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Fast wie im richtigem Leben
"Es ist anders als du denkst, ich kann dir alles erklären", sagte David und zeigte seine Handflächen als Zeichen, dass er unbewaffnet ist.
"Da gibt es nichts zu erklären", sagte Phil mit unnachgiebiger Stimme. Er hob den Revolver, zielte und schoss. Die Kugel verfehlte nur knapp Davids Kopf und schlug neben ihm ins Holz. Er duckte sich und kroch hinter einen Tisch.
Irgendwie hört sich der Schuss anders an als sonst, dachte David bei sich.
Phil ging um den Tisch herum und als er ihn sah, schoss er sofort. Wieder schlug eine Kugel neben David ins Holz. Er drehte sich um und sah die herausgerissenen Holzsplitter.
An dieser Stelle ist definitiv keine Einschlagatrappe angebracht! Was ist los? Schießt Phil etwa mit scharfer Munition?
David warf einen Blick zur Requisite. Dort am Haken hing der Patronengürtel des Pyrotechnikers. Er war exzentrisch und hatte einen Patronengürtel um während er arbeitete – mit echten Kugeln, wie er immer behauptete. Heute war er krank und im Gürtel fehlten Patronen. Im Geiste hallte die Stimme eines Helfers nach: "Wo sind denn die Platzpatronen? Ich kann die verdammten Dinger nicht finden." Der Schreck der Erkenntnis durchfuhr seinen Körper wie ein Stromschlag.
"Halt! Stopp!" rief David, stand auf und mit einer Stimme, die nach ungeteilter Aufmerksamkeit verlangte, sagte er: "Stopp! Die Kugeln sind ..." – Peng –, ein weiterer Schuss krachte. David duckte sich, als hätte man den Boden unter ihm weggezogen.
"Hör auf", schrie David, sprang auf und rannte in die Deckung hinter einen Schrank. "Die Kugeln sind echt!" Sein Herz schlug schneller.
"Natürlich sind die echt", Phil lachte abfällig. Er ging langsam um den Schrank herum, den Revolver im Anschlag, "denkst du etwa, wir drehen einen Film." Er improvisierte und er tat es gern.
Phil war erneut in Schussposition.
"Nein!" rief David und hielt den Arm schützend vor sich.
Phil schoss. Blut spritzte – Davids Oberarm war getroffen. Niemand bemerkte, wie sein Blut sich mit dem Filmblut aus der Farbpatrone vermischte. Er stand versteinert da. Er befand sich im Schockzustand, spürte keinen Schmerz und sah ungläubig auf seinen Arm, betrachtete ihn wie einen Fremdkörper.
Wie soll ich die anderen nur vom Ernst der Lage überzeugen? dachte David bei sich und blickte zum Regisseur. Aber der hatte sich freudig erregt in seinem Stuhl aufgerichtet und dachte nicht daran, die Aufnahme abzubrechen. Steve war ein Befürworter von "die ganze Szene in einem Stück drehen", und David spielte gut.
Sie waren Freunde und kannten sich schon lange. David hatte mit Steve oft zusammen gearbeitet. Sie hatten Erfolge und Misserfolge. Vor der Kamera fühlte sich David zu Hause. Er hatte viele Rollen gespielt und war ein Routinier geworden. Aber Steve meinte, "er spielt seine Charaktere nur noch mechanisch, ohne Leben", und er "würde ihn über kurz oder lang als Hauptdarsteller ablehnen müssen – das Geschäft sei hart".
Angezogen von dem ungeplanten Verlauf der Handlung, hatten sich auch die übrigen Mitglieder des Filmteams am Rande der Kulisse aufgestellt und beobachteten das Geschehen - wie Schaulustige einen Unfall. Die Kameras hielten jede Bewegung, jede Geste gierig auf Zelluloid fest.
"Los! Lauf", brüllte jemand an der Tür. Erschrocken blickte er in die Richtung aus der die Stimme kam und lief blind gehorchend los. Ein weiterer Schuss krachte, schlug in das Furnier der Tür. David drehte sich um, lehnte mit dem Rücken gegen den Türrahmen. Er hielt seinen verletzten Arm und blickte Phil in die Augen. Seine Gedanken rasten.
Was soll ich nur tun? dachte er verzweifelt.
Laut Drehbuch sollte er weglaufen und Phil würde versuchen in den Rücken zu schießen und verfehlen. Er könnte entkommen, denn im Film sollte er nicht sterben.
Echte Kugeln gehorchen nicht dem Drehbuch
Seine Beine drohten nachzugeben. Er sackte langsam zusammen, unfähig für einen weiteren Fluchtversuch. Sein Leben lief wie im Zeitraffer vor seinem geistigen Auge ab. Wie aus einem fahrenden Zug, rasten Bilder hektisch vorbei. Sein Verstand wollte nicht wahrhaben was geschah, wollte nicht damit abfinden zu sterben. Nur eine Kugel befand sich noch im Magazin.
Eine einzige verdammte Kugel
David war machtlos. Alles was er auch tat, alles was er sagte – Phil würde es als improvisieren auffassen. Phil liebte seinen Beruf und eine gelungene Szene ist das Brot eines Schauspielers. Er genoss, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Sein ganzes Streben war jetzt, die Aufnahme nicht zu verderben. Er hob den Revolver und trat einige Schritte auf David zu. Langsam legte sich sein Zeigefinger um den Abzug. Eine Kamera hielt in Großaufnahme auf den Revolver. Phil blickte kalt und emotionslos – er spielte seine Rolle hervorragend.
David schloss die Augen, neigte seinen Kopf wie ein Hinrichtungsopfer. Nur wenige Sekunden vergingen – sie kamen ihm vor, wie eine Ewigkeit. Dann ließ Phil den Revolver sinken, nahm die letzte Kugel aus dem Magazin und warf sie ihm entgegen.
"Du bist es nicht wert", sagte er verächtlich und ging ab. David sackte zusammen, griff nach der Patrone, hielt sie triumphierend fest, als wäre es sein Leben. Alle Spannung löste sich. Er weinte vor Freude, vielleicht auch vor Erleichterung – er wusste es nicht. Nur das leise surren der Kameras war noch zu hören.
"Cut!" Endlich die erlösenden Worte des Regisseurs. Wie auf Befehl sprangen alle auf die Bühne und jubelten. Sie halfen David auf. Sie ahnten nicht, dass er es aus eigener Kraft nicht geschafft hätte. Bei all dem Jubel merkte keiner, dass er die Patrone immer noch festhielt. So fest, dass die Haut seiner Fingerknochen weiß wurde.
Irgendwie schaffte er es in seinen Wohnwagen. Er legte sich in sein Bett, zitterte am ganzen Körper. Es wollte ihm einfach nicht warm werden. Nach Stunden schlief er dann doch vor Erschöpfung ein.
Es wurde sein letzter und bester Film. Die Kritiker überschlugen sich vor Lob: "Echt, authentisch, fast wie im richtigem Leben", waren die Schlagworte. David ging weg vom Film. "Das Leben am Set ist mir zu stressig. Und außerdem, möchte ich mich mehr um meine Familie kümmern", gab er als Begründung an.
Nur wenige erfuhren, was damals wirklich geschehen war.