nur das Kissen auf ihrem Schoß, das sie mit beiden Händen zusammenquetschte, passte nicht dazu.
„Ich dachte immer, ich will mit dir alt werden und mindestens zwei Kinder haben“, sagte sie.
Das fängt überhaupt nicht gut an, dachte er. „Nadia…“
„Warte, bis ich fertig bin. Ich möchte das immer noch. Aber ich will keine Kinder, die ihren Vater nur am Wochenende sehen. Und ich will keinen Mann, der mit vierzig einen Herzinfarkt kriegt.“
„Das ist doch …übertreib doch nicht.“
Sie umklammerte das Kissen, als wollte sie es erwürgen. Aber ihre Stimme blieb ruhig. „Übertreib ich? Schau mal in den Spiegel. Du siehst schrecklich aus. Du sagst, du hattest einen Blackout. Glaubst du denn, du kannst ewig so weiter machen?“
„Es wird nicht wieder vorkommen“, sagte er.
„Das hast du schon oft gesagt“, sagte sie.
Es war, als würde er fallen. Als könnte sein ganzes Leben von dem schwarzen Loch aufgesaugt werden, in dem seine Erinnerung verschwunden war. Das Denken fiel ihm schwer, als wäre sein Kopf mit Watte ausgestopft. Nur eine Sache war glasklar: Nadia durfte nicht in diesem Loch verschwinden.
„Was willst du?“, fragte er. „Was soll ich machen?“
„Ich will, dass du zum Arzt gehst. Morgen früh. Und außerdem will ich, dass du dir einen anderen Job suchst.“
Das war natürlich völlig überzogen, und normalerweise hätte er sich dagegen gewehrt. Aber er glaubte nicht, dass er in diesem Zustand einem Streit mit ihr gewachsen war. Im Moment war ein taktischer Rückzug das Beste.
„Okay“, sagte er, „Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Nadias Gesicht entspannte sich. „Gut“, sagte sie. „Trotzdem schläfst du heute auf dem Sofa.“ Sie warf das Kissen in seine Richtung und ging hinaus.
* * *
Am Morgen fühlte er sich besser. Beinahe, als hätte er den ganzen letzten Tag nur geträumt. Vielleicht konnte er jetzt Verhandlungen mit Nadia aufnehmen?
„Hör mal, ich könnte doch heute nach der Arbeit zum Arzt gehen. Im Büro ist wirklich viel …“
„Ich habe schon angerufen und gesagt, du kommst heute nicht“, sagte sie. „Dein Termin bei Doktor Reimer ist um neun, und du sollst nüchtern sein.“ Sie lächelte triumphierend.
Die Ärztin hörte seine Geschichte mit einem Stirnrunzeln.
„Ist so etwas bei Ihnen schon früher vorgekommen? Schwindelgefühle oder Ohnmachtsanfälle? Gedächtnisstörungen?“
„Nein, so was ist mir noch nie passiert. Ich fühle mich auch schon viel besser. Es war bestimmt nur eine Stressreaktion oder so. Ich denke, ich kann wieder zur Arbeit.“
„Auf keinen Fall. Wir müssen erst die Ursache abklären. Mit so etwas ist nicht zu spaßen, Herr Naumann.“
Ihr Gesichtsausdruck kam ihm bekannt vor. Sie würde wohl nicht mit sich reden lassen.
Die Sprechstundenhilfe nahm ihm Blut ab, und Dr. Reimer zog das ganze Programm durch – Abhören, Lymphknoten abtasten, Blutdruck messen. Sie sagte nicht viel, aber irgendetwas schien ihr zu missfallen. Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich.
„Irgendwas, das ich wissen sollte?“, fragte er.
„Im Großen und Ganzen sind Sie gesund“, sagte sie. „Aber ich habe eine Vermutung. Wir warten das Blutbild ab, aber … ich würde drauf wetten, dass wir bei Ihnen auch Anämie feststellen. Wie bei den anderen.“
„Den anderen?“
„Sie sind nicht der erste Patient mit solchen Symptomen. Ohnmachtsanfälle, Gedächtnislücken von ein paar Stunden. Später dann Alpträume, Panikattacken und … Halluzinationen. Schlechte Blutwerte, wie nach einem Unfall.“
„Und haben Sie eine Erklärung?“, fragte er.
„Ich konnte nicht alle nötigen Untersuchungen machen. Keiner dieser Patienten ist zu den Folgeterminen erschienen“, sagte sie.
„Dann haben sie sich also schnell wieder erholt?“
„Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Sie sind einfach nicht mehr gekommen. In einem Fall weiß ich von der Familie, dass der Patient verschwunden ist. Sie haben ihn als vermisst gemeldet und nie wieder etwas gehört.“
Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann überlegte sie es sich anders und drehte sich zu ihrem Computer um. „Ich schreibe Sie erst einmal für den Rest der Woche krank. Viel Ruhe, viel Flüssigkeit, keine Aufregung. Morgen früh haben wir die Ergebnisse für ihr Blutbild, dann sehen wir weiter.“
Zuhause wusste er nichts mit sich anzufangen. Es war nicht so, dass er sich ins Büro zurücksehnte, aber so untätig herumzusitzen, gefiel ihm auch nicht. Er hatte keine Lust, über das Gespräch mit der Ärztin nachzudenken. Immerhin hatte sie gesagt, er sei im Großen und Ganzen gesund. Es gab also keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Nur das Drumherum war merkwürdig gewesen ... Das war einfach unprofessionell, dachte er. Wir sollten uns einen anderen Hausarzt suchen.
Wenigstens kam Nadia mit guter Laune nach Hause. „Du bist immer noch blass um die Nase“, stellte sie fest. „Haben sie dir zuviel Blut abgezapft?“
„Ha, sie hat mir Schauergeschichten erzählt. Andere Leute hatten das gleiche wie ich und sind dann verschwunden.“
„Was heißt das gleiche? Was meint sie denn, was es ist?“
„Sie weiß es nicht. Aber sie hatte schon andere Leute da mit Blackouts und Schwächeanfällen. Und irgendwelche Probleme mit den Blutwerten, aber die kriege ich erst morgen. Sie war echt komisch drauf.“
Nadjas Gesicht war ernst geworden. „Hatten sie Anämie?“, fragte sie. „Diese anderen Leute?“
„Ja. Aber das ist doch nicht weiter wild. Kann bei Stress vorkommen. Vielleicht verschreibt sie mir Eisentabletten.“
Sie wirkte nicht beruhigt. „Komm mal bitte hier ans Fenster“, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. „Bei Licht sehe ich auch nicht besser aus.“ Nadia schob seinen Hemdkragen nach unten, starrte einen Moment auf seinen Hals, und riss die Augen auf wie ein erschrockenes Kind.
„Oh mein Gott. Ich bin so dumm gewesen.“
„Was ist denn los?“
„Das muss schon die ganze Zeit so gehen … der Dresscode kommt ihnen natürlich entgegen. Anzüge und Blazer, immer mit Kragen. Man sieht es nicht, wenn man nicht danach sucht.“
„Kannst du mir bitte mal sagen, wovon du redest?“
Sie starrte ihn an, und fing plötzlich an zu lachen.
„Nein. Kann ich nicht, du wirst mir nicht glauben.“
Langsam wurde es ihm zu blöd. Was war plötzlich los mit der Welt? Erst spielte sein eigener Körper verrückt, und jetzt die Menschen in seiner Umgebung.
„Wenn das irgendeine Art Strafe sein soll, weil ich gestern …“
„Nein! Nein, hör zu.“ Nadia wedelte beschwichtigend mit den Händen. „Ich werd’ dir alles erklären. Aber ich muss erst zu meiner Familie fahren … ich will dir etwas zeigen, damit du mir glaubst.“
Sie fing an, in verschiedenen Schubladen zu kramen, redete aber ohne Atempause weiter. „Ich weiß jetzt, was dir passiert ist. Es war nicht deine Schuld, und wir werden dich beschützen. Aber du darfst auf keinen Fall wieder zur Arbeit gehen. Versprich mir das.“
„Die Reimer hat mich für den Rest der Woche krank geschrieben. Obwohl es mir eigentlich gut geht, abgesehen davon, dass ich mich fühle wie bei der versteckten Kamera.“
Nadja sah auf, anscheinend war sie in einem Schuhkarton aus einer der Schubladen fündig geworden.
„Ich weiß, das muss dir grade total verrückt vorkommen. Aber vertrau mir einfach. Du darfst da nicht hin. Sie werden vielleicht anrufen, oder vielleicht wird jemand herkommen wollen. Lass sie auf keinen Fall rein.“
Sie kam wieder zu ihm, in der Hand eine dünne silberne Kette mit einem ovalen Anhänger. „Mach das um“, sagte sie.
Bernhard schüttelte den Kopf. „Ich will erst mal wissen, was hier gespielt wird.“
Sie biss sich auf die Lippen. „Es ist sehr alt, ein Familienerbstück. Nenn es Aberglauben, wenn du willst. Aber was dir passiert ist, ist sehr gefährlich, und ich würde mich viel besser fühlen, wenn du es trägst. Mir zuliebe.“
Hätte sie versucht, ihn zu drängen, hätte er sich geweigert, aber ihrem bittenden Blick konnte er nicht widerstehen. Wenigstens war das Ding klein und flach, er konnte es ohne Probleme verstecken, so dass niemand Fragen stellen würde. „Na schön. Und jetzt?“
„Ich fahr zu meinen Eltern. Warte nicht auf mich. Es wird … eine längere Aussprache, glaube ich. Ich komme morgen zurück, und dann erklären wir dir alles.“
* * *
Er betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Zugegeben, er sah ziemlich mitgenommen aus. Wahrscheinlich war eine kleine Auszeit wirklich besser. Er würde erst mal duschen, ausschlafen, und morgen seiner Freundin den Marsch blasen für ihr völlig bescheuertes Verhalten.
Er öffnete sein Hemd und besah sich die Stelle, die die ganze Episode ausgelöst hatte. Dort waren zwei rote Punkte, übereinander, mit etwa zwei Fingerbreit Abstand dazwischen. Sie sahen aus wie leicht entzündete Mückenstiche. Aber sie erinnerten noch an etwas anderes.
Bernhard bekam einen Lachanfall. Das war aber nicht wahr, oder?
Nadias Eltern stammten aus Siebenbürgen in Rumänien. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er jede Menge Transsilvanien-Witze gemacht, und Nadia hatte viel mehr darüber gelacht als er. Er hätte nie gedacht, dass sie noch solchen Vorstellungen anhing.
Er betrachtete das silberne Schmuckstück, das sie ihm aufgedrängt hatte. Das kleine Oval war ziemlich abgewetzt, aber man konnte noch ein paar Symbole und ein winziges Gesicht erkennen. Kein Kreuz, aber vielleicht eine Art Heiligenbildchen. Solche Dinge trug man zum Schutz vor bösen Mächten.
Wusste ich es doch, dachte er grinsend. Die Firma wird von Blutsaugern geleitet! Damit würde er Nadia bis in alle Ewigkeit aufziehen.
Er lachte noch darüber, als er ins Bett ging. Trotzdem hatte er in der Nacht einen Alptraum, und als ihn das Telefon aus dem Schlaf riss, verfolgte ihn noch eine Erinnerung an weiße Gesichter, die ihn aus der Dunkelheit anstarrten. Er nahm mit einem unguten Gefühl den Hörer ab.
„Guten Morgen, Herr Naumann“, sagte eine fröhliche Frauenstimme. „Hier ist Dr. Reimers Praxis. Wir haben die Ergebnisse von ihrem Blutbild, und ich wollte sie Ihnen gleich durchgeben. Wir müssen auf jeden Fall etwas wegen Ihres Eisenwerts tun. Wenn Sie heute Nachmittag reinkommen, können Sie sich ein Rezept abholen. Ihr Vitamin D ist auch niedrig, Sie sollten öfter in die Sonne gehen.“
Er murmelte ein paar zustimmende Sätze, so freundlich, wie es vor der ersten Tasse Kaffee möglich war, und legte auf.
Während er noch darüber nachdachte, wieder ins Bett zu gehen, klingelte das Telefon erneut. Hatten sie noch irgendein Testergebnis vergessen?
„Naumann.“
„Guten Morgen, Winkler hier.“
Bernhard zuckte zusammen. Es war, als ob er neben ihm stünde. Und vom ersten Wort an fühlte er sich schuldig, weil er nicht im Büro war.
„Ich weiß, Sie sind krankgeschrieben, aber wenn es sich irgendwie machen lässt, wären wir Ihnen alle sehr dankbar, wenn Sie heute kurz vorbeischauen können. Wie geht es Ihnen denn?“
„Eigentlich schon wieder ganz gut“, sagte Bernhard und kam sich wie ein Verräter vor. Ich hab es Nadia versprochen, dachte er. Unwillkürlich griff er nach dem kleinen Anhänger, aber der war nicht da. Er musste ihn gestern Abend im Bad gelassen haben.
„Meine Hausärztin will, dass ich den Rest der Woche Zuhause bleibe, aber ich denke, ich kann schon vorbeikommen, wenn es etwas Wichtiges gibt.“
„Das weiß ich wirklich zu schätzen. Sehen Sie, die oberste Etage plant etwas, und da sind wir dringend auf Ihre Mitwirkung angewiesen.“
„Ich könnte in einer Stunde da sein“, sagte Bernhard.
„Es reicht völlig, wenn Sie am Nachmittag kommen“, sagte Winkler. „Sie sollen sich ja nicht zu sehr belasten, nach diesem … Zwischenfall.“
„Ich erledige das lieber jetzt“, sagte Bernhard. Je früher er es hinter sich brachte, desto besser standen die Chancen, dass Nadia nichts davon mitbekam. Er würde sich anhören, was Winkler wollte, auf dem Rückweg sein Rezept abholen, und falls sie schon zurück war, wenn er kam, konnte er so tun, als sei das der einzige Grund, dass er aus dem Haus gegangen war.
Irgendwo im Hinterkopf meldeten sich ein paar Bedenken. Was sollte denn bitteschön so furchtbar wichtig sein, dass er unbedingt heute antanzen musste? Sollte er sich nicht dagegen wehren? War das nicht genau die Art von Selbstausbeutung, die ihm das Ganze erst eingebrockt hatte?
Er schob die Gedanken beiseite. Aus irgendeinem Grund fühlte es sich wichtig an, Winklers Bitte Folge zu leisten, und zwar jetzt gleich. Es war schon richtig, dass sie den Mann zum Abteilungsleiter gemacht hatten. Er konnte unheimlich überzeugend sein.
Trotzdem wäre er fast umgekehrt, nachdem er das Firmengebäude betreten hatte. Der Wechsel vom Sonnenlicht zu der grässlichen Neonbeleuchtung kam ihm heute besonders unangenehm vor. Was machte er hier? Wenn er wieder einen Schwächeanfall hätte, diesmal vor all den Kollegen, könnte er sich doch nie wieder hier blicken lassen. Aber als er sich umdrehte, um zu gehen, standen zwei Schränke in dunklen Anzügen hinter ihm.
„Security“, sagte der linke. „Kommen Sie bitte mal mit.“
Seine Zustimmung warteten sie nicht ab. Plötzlich waren sie zu dritt im Fahrstuhl und fuhren abwärts. Ihm war noch nie aufgefallen, dass es so viele Etagen mit einem Minus davor gab.
„Ich sollte eigentlich zu Herrn Winkler“, sagte Bernhard, aber er hätte genauso gut mit der Wand reden können.
Der Fahrstuhl stoppte auf einer besonders schlecht beleuchteten Ebene, auf der es unangenehm roch. Ein enger Korridor aus unverputzten Ziegeln, der an ein Kellergewölbe erinnerte. Es sah aus, als hätte man den ganzen Bürokomplex über einem viel älteren Gebäude errichtet. Nur die Türen schienen jüngeren Datums zu sein, sie waren aus schwarz gestrichenem Metall und wirkten schwer und undurchdringlich.
„Hören Sie“, sagte Bernhard. „Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Ich muss in den fünften Stock, und ich …“
Einer der Männer öffnete die am nächsten gelegene Tür. Der Raum dahinter war bis auf einen Stuhl leer.
„Mach das Ganze nicht schwerer als nötig“, sagte der andere Mann. „Wir können dir ein paar Zähne ausschlagen, wenn du’s drauf ankommen lässt, aber wer weiß, vielleicht brauchst du die noch.“
Bernhard hatte keine Ahnung, was sie von ihm wollten. Aber er konnte sehen, dass es in dem Raum vor ihnen keine Fenster gab. Und der Boden war voller rostbrauner Flecke.
Er verschwendete keine Zeit damit, über seine Chancen nachzudenken. Der Fahrstuhl war schon wieder auf dem Weg nach oben, ihm blieb nur, blindlings zu rennen und zu hoffen, dass er eine Treppe fand.
Besonders weit kam er nicht, aber wenigstens verzichteten sie darauf, ihm die Zähne auszuschlagen.
Ein paar Minuten später war er mit Handschellen an den Stuhl gefesselt, und die schwere Metalltür war von außen verschlossen. Es war dunkel, kalt und roch nach Schimmel und Blut. Außerdem hatte er jetzt eine ziemlich klare Vorstellung davon, was mit all den verschwundenen Leuten passiert war.
* * *
Winkler tauchte erst auf, nachdem Bernhard es längst aufgegeben hatte, um Hilfe zu schreien oder mit der Kette der Handschellen am Stuhl zu sägen. Panik konnte man nicht unbegrenzt lange durchhalten, nach einer Weile war sie Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit gewichen.
Immerhin war Winkler so freundlich, das Licht einzuschalten – hier war es nur eine einzelne funzelige Glühbirne, anstelle der kalten Neonbeleuchtung, die überall sonst in der Firma das Tageslicht ersetzte.
„Tut mir leid, dass Sie warten mussten“, sagte Winkler. „Furchtbar, diese endlosen Meetings.“ Er gähnte.
Bernhard konnte nicht anders, als auf die Eckzähne zu starren. Wie hatte er das nicht bemerken können? Vielleicht lag es einfach daran, dass Winkler es nicht mehr für nötig hielt, die Tarnung aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite schien Blutsaugen nicht Punkt eins auf der Tagesordnung zu sein. Winkler hatte mit ihm geredet, was bedeutete, dass man ihn hinhalten konnte.
Also versuchte es Bernhard mit Smalltalk. „Kurz nachdem Sie befördert wurden“, sagte er, „haben Sie mich mal furchtbar erschreckt, als Sie in der Toilette hinter mir aufgetaucht sind. Ich hab’ Sie nicht im Spiegel gesehen.“
Winkler nickte ein wenig verlegen. „Ja. Erstaunlich viele dieser Sachen sind wahr. Zu der Zeit musste ich noch lernen, damit umzugehen.“
„Anscheinend müssen Sie das immer noch. Oder brauchen Sie immer zwei Anläufe?“
Winkler schien ehrlich verwirrt. „Zwei Anläufe wofür?“, fragte er.
„Um … auszutrinken, schätze ich.“
„Das war nie meine Absicht“, sagte Winkler. „Die Firma ist schließlich groß genug. Wir nehmen immer nur so viel von jedem einzelnen, dass es nicht allzu sehr auffällt. Bei Ihnen habe ich es vorgestern übertrieben, fürchte ich. War ein harter Tag. Aber es ist nie gut, wenn Ärzte ins Spiel kommen.“
„Und deshalb bringen Sie es jetzt lieber zu Ende?“
Winkler schüttelte den Kopf. „Oh nein. Da würde ich mir ziemlichen Ärger einhandeln. Ich meine, die Vizepräsidentin kommt Ihretwegen.“
„Was? Wieso?“
„Es hat irgendwie mit Ihrer Freundin zu tun. Hat ziemliche Unruhe ausgelöst, als sie hörten, wer sie ist. Ich bin nicht sicher, warum. Aber da Sie noch am Leben sind, schätze ich, die wollen Sie befördern.“
Als die Panik zurückkehrte, reagierte Winkler erstaunlich mitfühlend. „Beruhigen Sie sich“, sagte er. „Das bringt nichts, glauben Sie mir. Ich habe auch mal auf diesem Stuhl gesessen.“
* * *
Bernhard hatte die Vizepräsidentin der Firma bisher nur auf Fotos gesehen, aber er erkannte sie sofort. Sie trug ein enges schwarzes Kleid, hochhackige Stiefel, und trotz der schlechten Beleuchtung eine Sonnenbrille.
„Das ist er?“, fragte sie, „Und Sie sind sicher?“
„Nadia Vanator hat persönlich angerufen, um zu melden, dass er krank ist“, sagte Winkler. Er wirkte eingeschüchtert.
Sie schob die Sonnenbrille ein wenig nach unten, um Bernhard direkt anzusehen. „Sie ist Ihre Freundin, ja?“
„Lassen Sie Nadia da raus!“
Die Vizepräsidentin gab ein trockenes Geräusch von sich, das entfernt mit einem Lachen verwandt war. „Das ist süß, wirklich. Wenn man diese Familie doch nur dazu bringen könnte, sich rauszuhalten.“
„Was hat Nadias Familie damit zu tun? Sie sind Bestattungsunternehmer!“
Diesmal war das Lachen unverkennbar. „Sie wirklich haben keine Ahnung, hm? Wissen Sie denn nicht, was der Name bedeutet?“
Aber das wusste er, Nadia hatte es ihm bei einer ihrer ersten Verabredungen erzählt. Es ist wie bei Leuten, die Müller oder Schuster heißen, hatte sie gesagt. Der Beruf meiner Vorfahren. Aber ihr habt umgesattelt, hatte er gesagt, um sie ein bisschen aufzuziehen. Und Nadia hatte gesagt: Zumindest einige von uns.
„Jäger…“, murmelte Bernhard, „Verstehe.“
Sie nickte. „Ihre Familie und die meines Vaters haben eine sehr lange Vorgeschichte. Deshalb ist diese Angelegenheit für ihn von großer Bedeutung.“
Ihr Handy klingelte, ein Geräusch, das sich in diesem Raum vollkommen absurd anhörte. Sie seufzte, als sie das Display sah. „Wenn man vom Teufel spricht. Moment bitte.“
Es folgte eine leise Diskussion in einer fremden Sprache. Die Vizepräsidentin schien unzufrieden – sie hob nie die Stimme, aber gestikulierte heftig, als ob ihr Gesprächspartner sie sehen könnte. Beim Auflegen rollte sie genervt mit den Augen.
„Tja“, sagte sie. „Die gute Nachricht ist, er will, dass Sie befördert werden. Er glaubt, das wird seine Feinde mehr verärgern, als wenn wir Sie töten.“
Bernhard hätte gern auf die schlechte Nachricht verzichtet, aber niemand hier scherte sich darum, was er wollte.
„Er besteht allerdings darauf, es selbst zu tun“, sagte sie. „Das heißt, ich hätte mir den Weg hierher sparen können. Und Sie müssen noch eine Weile hier bleiben.“
Winkler hielt ihr die Tür auf. Bevor sie zufiel, konnte Bernhard noch hören, wie die Vizepräsidentin sagte, es sei wirklich schrecklich, dass ihr Vater überhaupt nicht delegieren könne. Dann war er wieder allein.
* * *
Er fragte sich, ob es stimmte, dass man sein ganzes Leben vor sich sah, bevor man starb. In dem Fall würde er noch einmal sehen, wie viel Zeit er in der Firma verbracht hatte anstatt mit Menschen, die er liebte. Alles in der Hoffnung, irgendwann befördert zu werden.
Waren das Schritte da draußen? Das wäre untypisch, Winkler und die Vizepräsidentin hatten sich so lautlos bewegt wie Katzen. Er wollte es schon seiner Einbildung zuschreiben, aber dann hörte er Stimmen, und dumpfe Geräusche, als ob jemand gegen die Metalltüren schlug. Bernhard schloss die Augen, aber als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, machte er sie wieder auf. Man bekam schließlich nicht jeden Tag den CEO zu Gesicht.
Die Tür schwang auf, und ein großer, dunkel gekleideter Mann trat ein. Er roch nach Gruft. Außerdem war er von oben bis unten mit grauem Staub bedeckt.
„Fuck!“, sagte er. „Das war vielleicht ein Scheiß-Himmelfahrtskommando. Das nächste Mal, wenn dir jemand ein Schutzamulett gibt, benutz es! Nadia hat echt eine Schwäche für Idioten.“
Bernhard war noch nie so froh gewesen, Nicolae Vanator zu sehen.
Aus irgendeinem Grund war das erste, was er herausbrachte: „Es stimmt also, dass sie zu Staub zerfallen.“
Nicolae wischte sich ein wenig davon aus dem Gesicht. „Ja, das meiste von diesem Zeug ist wahr. Du hast nicht zufällig schon irgendjemandes Blut getrunken?“
Bernhard schüttelte den Kopf.
„Gut. Mir ist nämlich das Weihwasser ausgegangen.“
Er hörte eilige Schritte auf dem Flur, und dann kam Nadia herein und bedachte ihn mit einer Umarmung, bei der er ziemlich viel Staub verschluckte.
„Es tut mir so leid“, sagte sie. „Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen. Und ich hätte viel früher merken müssen, was los ist. Ich war einfach … ich habe versucht, das alles hinter mir lassen. Jede Nacht unterwegs, immerzu Friedhöfe und Ruinen. Ich wollte bloß ein normales Leben führen.“
Nicolae klatschte in die Hände. „Weniger Kaffeekränzchen, mehr weg von hier“, sagte er. „Hast du ’ne Haarnadel oder so was?“
„Ich hab den Schlüssel für die Handschellen“, sagte Nadia.
Draußen war es dunkel, aber Nicolae meinte, es würde niemand mehr kommen. „Die haben für heute genug“, sagte er. „Die stärken sich jetzt erst mal mit ein paar Sekretärinnen und Juniormanagern, bevor sie versuchen zurückzuschlagen.“
Er fuhr Bernhard und Nadia nach Hause, und als er sich verabschiedete, war das erste Rosa am Horizont zu sehen. Sie setzten sich auf eine Parkbank und schauten zu, wie die Sonne nach oben wanderte, bis das Licht zu hell wurde, um direkt hinzusehen.
Nadia brach das Schweigen. „Ich muss dir etwas sagen. Ich habe beschlossen, wieder ins Familiengeschäft einzusteigen.“
„Ja“, sagte er. „Ich schätze, es gibt viel zu tun.“